wohlwollende Haltung; erst als das lärmende Treiben der akademischen Jugend die Reaktion entfesselt hatte, brach die Verfolgung auch über die Turnplätze herein. --
Die Turnerei ging von Berlin aus, die Wiege der Burschenschaft stand in Thüringen. Und wo hätte auch dieser romantische Studenten- staat so zuversichtlich, so selbstgefällig, so ganz unbekümmert um die harten Thatsachen der Wirklichkeit sein naives Traumleben führen können, wie hier inmitten der gemüthlichen Anarchie eines patriarchalischen Völkchens, das den Ernst des Staates nie gekannt hatte? Unter allen den Unheils- mächten, welche unserem Volke den Weg zur staatlichen Größe erschwerten, steht die durchaus unpolitische Geschichte dieser Mitte Deutschlands viel- leicht obenan. Fast alle anderen deutschen Stämme nahmen doch irgend einmal einen Anlauf nach dem Ziele politischer Macht, die Thüringer niemals. Unsere Cultur verdankt ihnen unsäglich viel, unser Staat gar nichts. Schon in den ältesten Zeiten vermochten sie nicht sich ein eigenes Stammesherzogthum zu schaffen. Späterhin unter der Herrschaft seiner Landgrafen errang sich Thüringen zum ersten male einen glänzenden Platz in dem geistigen Leben der Nation, nicht durch die Fülle seiner eigenen Talente, sondern durch eine weitherzige, verständnißvolle Gast- freundschaft, wie sie der centralen Lage des Landes entsprach. Frau Aventiure hielt auf der Wartburg ihren heiteren Hof, und die ritterlichen Sänger aus allen Gauen des Reichs warben mit dem Wohllaut ihrer Reime um die Gunst Hermanns des Milden. Aber an den großen Machtkämpfen jener staufischen Zeiten nahm das liederfrohe Land nur geringen Antheil. Auch als nachher die Wettiner die Herrschaft antraten, blieb Thüringen immer ein Nebenland; der sächsische Rautenkranz ver- drängte den alten gestreiften Landgrafenlöwen. Der politische Schwerpunkt der wettinischen Hausmacht lag in der Mark Meißen, im Kurkreise und im Osterlande, und nicht lange, so ward der aufblühende mitteldeutsche Staat wieder zerstört durch jene verhängnißvolle Theilung, welcher die selbstmör- derischen Bruderkämpfe der Ernestiner und der Albertiner entsprangen.
Zum zweiten male stieg ein lichter Tag geistigen Ruhmes über Thüringens Bergen empor, als der größte Sohn des Landes unter dem Schutze seiner frommen Fürsten den Kampf für das Evangelium begann und die Burg des ritterlichen Minnesanges die Geburtsstätte der deut- schen Bibel wurde. Doch eben diese reiche Zeit entschied auch den poli- tischen Verfall des Landes. Die deutsche Geschichte kennt nur wenige so tragische Schicksalswechsel wie den jähen Zusammenbruch der Ernestini- schen Macht; kein anderes unserer fürstlichen Geschlechter hat die Versäum- niß großer Stunden so bitter, und die alte Wahrheit, daß die politische Welt dem kühnen Wollen gehört, so schmerzlich empfinden müssen. Als Kaiser
Thüringen.
wohlwollende Haltung; erſt als das lärmende Treiben der akademiſchen Jugend die Reaktion entfeſſelt hatte, brach die Verfolgung auch über die Turnplätze herein. —
Die Turnerei ging von Berlin aus, die Wiege der Burſchenſchaft ſtand in Thüringen. Und wo hätte auch dieſer romantiſche Studenten- ſtaat ſo zuverſichtlich, ſo ſelbſtgefällig, ſo ganz unbekümmert um die harten Thatſachen der Wirklichkeit ſein naives Traumleben führen können, wie hier inmitten der gemüthlichen Anarchie eines patriarchaliſchen Völkchens, das den Ernſt des Staates nie gekannt hatte? Unter allen den Unheils- mächten, welche unſerem Volke den Weg zur ſtaatlichen Größe erſchwerten, ſteht die durchaus unpolitiſche Geſchichte dieſer Mitte Deutſchlands viel- leicht obenan. Faſt alle anderen deutſchen Stämme nahmen doch irgend einmal einen Anlauf nach dem Ziele politiſcher Macht, die Thüringer niemals. Unſere Cultur verdankt ihnen unſäglich viel, unſer Staat gar nichts. Schon in den älteſten Zeiten vermochten ſie nicht ſich ein eigenes Stammesherzogthum zu ſchaffen. Späterhin unter der Herrſchaft ſeiner Landgrafen errang ſich Thüringen zum erſten male einen glänzenden Platz in dem geiſtigen Leben der Nation, nicht durch die Fülle ſeiner eigenen Talente, ſondern durch eine weitherzige, verſtändnißvolle Gaſt- freundſchaft, wie ſie der centralen Lage des Landes entſprach. Frau Aventiure hielt auf der Wartburg ihren heiteren Hof, und die ritterlichen Sänger aus allen Gauen des Reichs warben mit dem Wohllaut ihrer Reime um die Gunſt Hermanns des Milden. Aber an den großen Machtkämpfen jener ſtaufiſchen Zeiten nahm das liederfrohe Land nur geringen Antheil. Auch als nachher die Wettiner die Herrſchaft antraten, blieb Thüringen immer ein Nebenland; der ſächſiſche Rautenkranz ver- drängte den alten geſtreiften Landgrafenlöwen. Der politiſche Schwerpunkt der wettiniſchen Hausmacht lag in der Mark Meißen, im Kurkreiſe und im Oſterlande, und nicht lange, ſo ward der aufblühende mitteldeutſche Staat wieder zerſtört durch jene verhängnißvolle Theilung, welcher die ſelbſtmör- deriſchen Bruderkämpfe der Erneſtiner und der Albertiner entſprangen.
