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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 9. Die Karlsbader Beschlüsse.
verschärfte sich bis zur unversöhnlichen Feindschaft; wer den Glauben an
die politische Freiheit nicht aufgab, sah sich fortan genöthigt den deutschen
Bundestag zu bekämpfen, und so ward die liberale Partei, die doch fast
allein den Gedanken der nationalen Einheit mit Begeisterung ergriffen hatte,
wider Wissen und Willen dem Partikularismus in die Arme getrieben.
Auf dem Wiener Congresse hatten alle Parteien gefühlt, daß man der
Nation einige "Rechte der Deutschheit", ein von Bundeswegen gewähr-
leistetes bescheidenes Maß politischer Freiheit zugestehen müsse, und nur
weil sich der Dünkel der rheinbündischen Souveränität über dies Minimum
nicht zu einigen vermochte, war die Bundesakte bei einigen allgemein
gehaltenen Versprechungen stehen geblieben. Jetzt ward mit einem male
Alles auf den Kopf gestellt. Nicht ein geringstes, sondern ein höchstes Maß
politischer Rechte festzusetzen sollte dem Bunde obliegen; er sollte der Nation
nicht mehr der Bürge ihrer Freiheit sein, sondern ihr vorschreiben, welche
Grenze die Rechte der Landtage, der Presse, der Universitäten niemals
überschreiten dürften. Und mit welcher unerhörten Frivolität dachte man
kurzerhand "die heute berüchtigten Redacteurs, die notorisch schlecht-
gesinnten Lehrer" ihrer gesetzlichen Rechte zu berauben, als ob die Ge-
waltstreiche des Wohlfahrtsausschusses wider die Verdächtigen auf dem
friedlichen deutschen Boden sich erneuern sollten!

Und warum dies finstere Mißtrauen gegen ein treues, gesetzliebendes
Volk? Die Landtage von Baiern und Baden hatten im Eifer ihrer
jugendlichen Unerfahrenheit einige thörichte Anträge angenommen; und
doch lehrte soeben die zahme Haltung der württembergischen Stände, daß
die Regierungen nur die Zügel etwas straffer anzuziehen brauchten, um
den Uebermuth ihrer harmlosen Volksvertreter zu bändigen. Die Presse
sodann hatte durch zielloses Poltern und Schelten schwer gesündigt, und
es war nicht ganz unrichtig, was Gentz in seiner Denkschrift über den
Preß-Unfug behauptete: "daß es heute nicht eine einzige als Privatunter-
nehmung erscheinende Zeitschrift in Deutschland giebt, welche die Wohl-
gesinnten als ihr Organ betrachten könnten, ein Fall, der selbst in dem
Zeitpunkte der blutigsten Anarchie in Frankreich ohne Beispiel ist." Aber
die Presse war in Deutschland unzweifelhaft nicht die öffentliche Meinung,
die Masse der Nation nahm an der Entrüstung der Journalisten wenig
Antheil, und wer die Tadelsucht der Deutschen kannte, mußte furchtlos
voraussehen, daß die große Mehrheit ihrer Zeitungen zu allen Zeiten
der Opposition angehören würde. Die schwächlichen Urtheile so vieler
gebildeter Männer bewiesen freilich, daß ein Theil der höheren Stände
an der bestehenden Ordnung zu verzweifeln begann; doch eine Politik
blinder und roher Verfolgung war sicherlich das beste Mittel, um diese
Verzweiflung noch zu steigern. Die radikalen Tollheiten der akademischen
Jugend endlich verdienten unleugbar strenge Ahndung, aber sie beschränkten
sich auf drei oder vier Universitäten und auch da nur auf kleine Kreise,

II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
verſchärfte ſich bis zur unverſöhnlichen Feindſchaft; wer den Glauben an
die politiſche Freiheit nicht aufgab, ſah ſich fortan genöthigt den deutſchen
Bundestag zu bekämpfen, und ſo ward die liberale Partei, die doch faſt
allein den Gedanken der nationalen Einheit mit Begeiſterung ergriffen hatte,
wider Wiſſen und Willen dem Partikularismus in die Arme getrieben.
Auf dem Wiener Congreſſe hatten alle Parteien gefühlt, daß man der
Nation einige „Rechte der Deutſchheit“, ein von Bundeswegen gewähr-
leiſtetes beſcheidenes Maß politiſcher Freiheit zugeſtehen müſſe, und nur
weil ſich der Dünkel der rheinbündiſchen Souveränität über dies Minimum
nicht zu einigen vermochte, war die Bundesakte bei einigen allgemein
gehaltenen Verſprechungen ſtehen geblieben. Jetzt ward mit einem male
Alles auf den Kopf geſtellt. Nicht ein geringſtes, ſondern ein höchſtes Maß
politiſcher Rechte feſtzuſetzen ſollte dem Bunde obliegen; er ſollte der Nation
nicht mehr der Bürge ihrer Freiheit ſein, ſondern ihr vorſchreiben, welche
Grenze die Rechte der Landtage, der Preſſe, der Univerſitäten niemals
überſchreiten dürften. Und mit welcher unerhörten Frivolität dachte man
kurzerhand „die heute berüchtigten Redacteurs, die notoriſch ſchlecht-
geſinnten Lehrer“ ihrer geſetzlichen Rechte zu berauben, als ob die Ge-
waltſtreiche des Wohlfahrtsausſchuſſes wider die Verdächtigen auf dem
friedlichen deutſchen Boden ſich erneuern ſollten!

