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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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C. Brentano.
Patriarch der deutschen Poesie. Gütig, mit theilnehmendem Verständniß
nahm der gichtbrüchige Mann mit den hellen Dichteraugen die Jungen
auf, die zu ihm wallfahrteten, und wenngleich in seinen geistvollen Worten
mancher seltsame Einfall mit unterlief, so blieb sein Blick doch auf die
Höhen der Menschheit gerichtet; immer wieder verwies er die Jugend an
"die heil'gen Vier, die Meister der neuen Kunst," Dante, Cervantes,
Shakespeare und Goethe. Erst nach Jahren kehrte er wieder selbst zur
Dichtung zurück. Noch mehr als Tieck hatten sich die Brüder Schlegel
dem poetischen Schaffen entfremdet. Friedrich versank ganz in dem Ge-
triebe der ultramontanen Politik. August Wilhelm lebte in Bonn seinen
literarhistorischen und philologischen Studien, eine Zierde der neuen rhei-
nischen Hochschule; den Studenten blieb der kleine stutzerhafte alte Herr
doch immer ehrwürdig als der Vertreter einer reichen Epoche, auf deren
Schultern die neue Wissenschaft stand.

Nur jenen jüngeren Poeten, die sich einst in Heidelberg zusammen-
gefunden hatten, versiegte die dichterische Ader nicht. Tiefer als Clemens
Brentano war Niemand in die Irrgärten des romantischen Spiel- und
Traumlebens hineingerathen. Halb Schalk halb Schwärmer, heute über-
müthig bis zur Tollheit, morgen zerknirscht und bußfertig, sich selber und
der Welt ein Räthsel, trieb sich der Ruhelose bald in den katholischen
Städten des Südens umher, bald tauchte er in Berlin auf um den Ge-
brüdern Gerlach und den anderen christlich-germanischen Genossen der
Maikäfer-Gesellschaft seine Abhandlung über die Philister, die kecke Kriegs-
erklärung der Romantik wider die Welt der Wirklichkeit, vorzulesen. Den
Befreiungskrieg begrüßte er mit lautem Jubel, doch konnte er so wenig
wie Z. Werner sich in den norddeutsch-protestantischen Ton der Bewegung
recht finden; wie seltsam gezwungen und gemacht erschienen seine zumeist
zur Verherrlichung Oesterreichs gedichteten Kriegslieder: "durch Gott und
Dich ward wahr, o Franz: was Oestreich will das kann's!" Nachher
führte ihn sein mystischer Hang bis zum gemeinen Aberglauben herab;
er verbrachte mehrere Jahre am Krankenlager der stigmatisirten Nonne
von Dülmen und legte seine Betrachtungen über das Wunderweib in
verzückten Schriften nieder. Und doch drang das lautere Himmelslicht
der Poesie immer wieder durch die Nebel, welche diesen kranken Geist
umnachteten. Kaum hatte er in dem tollen Hexenspuk der "Gründung
Prags", einer verunglückten Nachahmung von Kleists Penthesilea, allen
seinen verschrobenen Launen die Zügel schießen lassen, so sammelte er
sich wieder, und ihm gelang wirklich was die Gelehrten der Romantik
immer nur gefordert hatten: einen volksthümlichen Stoff in volksthüm-
liche Form zu gießen. Er schuf sein Meisterstück, die Erzählung vom
braven Kasperl und vom schönen Annerl, das Vorbild der deutschen Dorf-
geschichten. Mit vollem Rechte rühmte späterhin Freiligrath ihm nach:
der wußt' es wohl wie nied're Herzen schlagen; denn so naiv und treu

C. Brentano.
Patriarch der deutſchen Poeſie. Gütig, mit theilnehmendem Verſtändniß
nahm der gichtbrüchige Mann mit den hellen Dichteraugen die Jungen
auf, die zu ihm wallfahrteten, und wenngleich in ſeinen geiſtvollen Worten
mancher ſeltſame Einfall mit unterlief, ſo blieb ſein Blick doch auf die
Höhen der Menſchheit gerichtet; immer wieder verwies er die Jugend an
„die heil’gen Vier, die Meiſter der neuen Kunſt,“ Dante, Cervantes,
Shakeſpeare und Goethe. Erſt nach Jahren kehrte er wieder ſelbſt zur
Dichtung zurück. Noch mehr als Tieck hatten ſich die Brüder Schlegel
dem poetiſchen Schaffen entfremdet. Friedrich verſank ganz in dem Ge-
triebe der ultramontanen Politik. Auguſt Wilhelm lebte in Bonn ſeinen
literarhiſtoriſchen und philologiſchen Studien, eine Zierde der neuen rhei-
niſchen Hochſchule; den Studenten blieb der kleine ſtutzerhafte alte Herr
doch immer ehrwürdig als der Vertreter einer reichen Epoche, auf deren
Schultern die neue Wiſſenſchaft ſtand.

