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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
da er das Unrecht Europas gegen die unter seinem Adler vereinigten
Völker anerkennen muß." Also -- Umwandlung Preußens in eine Foede-
ration unabhängiger Provinzen mit Provinzialständen und Provinzial-
truppen! Herr v. Bojanowsky verlangt eine "Erklärung der Menschen-
rechte"; Herr v. Morawsky findet die Menschenwürde nur da vollkommen
gewahrt, wo "ein Obermensch" regiert, beschränkt durch einen Senat
conservateur
und eine Deputirtenkammer. Auch einzelne Deutsche zeigen
sich angesteckt von der diese Landschaft beherrschenden französischen Bil-
dung. Der Regierungsdirector v. Leipziger bringt einen vollständigen
"Constitutionsentwurf" nach der wohlbekannten Pariser Schablone (§ 1.
Das Haus Hohenzollern regiert in ununterbrochener Linie nach den be-
stehenden Hausgesetzen. § 16. Die christliche Religion ist die Religion der
Nation u. s. w.). Offenbar waren solche Ansichten des polnischen Adels,
mit ihren kaum versteckten Hintergedanken, wenig geeignet, die Krone für
die Nachahmung französischer Institutionen zu gewinnen; doch sie lehrten
noch eindringlicher, wie gefährlich es sei, sich mit Provinzialständen zu be-
gnügen. Auf diesen letzteren Punkt legte der Oberpräsident Zerboni großes
Gewicht; er fragte warnend: "wollen wir eine Cantonalverfassung wie in
der Schweiz einführen?" "Noch sind wir keine Nation -- sagt sein Votum.
Wir existiren nur in der Idee und erlöschen mit ihr. Es liegen große
Ereignisse im Schooße der Zukunft. Sie wird sie an Preußen anknüpfen.
Wir haben keinen Nebenbuhler, wenn wir die Rolle begreifen, die uns
zugefallen ist." Darum Reichsstände für den Gesammtstaat, beschließend,
nicht blos berathend.*)

Im Rheinland standen sich die Ansichten sehr schroff gegenüber. Auf
der einen Seite die altständische Agitation der niederrheinischen Adelichen;
zu ihnen gesellte sich jetzt der Freiherr v. Nagel mit einem unerlaubt gründ-
lichen Werke über die jülich-cleve-bergischen Stände, und der alte kur-
triersche Syndicus Hommer, der den trierschen Landtag mitsammt seiner
geistlichen Curie wiederherstellen wollte. Dem gegenüber die demokratischen
Anschauungen einer ganz modernen bürgerlichen Gesellschaft und, namentlich
unter den eingebornen Beamten, vereinzelte constitutionelle Ideen, die an
Frankreichs Nachbarschaft gemahnten. Zwar die Stadräthe von Köln und
Trier erinnerten nur in allgemeinen Sätzen an die verheißene Verfassung,
als der König in jenem Sommer die Provinz bereiste, und auch Benzen-
berg, der sich mit den Gutsbesitzern des Crefelder Kreises an den Monarchen
wendete, bat nur um berathende Stände. Präsident Sethe dagegen über-
reichte dem Minister Altenstein eine Denkschrift, welche den Reichstag allein
aus Wahlen hervorgehen ließ, allen selbständigen Staatsbürgern das
Wahlrecht gab, nur die Mediatisirten, als nicht steuerpflichtig, ausschloß.

*) Klewiz, Bericht über die Bereisung von Posen u. s. w. Zerboni, Votum vom
28. Novbr. 1817.

II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
da er das Unrecht Europas gegen die unter ſeinem Adler vereinigten
Völker anerkennen muß.“ Alſo — Umwandlung Preußens in eine Foede-
ration unabhängiger Provinzen mit Provinzialſtänden und Provinzial-
truppen! Herr v. Bojanowsky verlangt eine „Erklärung der Menſchen-
rechte“; Herr v. Morawsky findet die Menſchenwürde nur da vollkommen
gewahrt, wo „ein Obermenſch“ regiert, beſchränkt durch einen Sénat
conservateur
und eine Deputirtenkammer. Auch einzelne Deutſche zeigen
ſich angeſteckt von der dieſe Landſchaft beherrſchenden franzöſiſchen Bil-
dung. Der Regierungsdirector v. Leipziger bringt einen vollſtändigen
„Conſtitutionsentwurf“ nach der wohlbekannten Pariſer Schablone (§ 1.
Das Haus Hohenzollern regiert in ununterbrochener Linie nach den be-
ſtehenden Hausgeſetzen. § 16. Die chriſtliche Religion iſt die Religion der
Nation u. ſ. w.). Offenbar waren ſolche Anſichten des polniſchen Adels,
mit ihren kaum verſteckten Hintergedanken, wenig geeignet, die Krone für
die Nachahmung franzöſiſcher Inſtitutionen zu gewinnen; doch ſie lehrten
noch eindringlicher, wie gefährlich es ſei, ſich mit Provinzialſtänden zu be-
gnügen. Auf dieſen letzteren Punkt legte der Oberpräſident Zerboni großes
Gewicht; er fragte warnend: „wollen wir eine Cantonalverfaſſung wie in
der Schweiz einführen?“ „Noch ſind wir keine Nation — ſagt ſein Votum.
Wir exiſtiren nur in der Idee und erlöſchen mit ihr. Es liegen große
Ereigniſſe im Schooße der Zukunft. Sie wird ſie an Preußen anknüpfen.
Wir haben keinen Nebenbuhler, wenn wir die Rolle begreifen, die uns
zugefallen iſt.“ Darum Reichsſtände für den Geſammtſtaat, beſchließend,
nicht blos berathend.*)

