Wie einst das Zeitalter unserer classischen Dichtung seine Bühne außerhalb Preußens aufgeschlagen hatte, so fanden jetzt die neuen politischen Ideale, welche die Wortführer der öffentlichen Meinung als den eigentlichen Inhalt der Epoche priesen, in Preußen keinen Boden, und der Staat, dessen gutes Schwert den Deutschen soeben erst die Thore einer neuen Zeit geöffnet hatte, erschien der liberalen Welt wie eine erstarrte Masse, wie ein Blei- gewicht, das die freien Glieder der Nation in ihrer Bewegung hemmte. Befangen in dem Glauben, daß alles Heil der Völker in den constitutio- nellen Formen enthalten sei, hatte man kein Auge mehr für Preußens Heerwesen und Handelspolitik, für die stille Arbeit, welche dort den Neu- bau des deutschen Staates vorbereitete, und während jede Verhandlung der schwäbischen Kammern in der Presse mit leidenschaftlicher Theilnahme erörtert wurde, blieben die Zustände Preußens draußen im Reiche so un- bekannt, daß jedes lächerliche Märchen auf gläubige Hörer rechnen konnte. Die süddeutschen Verfassungen wurden wirklich, wie die Höfe von München und Stuttgart von vornherein gehofft, eine Stütze des Particularismus. Die Redner der kleinen Landtage führten zwar die deutsche Einheit im Munde, aber der Ernst ihrer politischen Arbeit blieb auf die heimischen Grenzpfähle beschränkt, und da am Bundestage die Politik des Absolutis- mus die Oberhand behielt, so begannen sie bald die Heimath als den constitutionellen Musterstaat, als die Hochburg deutscher Freiheit und Auf- klärung zu preisen und gelangten schließlich zu der naiven Ansicht, ihre Landesverfassung stehe über den Bundesgesetzen.
Welch ein Unglück für unsere politische Bildung, daß diese so lang- sam der Vereinzelung entwachsende Nation ihre ersten constitutionellen Erfahrungen in dem Scheinleben ohnmächtiger, unselbständiger Staaten sammelte. In dieser Enge erhielt der deutsche Parlamentarismus von Haus aus das Gepräge kleinstädtischer und kleinmeisterlicher Beschränktheit. Die schwere Schicksalsfrage des festländischen constitutionellen Staatslebens -- die Frage, wie sich die parlamentarischen Formen mit der Macht eines streitbaren Heeres und dem stetigen Gange einer großen europäischen Politik vereinigen lassen -- konnte in so abhängigen Gemeinwesen gar nicht aufgeworfen werden. Jeder politische Streit ward hier zum per- sönlichen Zanke, und da der Bestand des Königthums von Napoleons Gnaden weder Ehrfurcht noch Schonung gebot, so entstand aus dem Un- segen der Kleinstaaterei eine krankhafte Gehässigkeit des Parteikampfes, die weder dem gutherzigen Charakter noch den leidlich gesunden socialen Zuständen unseres Volkes entsprach. Am letzten Ende ward die Haltung der kleinen Höfe durch den Willen Oesterreichs und Preußens bestimmt; so lange diese führenden Mächte sich dem constitutionellen Systeme ver- sagten, blieben die Oppositionsparteien der neuen Ständeversammlungen ohne jede Aussicht jemals selber an das Ruder zu gelangen. In solcher Stellung ohne ernste Verantwortlichkeit gewöhnten sie sich an alle Sünden
II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
Wie einſt das Zeitalter unſerer claſſiſchen Dichtung ſeine Bühne außerhalb Preußens aufgeſchlagen hatte, ſo fanden jetzt die neuen politiſchen Ideale, welche die Wortführer der öffentlichen Meinung als den eigentlichen Inhalt der Epoche prieſen, in Preußen keinen Boden, und der Staat, deſſen gutes Schwert den Deutſchen ſoeben erſt die Thore einer neuen Zeit geöffnet hatte, erſchien der liberalen Welt wie eine erſtarrte Maſſe, wie ein Blei- gewicht, das die freien Glieder der Nation in ihrer Bewegung hemmte. Befangen in dem Glauben, daß alles Heil der Völker in den conſtitutio- nellen Formen enthalten ſei, hatte man kein Auge mehr für Preußens Heerweſen und Handelspolitik, für die ſtille Arbeit, welche dort den Neu- bau des deutſchen Staates vorbereitete, und während jede Verhandlung der ſchwäbiſchen Kammern in der Preſſe mit leidenſchaftlicher Theilnahme erörtert wurde, blieben die Zuſtände Preußens draußen im Reiche ſo un- bekannt, daß jedes lächerliche Märchen auf gläubige Hörer rechnen konnte. Die ſüddeutſchen Verfaſſungen wurden wirklich, wie die Höfe von München und Stuttgart von vornherein gehofft, eine Stütze des Particularismus. Die Redner der kleinen Landtage führten zwar die deutſche Einheit im Munde, aber der Ernſt ihrer politiſchen Arbeit blieb auf die heimiſchen Grenzpfähle beſchränkt, und da am Bundestage die Politik des Abſolutis- mus die Oberhand behielt, ſo begannen ſie bald die Heimath als den conſtitutionellen Muſterſtaat, als die Hochburg deutſcher Freiheit und Auf- klärung zu preiſen und gelangten ſchließlich zu der naiven Anſicht, ihre Landesverfaſſung ſtehe über den Bundesgeſetzen.
