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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 6. Süddeutsche Verfassungskämpfe.
germanischen Genius waren ihr gegeben: die oft ins Grenzenlose schwei-
fende Vielseitigkeit und jene schöpferische, ursprüngliche Macht des Denkens,
die sich wohl in Unklarheit und Grübelei verlieren, aber niemals platt
und leer werden kann. Dem Lande selbst kam von dieser Fülle geistiger
Kräfte nur wenig zu gute. Da ein gelehrtes Beamtenthum fast gänz-
lich fehlte, so blieben die Prälaten und die Helfer nahezu die einzigen
amtlichen Vertreter der höheren Bildung. Ihnen genügte es, daß der
schwäbische Candidat, neben dem kursächsischen, noch überall in der Welt
als der beste Hauslehrer gesucht wurde. Die Zeit war dahin, da die
Prinzen aller lutherischen Fürstenhäuser nach Tübingen in das Collegium
illustre zogen; jetzt klagte die Universität bitterlich, daß sie in einem Winkel
Deutschlands verkümmern müsse. Die freien Gedanken des neuen Jahr-
hunderts fanden bei den geistlichen Leitern des württembergischen Schul-
wesens so wenig Verständniß, daß sich endlich Herzog Karl Eugen ent-
schloß, der starren Theologie des Tübinger Stifts ein Gegengewicht zu
schaffen und in seiner Karlsschule der verweltlichten Wissenschaft eine
Freistätte eröffnete, die in der kurzen Zeit ihres Bestandes den Ruhm der
alten Hochschule ganz verdunkelte. Alle die großen Schwaben, welche an
der Arbeit der neuen Literatur theilnahmen, von Schiller bis auf Schel-
ling und Hegel, mußten sich ihren Wirkungskreis außerhalb des Landes
suchen, manche erst nach schwerem Kampfe mit den kleinlichen Vorur-
theilen der Heimath. Jener tragische Gegensatz geistigen Reichthums und
politischer Armseligkeit, die Krankheit unseres achtzehnten Jahrhunderts,
zeigte sich nirgends häßlicher als hier.

Die Abgelegenheit des Landes, das seine alten Welthandelstraßen
längst verloren hatte; die Mannichfaltigkeit der Bodengestaltung mit
ihrem bunten Wechsel von rauhen Hochebenen, waldreichen Alpthälern
und lachenden Rebengeländen; das Elend der staatlichen Vielherrschaft
und die angeborene unzähmbare Eigenart des Volkes, dem nichts un-
leidlicher schien als die politische Mannszucht -- dies Alles im Verein rief
in Schwaben eine kleinlebige Zersplitterung und Vereinzelung hervor, wie
sie selbst in Deutschland ohne Gleichen dastand. Die kleinen Städte des
Herzogthums lebten unter ihren freund-vetterlichen Stadtschultheißen
ganz ebenso still und abgeschlossen für sich hin wie die benachbarten
Reichsstädte; das unwandelbare gute alte Recht ließ den Gedanken der
Staatseinheit, das Bewußtsein gemeinsamer politischer Aufgaben nicht
aufkommen. Ganz Schwaben -- Württemberg so gut wie die wunderbaren
Staatsgebilde der Reichsstädte, der gefürsteten Propsteien und der reichs-
ritterlichen Condominate -- galt in Deutschland als das Paradies klein-
bürgerlicher Wunderlichkeit: nahe dem Hohenstaufen lag Krähwinkel, und
in Biberach sammelte Wieland den Stoff für seine Abderiten. Was
Wunder, daß inmitten dieser engen Welt die reiche vielgeschäftige Phan-
tasie der Schwaben oft auf seltsame Schrullen gerieth; nirgends in

II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
germaniſchen Genius waren ihr gegeben: die oft ins Grenzenloſe ſchwei-
fende Vielſeitigkeit und jene ſchöpferiſche, urſprüngliche Macht des Denkens,
die ſich wohl in Unklarheit und Grübelei verlieren, aber niemals platt
und leer werden kann. Dem Lande ſelbſt kam von dieſer Fülle geiſtiger
Kräfte nur wenig zu gute. Da ein gelehrtes Beamtenthum faſt gänz-
lich fehlte, ſo blieben die Prälaten und die Helfer nahezu die einzigen
amtlichen Vertreter der höheren Bildung. Ihnen genügte es, daß der
ſchwäbiſche Candidat, neben dem kurſächſiſchen, noch überall in der Welt
als der beſte Hauslehrer geſucht wurde. Die Zeit war dahin, da die
Prinzen aller lutheriſchen Fürſtenhäuſer nach Tübingen in das Collegium
illuſtre zogen; jetzt klagte die Univerſität bitterlich, daß ſie in einem Winkel
Deutſchlands verkümmern müſſe. Die freien Gedanken des neuen Jahr-
hunderts fanden bei den geiſtlichen Leitern des württembergiſchen Schul-
weſens ſo wenig Verſtändniß, daß ſich endlich Herzog Karl Eugen ent-
ſchloß, der ſtarren Theologie des Tübinger Stifts ein Gegengewicht zu
ſchaffen und in ſeiner Karlsſchule der verweltlichten Wiſſenſchaft eine
Freiſtätte eröffnete, die in der kurzen Zeit ihres Beſtandes den Ruhm der
alten Hochſchule ganz verdunkelte. Alle die großen Schwaben, welche an
der Arbeit der neuen Literatur theilnahmen, von Schiller bis auf Schel-
ling und Hegel, mußten ſich ihren Wirkungskreis außerhalb des Landes
ſuchen, manche erſt nach ſchwerem Kampfe mit den kleinlichen Vorur-
theilen der Heimath. Jener tragiſche Gegenſatz geiſtigen Reichthums und
politiſcher Armſeligkeit, die Krankheit unſeres achtzehnten Jahrhunderts,
zeigte ſich nirgends häßlicher als hier.