Und warum dies finſtere Mißtrauen gegen ein treues, geſetzliebendes
Volk? Die Landtage von Baiern und Baden hatten im Eifer ihrer
jugendlichen Unerfahrenheit einige thörichte Anträge angenommen; und
doch lehrte ſoeben die zahme Haltung der württembergiſchen Stände, daß
die Regierungen nur die Zügel etwas ſtraffer anzuziehen brauchten, um
den Uebermuth ihrer harmloſen Volksvertreter zu bändigen. Die Preſſe
ſodann hatte durch zielloſes Poltern und Schelten ſchwer geſündigt, und
es war nicht ganz unrichtig, was Gentz in ſeiner Denkſchrift über den
Preß-Unfug behauptete: „daß es heute nicht eine einzige als Privatunter-
nehmung erſcheinende Zeitſchrift in Deutſchland giebt, welche die Wohl-
geſinnten als ihr Organ betrachten könnten, ein Fall, der ſelbſt in dem
Zeitpunkte der blutigſten Anarchie in Frankreich ohne Beiſpiel iſt.“ Aber
die Preſſe war in Deutſchland unzweifelhaft nicht die öffentliche Meinung,
die Maſſe der Nation nahm an der Entrüſtung der Journaliſten wenig
Antheil, und wer die Tadelſucht der Deutſchen kannte, mußte furchtlos
vorausſehen, daß die große Mehrheit ihrer Zeitungen zu allen Zeiten
der Oppoſition angehören würde. Die ſchwächlichen Urtheile ſo vieler
gebildeter Männer bewieſen freilich, daß ein Theil der höheren Stände
an der beſtehenden Ordnung zu verzweifeln begann; doch eine Politik
blinder und roher Verfolgung war ſicherlich das beſte Mittel, um dieſe
Verzweiflung noch zu ſteigern. Die radikalen Tollheiten der akademiſchen
Jugend endlich verdienten unleugbar ſtrenge Ahndung, aber ſie beſchränkten
ſich auf drei oder vier Univerſitäten und auch da nur auf kleine Kreiſe,

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[554/0568] II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe. verſchärfte ſich bis zur unverſöhnlichen Feindſchaft; wer den Glauben an die politiſche Freiheit nicht aufgab, ſah ſich fortan genöthigt den deutſchen Bundestag zu bekämpfen, und ſo ward die liberale Partei, die doch faſt allein den Gedanken der nationalen Einheit mit Begeiſterung ergriffen hatte, wider Wiſſen und Willen dem Partikularismus in die Arme getrieben. Auf dem Wiener Congreſſe hatten alle Parteien gefühlt, daß man der Nation einige „Rechte der Deutſchheit“, ein von Bundeswegen gewähr- leiſtetes beſcheidenes Maß politiſcher Freiheit zugeſtehen müſſe, und nur weil ſich der Dünkel der rheinbündiſchen Souveränität über dies Minimum nicht zu einigen vermochte, war die Bundesakte bei einigen allgemein gehaltenen Verſprechungen ſtehen geblieben. Jetzt ward mit einem male Alles auf den Kopf geſtellt. Nicht ein geringſtes, ſondern ein höchſtes Maß politiſcher Rechte feſtzuſetzen ſollte dem Bunde obliegen; er ſollte der Nation nicht mehr der Bürge ihrer Freiheit ſein, ſondern ihr vorſchreiben, welche Grenze die Rechte der Landtage, der Preſſe, der Univerſitäten niemals überſchreiten dürften. Und mit welcher unerhörten Frivolität dachte man kurzerhand „die heute berüchtigten Redacteurs, die notoriſch ſchlecht- geſinnten Lehrer“ ihrer geſetzlichen Rechte zu berauben, als ob die Ge- waltſtreiche des Wohlfahrtsausſchuſſes wider die Verdächtigen auf dem friedlichen deutſchen Boden ſich erneuern ſollten! Und warum dies finſtere Mißtrauen gegen ein treues, geſetzliebendes Volk? Die Landtage von Baiern und Baden hatten im Eifer ihrer jugendlichen Unerfahrenheit einige thörichte Anträge angenommen; und doch lehrte ſoeben die zahme Haltung der württembergiſchen Stände, daß die Regierungen nur die Zügel etwas ſtraffer anzuziehen brauchten, um den Uebermuth ihrer harmloſen Volksvertreter zu bändigen. Die Preſſe ſodann hatte durch zielloſes Poltern und Schelten ſchwer geſündigt, und es war nicht ganz unrichtig, was Gentz in ſeiner Denkſchrift über den Preß-Unfug behauptete: „daß es heute nicht eine einzige als Privatunter- nehmung erſcheinende Zeitſchrift in Deutſchland giebt, welche die Wohl- geſinnten als ihr Organ betrachten könnten, ein Fall, der ſelbſt in dem Zeitpunkte der blutigſten Anarchie in Frankreich ohne Beiſpiel iſt.“ Aber die Preſſe war in Deutſchland unzweifelhaft nicht die öffentliche Meinung, die Maſſe der Nation nahm an der Entrüſtung der Journaliſten wenig Antheil, und wer die Tadelſucht der Deutſchen kannte, mußte furchtlos vorausſehen, daß die große Mehrheit ihrer Zeitungen zu allen Zeiten der Oppoſition angehören würde. Die ſchwächlichen Urtheile ſo vieler gebildeter Männer bewieſen freilich, daß ein Theil der höheren Stände an der beſtehenden Ordnung zu verzweifeln begann; doch eine Politik blinder und roher Verfolgung war ſicherlich das beſte Mittel, um dieſe Verzweiflung noch zu ſteigern. Die radikalen Tollheiten der akademiſchen Jugend endlich verdienten unleugbar ſtrenge Ahndung, aber ſie beſchränkten ſich auf drei oder vier Univerſitäten und auch da nur auf kleine Kreiſe,

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 554. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/568>, abgerufen am 22.11.2024.