Welch ein Unglück für unſere politiſche Bildung, daß dieſe ſo lang- ſam der Vereinzelung entwachſende Nation ihre erſten conſtitutionellen Erfahrungen in dem Scheinleben ohnmächtiger, unſelbſtändiger Staaten ſammelte. In dieſer Enge erhielt der deutſche Parlamentarismus von Haus aus das Gepräge kleinſtädtiſcher und kleinmeiſterlicher Beſchränktheit. Die ſchwere Schickſalsfrage des feſtländiſchen conſtitutionellen Staatslebens — die Frage, wie ſich die parlamentariſchen Formen mit der Macht eines ſtreitbaren Heeres und dem ſtetigen Gange einer großen europäiſchen Politik vereinigen laſſen — konnte in ſo abhängigen Gemeinweſen gar nicht aufgeworfen werden. Jeder politiſche Streit ward hier zum per- ſönlichen Zanke, und da der Beſtand des Königthums von Napoleons Gnaden weder Ehrfurcht noch Schonung gebot, ſo entſtand aus dem Un- ſegen der Kleinſtaaterei eine krankhafte Gehäſſigkeit des Parteikampfes, die weder dem gutherzigen Charakter noch den leidlich geſunden ſocialen Zuſtänden unſeres Volkes entſprach. Am letzten Ende ward die Haltung der kleinen Höfe durch den Willen Oeſterreichs und Preußens beſtimmt; ſo lange dieſe führenden Mächte ſich dem conſtitutionellen Syſteme ver- ſagten, blieben die Oppoſitionsparteien der neuen Ständeverſammlungen ohne jede Ausſicht jemals ſelber an das Ruder zu gelangen. In ſolcher Stellung ohne ernſte Verantwortlichkeit gewöhnten ſie ſich an alle Sünden
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II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.
Wie einſt das Zeitalter unſerer claſſiſchen Dichtung ſeine Bühne
außerhalb Preußens aufgeſchlagen hatte, ſo fanden jetzt die neuen politiſchen
Ideale, welche die Wortführer der öffentlichen Meinung als den eigentlichen
Inhalt der Epoche prieſen, in Preußen keinen Boden, und der Staat, deſſen
gutes Schwert den Deutſchen ſoeben erſt die Thore einer neuen Zeit geöffnet
hatte, erſchien der liberalen Welt wie eine erſtarrte Maſſe, wie ein Blei-
gewicht, das die freien Glieder der Nation in ihrer Bewegung hemmte.
Befangen in dem Glauben, daß alles Heil der Völker in den conſtitutio-
nellen Formen enthalten ſei, hatte man kein Auge mehr für Preußens
Heerweſen und Handelspolitik, für die ſtille Arbeit, welche dort den Neu-
bau des deutſchen Staates vorbereitete, und während jede Verhandlung
der ſchwäbiſchen Kammern in der Preſſe mit leidenſchaftlicher Theilnahme
erörtert wurde, blieben die Zuſtände Preußens draußen im Reiche ſo un-
bekannt, daß jedes lächerliche Märchen auf gläubige Hörer rechnen konnte.
Die ſüddeutſchen Verfaſſungen wurden wirklich, wie die Höfe von München
und Stuttgart von vornherein gehofft, eine Stütze des Particularismus.
Die Redner der kleinen Landtage führten zwar die deutſche Einheit im
Munde, aber der Ernſt ihrer politiſchen Arbeit blieb auf die heimiſchen
Grenzpfähle beſchränkt, und da am Bundestage die Politik des Abſolutis-
mus die Oberhand behielt, ſo begannen ſie bald die Heimath als den
conſtitutionellen Muſterſtaat, als die Hochburg deutſcher Freiheit und Auf-
klärung zu preiſen und gelangten ſchließlich zu der naiven Anſicht, ihre
Landesverfaſſung ſtehe über den Bundesgeſetzen.
Welch ein Unglück für unſere politiſche Bildung, daß dieſe ſo lang-
ſam der Vereinzelung entwachſende Nation ihre erſten conſtitutionellen
Erfahrungen in dem Scheinleben ohnmächtiger, unſelbſtändiger Staaten
ſammelte. In dieſer Enge erhielt der deutſche Parlamentarismus von
Haus aus das Gepräge kleinſtädtiſcher und kleinmeiſterlicher Beſchränktheit.
Die ſchwere Schickſalsfrage des feſtländiſchen conſtitutionellen Staatslebens
— die Frage, wie ſich die parlamentariſchen Formen mit der Macht eines
ſtreitbaren Heeres und dem ſtetigen Gange einer großen europäiſchen
Politik vereinigen laſſen — konnte in ſo abhängigen Gemeinweſen gar
nicht aufgeworfen werden. Jeder politiſche Streit ward hier zum per-
ſönlichen Zanke, und da der Beſtand des Königthums von Napoleons
Gnaden weder Ehrfurcht noch Schonung gebot, ſo entſtand aus dem Un-
ſegen der Kleinſtaaterei eine krankhafte Gehäſſigkeit des Parteikampfes,
die weder dem gutherzigen Charakter noch den leidlich geſunden ſocialen
Zuſtänden unſeres Volkes entſprach. Am letzten Ende ward die Haltung
der kleinen Höfe durch den Willen Oeſterreichs und Preußens beſtimmt;
ſo lange dieſe führenden Mächte ſich dem conſtitutionellen Syſteme ver-
ſagten, blieben die Oppoſitionsparteien der neuen Ständeverſammlungen
ohne jede Ausſicht jemals ſelber an das Ruder zu gelangen. In ſolcher
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/310>, abgerufen am 22.11.2024.
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