Nur jenen jüngeren Poeten, die ſich einſt in Heidelberg zuſammen-
gefunden hatten, verſiegte die dichteriſche Ader nicht. Tiefer als Clemens
Brentano war Niemand in die Irrgärten des romantiſchen Spiel- und
Traumlebens hineingerathen. Halb Schalk halb Schwärmer, heute über-
müthig bis zur Tollheit, morgen zerknirſcht und bußfertig, ſich ſelber und
der Welt ein Räthſel, trieb ſich der Ruheloſe bald in den katholiſchen
Städten des Südens umher, bald tauchte er in Berlin auf um den Ge-
brüdern Gerlach und den anderen chriſtlich-germaniſchen Genoſſen der
Maikäfer-Geſellſchaft ſeine Abhandlung über die Philiſter, die kecke Kriegs-
erklärung der Romantik wider die Welt der Wirklichkeit, vorzuleſen. Den
Befreiungskrieg begrüßte er mit lautem Jubel, doch konnte er ſo wenig
wie Z. Werner ſich in den norddeutſch-proteſtantiſchen Ton der Bewegung
recht finden; wie ſeltſam gezwungen und gemacht erſchienen ſeine zumeiſt
zur Verherrlichung Oeſterreichs gedichteten Kriegslieder: „durch Gott und
Dich ward wahr, o Franz: was Oeſtreich will das kann’s!“ Nachher
führte ihn ſein myſtiſcher Hang bis zum gemeinen Aberglauben herab;
er verbrachte mehrere Jahre am Krankenlager der ſtigmatiſirten Nonne
von Dülmen und legte ſeine Betrachtungen über das Wunderweib in
verzückten Schriften nieder. Und doch drang das lautere Himmelslicht
der Poeſie immer wieder durch die Nebel, welche dieſen kranken Geiſt
umnachteten. Kaum hatte er in dem tollen Hexenſpuk der „Gründung
Prags“, einer verunglückten Nachahmung von Kleiſts Pentheſilea, allen
ſeinen verſchrobenen Launen die Zügel ſchießen laſſen, ſo ſammelte er
ſich wieder, und ihm gelang wirklich was die Gelehrten der Romantik
immer nur gefordert hatten: einen volksthümlichen Stoff in volksthüm-
liche Form zu gießen. Er ſchuf ſein Meiſterſtück, die Erzählung vom
braven Kasperl und vom ſchönen Annerl, das Vorbild der deutſchen Dorf-
geſchichten. Mit vollem Rechte rühmte ſpäterhin Freiligrath ihm nach:
der wußt’ es wohl wie nied’re Herzen ſchlagen; denn ſo naiv und treu

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[27/0041] C. Brentano. Patriarch der deutſchen Poeſie. Gütig, mit theilnehmendem Verſtändniß nahm der gichtbrüchige Mann mit den hellen Dichteraugen die Jungen auf, die zu ihm wallfahrteten, und wenngleich in ſeinen geiſtvollen Worten mancher ſeltſame Einfall mit unterlief, ſo blieb ſein Blick doch auf die Höhen der Menſchheit gerichtet; immer wieder verwies er die Jugend an „die heil’gen Vier, die Meiſter der neuen Kunſt,“ Dante, Cervantes, Shakeſpeare und Goethe. Erſt nach Jahren kehrte er wieder ſelbſt zur Dichtung zurück. Noch mehr als Tieck hatten ſich die Brüder Schlegel dem poetiſchen Schaffen entfremdet. Friedrich verſank ganz in dem Ge- triebe der ultramontanen Politik. Auguſt Wilhelm lebte in Bonn ſeinen literarhiſtoriſchen und philologiſchen Studien, eine Zierde der neuen rhei- niſchen Hochſchule; den Studenten blieb der kleine ſtutzerhafte alte Herr doch immer ehrwürdig als der Vertreter einer reichen Epoche, auf deren Schultern die neue Wiſſenſchaft ſtand. Nur jenen jüngeren Poeten, die ſich einſt in Heidelberg zuſammen- gefunden hatten, verſiegte die dichteriſche Ader nicht. Tiefer als Clemens Brentano war Niemand in die Irrgärten des romantiſchen Spiel- und Traumlebens hineingerathen. Halb Schalk halb Schwärmer, heute über- müthig bis zur Tollheit, morgen zerknirſcht und bußfertig, ſich ſelber und der Welt ein Räthſel, trieb ſich der Ruheloſe bald in den katholiſchen Städten des Südens umher, bald tauchte er in Berlin auf um den Ge- brüdern Gerlach und den anderen chriſtlich-germaniſchen Genoſſen der Maikäfer-Geſellſchaft ſeine Abhandlung über die Philiſter, die kecke Kriegs- erklärung der Romantik wider die Welt der Wirklichkeit, vorzuleſen. Den Befreiungskrieg begrüßte er mit lautem Jubel, doch konnte er ſo wenig wie Z. Werner ſich in den norddeutſch-proteſtantiſchen Ton der Bewegung recht finden; wie ſeltſam gezwungen und gemacht erſchienen ſeine zumeiſt zur Verherrlichung Oeſterreichs gedichteten Kriegslieder: „durch Gott und Dich ward wahr, o Franz: was Oeſtreich will das kann’s!“ Nachher führte ihn ſein myſtiſcher Hang bis zum gemeinen Aberglauben herab; er verbrachte mehrere Jahre am Krankenlager der ſtigmatiſirten Nonne von Dülmen und legte ſeine Betrachtungen über das Wunderweib in verzückten Schriften nieder. Und doch drang das lautere Himmelslicht der Poeſie immer wieder durch die Nebel, welche dieſen kranken Geiſt umnachteten. Kaum hatte er in dem tollen Hexenſpuk der „Gründung Prags“, einer verunglückten Nachahmung von Kleiſts Pentheſilea, allen ſeinen verſchrobenen Launen die Zügel ſchießen laſſen, ſo ſammelte er ſich wieder, und ihm gelang wirklich was die Gelehrten der Romantik immer nur gefordert hatten: einen volksthümlichen Stoff in volksthüm- liche Form zu gießen. Er ſchuf ſein Meiſterſtück, die Erzählung vom braven Kasperl und vom ſchönen Annerl, das Vorbild der deutſchen Dorf- geſchichten. Mit vollem Rechte rühmte ſpäterhin Freiligrath ihm nach: der wußt’ es wohl wie nied’re Herzen ſchlagen; denn ſo naiv und treu

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/41>, abgerufen am 23.11.2024.