Im Rheinland ſtanden ſich die Anſichten ſehr ſchroff gegenüber. Auf
der einen Seite die altſtändiſche Agitation der niederrheiniſchen Adelichen;
zu ihnen geſellte ſich jetzt der Freiherr v. Nagel mit einem unerlaubt gründ-
lichen Werke über die jülich-cleve-bergiſchen Stände, und der alte kur-
trierſche Syndicus Hommer, der den trierſchen Landtag mitſammt ſeiner
geiſtlichen Curie wiederherſtellen wollte. Dem gegenüber die demokratiſchen
Anſchauungen einer ganz modernen bürgerlichen Geſellſchaft und, namentlich
unter den eingebornen Beamten, vereinzelte conſtitutionelle Ideen, die an
Frankreichs Nachbarſchaft gemahnten. Zwar die Stadräthe von Köln und
Trier erinnerten nur in allgemeinen Sätzen an die verheißene Verfaſſung,
als der König in jenem Sommer die Provinz bereiſte, und auch Benzen-
berg, der ſich mit den Gutsbeſitzern des Crefelder Kreiſes an den Monarchen
wendete, bat nur um berathende Stände. Präſident Sethe dagegen über-
reichte dem Miniſter Altenſtein eine Denkſchrift, welche den Reichstag allein
aus Wahlen hervorgehen ließ, allen ſelbſtändigen Staatsbürgern das
Wahlrecht gab, nur die Mediatiſirten, als nicht ſteuerpflichtig, ausſchloß.

*) Klewiz, Bericht über die Bereiſung von Poſen u. ſ. w. Zerboni, Votum vom
28. Novbr. 1817.
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[290/0304] II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates. da er das Unrecht Europas gegen die unter ſeinem Adler vereinigten Völker anerkennen muß.“ Alſo — Umwandlung Preußens in eine Foede- ration unabhängiger Provinzen mit Provinzialſtänden und Provinzial- truppen! Herr v. Bojanowsky verlangt eine „Erklärung der Menſchen- rechte“; Herr v. Morawsky findet die Menſchenwürde nur da vollkommen gewahrt, wo „ein Obermenſch“ regiert, beſchränkt durch einen Sénat conservateur und eine Deputirtenkammer. Auch einzelne Deutſche zeigen ſich angeſteckt von der dieſe Landſchaft beherrſchenden franzöſiſchen Bil- dung. Der Regierungsdirector v. Leipziger bringt einen vollſtändigen „Conſtitutionsentwurf“ nach der wohlbekannten Pariſer Schablone (§ 1. Das Haus Hohenzollern regiert in ununterbrochener Linie nach den be- ſtehenden Hausgeſetzen. § 16. Die chriſtliche Religion iſt die Religion der Nation u. ſ. w.). Offenbar waren ſolche Anſichten des polniſchen Adels, mit ihren kaum verſteckten Hintergedanken, wenig geeignet, die Krone für die Nachahmung franzöſiſcher Inſtitutionen zu gewinnen; doch ſie lehrten noch eindringlicher, wie gefährlich es ſei, ſich mit Provinzialſtänden zu be- gnügen. Auf dieſen letzteren Punkt legte der Oberpräſident Zerboni großes Gewicht; er fragte warnend: „wollen wir eine Cantonalverfaſſung wie in der Schweiz einführen?“ „Noch ſind wir keine Nation — ſagt ſein Votum. Wir exiſtiren nur in der Idee und erlöſchen mit ihr. Es liegen große Ereigniſſe im Schooße der Zukunft. Sie wird ſie an Preußen anknüpfen. Wir haben keinen Nebenbuhler, wenn wir die Rolle begreifen, die uns zugefallen iſt.“ Darum Reichsſtände für den Geſammtſtaat, beſchließend, nicht blos berathend. *) Im Rheinland ſtanden ſich die Anſichten ſehr ſchroff gegenüber. Auf der einen Seite die altſtändiſche Agitation der niederrheiniſchen Adelichen; zu ihnen geſellte ſich jetzt der Freiherr v. Nagel mit einem unerlaubt gründ- lichen Werke über die jülich-cleve-bergiſchen Stände, und der alte kur- trierſche Syndicus Hommer, der den trierſchen Landtag mitſammt ſeiner geiſtlichen Curie wiederherſtellen wollte. Dem gegenüber die demokratiſchen Anſchauungen einer ganz modernen bürgerlichen Geſellſchaft und, namentlich unter den eingebornen Beamten, vereinzelte conſtitutionelle Ideen, die an Frankreichs Nachbarſchaft gemahnten. Zwar die Stadräthe von Köln und Trier erinnerten nur in allgemeinen Sätzen an die verheißene Verfaſſung, als der König in jenem Sommer die Provinz bereiſte, und auch Benzen- berg, der ſich mit den Gutsbeſitzern des Crefelder Kreiſes an den Monarchen wendete, bat nur um berathende Stände. Präſident Sethe dagegen über- reichte dem Miniſter Altenſtein eine Denkſchrift, welche den Reichstag allein aus Wahlen hervorgehen ließ, allen ſelbſtändigen Staatsbürgern das Wahlrecht gab, nur die Mediatiſirten, als nicht ſteuerpflichtig, ausſchloß. *) Klewiz, Bericht über die Bereiſung von Poſen u. ſ. w. Zerboni, Votum vom 28. Novbr. 1817.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/304>, abgerufen am 22.11.2024.