Die Abgelegenheit des Landes, das ſeine alten Welthandelſtraßen
längſt verloren hatte; die Mannichfaltigkeit der Bodengeſtaltung mit
ihrem bunten Wechſel von rauhen Hochebenen, waldreichen Alpthälern
und lachenden Rebengeländen; das Elend der ſtaatlichen Vielherrſchaft
und die angeborene unzähmbare Eigenart des Volkes, dem nichts un-
leidlicher ſchien als die politiſche Mannszucht — dies Alles im Verein rief
in Schwaben eine kleinlebige Zerſplitterung und Vereinzelung hervor, wie
ſie ſelbſt in Deutſchland ohne Gleichen daſtand. Die kleinen Städte des
Herzogthums lebten unter ihren freund-vetterlichen Stadtſchultheißen
ganz ebenſo ſtill und abgeſchloſſen für ſich hin wie die benachbarten
Reichsſtädte; das unwandelbare gute alte Recht ließ den Gedanken der
Staatseinheit, das Bewußtſein gemeinſamer politiſcher Aufgaben nicht
aufkommen. Ganz Schwaben — Württemberg ſo gut wie die wunderbaren
Staatsgebilde der Reichsſtädte, der gefürſteten Propſteien und der reichs-
ritterlichen Condominate — galt in Deutſchland als das Paradies klein-
bürgerlicher Wunderlichkeit: nahe dem Hohenſtaufen lag Krähwinkel, und
in Biberach ſammelte Wieland den Stoff für ſeine Abderiten. Was
Wunder, daß inmitten dieſer engen Welt die reiche vielgeſchäftige Phan-
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[302/0316] II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe. germaniſchen Genius waren ihr gegeben: die oft ins Grenzenloſe ſchwei- fende Vielſeitigkeit und jene ſchöpferiſche, urſprüngliche Macht des Denkens, die ſich wohl in Unklarheit und Grübelei verlieren, aber niemals platt und leer werden kann. Dem Lande ſelbſt kam von dieſer Fülle geiſtiger Kräfte nur wenig zu gute. Da ein gelehrtes Beamtenthum faſt gänz- lich fehlte, ſo blieben die Prälaten und die Helfer nahezu die einzigen amtlichen Vertreter der höheren Bildung. Ihnen genügte es, daß der ſchwäbiſche Candidat, neben dem kurſächſiſchen, noch überall in der Welt als der beſte Hauslehrer geſucht wurde. Die Zeit war dahin, da die Prinzen aller lutheriſchen Fürſtenhäuſer nach Tübingen in das Collegium illuſtre zogen; jetzt klagte die Univerſität bitterlich, daß ſie in einem Winkel Deutſchlands verkümmern müſſe. Die freien Gedanken des neuen Jahr- hunderts fanden bei den geiſtlichen Leitern des württembergiſchen Schul- weſens ſo wenig Verſtändniß, daß ſich endlich Herzog Karl Eugen ent- ſchloß, der ſtarren Theologie des Tübinger Stifts ein Gegengewicht zu ſchaffen und in ſeiner Karlsſchule der verweltlichten Wiſſenſchaft eine Freiſtätte eröffnete, die in der kurzen Zeit ihres Beſtandes den Ruhm der alten Hochſchule ganz verdunkelte. Alle die großen Schwaben, welche an der Arbeit der neuen Literatur theilnahmen, von Schiller bis auf Schel- ling und Hegel, mußten ſich ihren Wirkungskreis außerhalb des Landes ſuchen, manche erſt nach ſchwerem Kampfe mit den kleinlichen Vorur- theilen der Heimath. Jener tragiſche Gegenſatz geiſtigen Reichthums und politiſcher Armſeligkeit, die Krankheit unſeres achtzehnten Jahrhunderts, zeigte ſich nirgends häßlicher als hier. Die Abgelegenheit des Landes, das ſeine alten Welthandelſtraßen längſt verloren hatte; die Mannichfaltigkeit der Bodengeſtaltung mit ihrem bunten Wechſel von rauhen Hochebenen, waldreichen Alpthälern und lachenden Rebengeländen; das Elend der ſtaatlichen Vielherrſchaft und die angeborene unzähmbare Eigenart des Volkes, dem nichts un- leidlicher ſchien als die politiſche Mannszucht — dies Alles im Verein rief in Schwaben eine kleinlebige Zerſplitterung und Vereinzelung hervor, wie ſie ſelbſt in Deutſchland ohne Gleichen daſtand. Die kleinen Städte des Herzogthums lebten unter ihren freund-vetterlichen Stadtſchultheißen ganz ebenſo ſtill und abgeſchloſſen für ſich hin wie die benachbarten Reichsſtädte; das unwandelbare gute alte Recht ließ den Gedanken der Staatseinheit, das Bewußtſein gemeinſamer politiſcher Aufgaben nicht aufkommen. Ganz Schwaben — Württemberg ſo gut wie die wunderbaren Staatsgebilde der Reichsſtädte, der gefürſteten Propſteien und der reichs- ritterlichen Condominate — galt in Deutſchland als das Paradies klein- bürgerlicher Wunderlichkeit: nahe dem Hohenſtaufen lag Krähwinkel, und in Biberach ſammelte Wieland den Stoff für ſeine Abderiten. Was Wunder, daß inmitten dieſer engen Welt die reiche vielgeſchäftige Phan- taſie der Schwaben oft auf ſeltſame Schrullen gerieth; nirgends in

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/316>, abgerufen am 25.11.2024.