Zum zweiten male ſtieg ein lichter Tag geiſtigen Ruhmes über Thüringens Bergen empor, als der größte Sohn des Landes unter dem Schutze ſeiner frommen Fürſten den Kampf für das Evangelium begann und die Burg des ritterlichen Minneſanges die Geburtsſtätte der deut- ſchen Bibel wurde. Doch eben dieſe reiche Zeit entſchied auch den poli- tiſchen Verfall des Landes. Die deutſche Geſchichte kennt nur wenige ſo tragiſche Schickſalswechſel wie den jähen Zuſammenbruch der Erneſtini- ſchen Macht; kein anderes unſerer fürſtlichen Geſchlechter hat die Verſäum- niß großer Stunden ſo bitter, und die alte Wahrheit, daß die politiſche Welt dem kühnen Wollen gehört, ſo ſchmerzlich empfinden müſſen. Als Kaiſer
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Thüringen.
wohlwollende Haltung; erſt als das lärmende Treiben der akademiſchen
Jugend die Reaktion entfeſſelt hatte, brach die Verfolgung auch über die
Turnplätze herein. —
Die Turnerei ging von Berlin aus, die Wiege der Burſchenſchaft
ſtand in Thüringen. Und wo hätte auch dieſer romantiſche Studenten-
ſtaat ſo zuverſichtlich, ſo ſelbſtgefällig, ſo ganz unbekümmert um die harten
Thatſachen der Wirklichkeit ſein naives Traumleben führen können, wie
hier inmitten der gemüthlichen Anarchie eines patriarchaliſchen Völkchens,
das den Ernſt des Staates nie gekannt hatte? Unter allen den Unheils-
mächten, welche unſerem Volke den Weg zur ſtaatlichen Größe erſchwerten,
ſteht die durchaus unpolitiſche Geſchichte dieſer Mitte Deutſchlands viel-
leicht obenan. Faſt alle anderen deutſchen Stämme nahmen doch irgend
einmal einen Anlauf nach dem Ziele politiſcher Macht, die Thüringer
niemals. Unſere Cultur verdankt ihnen unſäglich viel, unſer Staat gar
nichts. Schon in den älteſten Zeiten vermochten ſie nicht ſich ein eigenes
Stammesherzogthum zu ſchaffen. Späterhin unter der Herrſchaft ſeiner
Landgrafen errang ſich Thüringen zum erſten male einen glänzenden
Platz in dem geiſtigen Leben der Nation, nicht durch die Fülle ſeiner
eigenen Talente, ſondern durch eine weitherzige, verſtändnißvolle Gaſt-
freundſchaft, wie ſie der centralen Lage des Landes entſprach. Frau
Aventiure hielt auf der Wartburg ihren heiteren Hof, und die ritterlichen
Sänger aus allen Gauen des Reichs warben mit dem Wohllaut ihrer
Reime um die Gunſt Hermanns des Milden. Aber an den großen
Machtkämpfen jener ſtaufiſchen Zeiten nahm das liederfrohe Land nur
geringen Antheil. Auch als nachher die Wettiner die Herrſchaft antraten,
blieb Thüringen immer ein Nebenland; der ſächſiſche Rautenkranz ver-
drängte den alten geſtreiften Landgrafenlöwen. Der politiſche Schwerpunkt
der wettiniſchen Hausmacht lag in der Mark Meißen, im Kurkreiſe und im
Oſterlande, und nicht lange, ſo ward der aufblühende mitteldeutſche Staat
wieder zerſtört durch jene verhängnißvolle Theilung, welcher die ſelbſtmör-
deriſchen Bruderkämpfe der Erneſtiner und der Albertiner entſprangen.
Zum zweiten male ſtieg ein lichter Tag geiſtigen Ruhmes über
Thüringens Bergen empor, als der größte Sohn des Landes unter dem
Schutze ſeiner frommen Fürſten den Kampf für das Evangelium begann
und die Burg des ritterlichen Minneſanges die Geburtsſtätte der deut-
ſchen Bibel wurde. Doch eben dieſe reiche Zeit entſchied auch den poli-
tiſchen Verfall des Landes. Die deutſche Geſchichte kennt nur wenige ſo
tragiſche Schickſalswechſel wie den jähen Zuſammenbruch der Erneſtini-
ſchen Macht; kein anderes unſerer fürſtlichen Geſchlechter hat die Verſäum-
niß großer Stunden ſo bitter, und die alte Wahrheit, daß die politiſche Welt
dem kühnen Wollen gehört, ſo ſchmerzlich empfinden müſſen. Als Kaiſer
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/409>, abgerufen am 25.11.2024.
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