Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
Adam Smith: solche abstrakte Theorien sind gut genug für das stille Ka-
theder von Glasgow. Erst das kühne Vorgehen der Berliner Staats-
männer ermuthigte die englischen Freihändler mit ihrer Meinung heraus-
zurücken. Auf das "glänzende Beispiel, welches Preußen der Welt gegeben",
berief sich die freihändlerische Petition der Londoner City, welche Baring
im Mai 1820 dem Parlamente übergab. An Preußen dachte Huskisson,
als er seinen berühmten Satz aufstellte: "der Handel ist nicht Zweck, er
ist das Mittel, Wohlstand und Behagen unter den Völkern zu verbreiten"
und seinem Volke zurief: "dies Land kann nicht still stehen, während andere
Länder vorschreiten in Bildung und Gewerbefleiß."

Den freihändlerischen Ansichten der preußischen Staatsmänner genügte
das neue Gesetz nicht völlig. Man ahnte im Finanzministerium wohl --
J. G. Hoffmann hat es oft gestanden -- daß der weitaus größte Theil
des Zollertrags allein von den gangbarsten Kolonialwaaren aufgebracht
werden und die Staatskasse von anderen Zöllen nur geringen Vortheil
ziehen würde. Aber man sah auch, daß jedem Steuersysteme durch die
Gesinnung der Steuerpflichtigen feste Schranken gezogen sind; die öffent-
liche Meinung jener Tage würde der Regierung nie verziehen haben, wenn
sie den Kaffee besteuert, den Thee frei gelassen hätte. Maassen verwarf
jede einseitige Begünstigung eines Zweiges der Produktion, er rechnete auf
das Ineinandergreifen von Ackerbau, Gewerbe und Handel und betrachtete
die Schutzzölle nur als einen Nothbehelf um die deutsche Industrie all-
mählich zu Kräften kommen zu lassen. Schon bei der ersten Revision des
Tarifs im Jahre 1821 that man einen Schritt weiter im Sinne des
Freihandels, vereinfachte den Tarif und setzte mehrere Zölle herab. Wäh-
rend das Gesetz von 1818 für die westlichen Provinzen einen eigenen
Tarif mit etwas niedrigeren Sätzen aufgestellt hatte, fiel jetzt jeder Unterschied
zwischen den Provinzen hinweg; die Zollrolle von 1821 bildete in Form
und Einrichtung die Grundlage für alle späteren Tarife des Zollvereins.

Derweil der Staatsrath diese Reform zum Abschluß brachte, erging
sich die unreife nationalökonomische Bildung der Zeit in widersprechenden
Klagen. Die Massen meinten die Vertheuerung des Lebensunterhalts
nicht ertragen zu können, die Fabrikanten sahen "dem englischen Handels-
despotismus" Thür und Thor geöffnet und bestürmten den Thron aber-
mals mit so verzweifelten Bittschriften, daß der König, obwohl selbst mit
Maassens Plänen ganz einverstanden, doch eine nochmalige Prüfung des
schon unterschriebenen Gesetzes befahl. Erst am 1. Sept. 1818 wurde das
Zollgesetz veröffentlicht, erst zu Neujahr 1819 traten die neuen Grenz-
zollämter in Thätigkeit. Am 8. Febr. 1819 erschien das ergänzende Gesetz
über die Besteuerung des Consums inländischer Erzeugnisse, wonach nur
Wein, Bier, Branntwein und Tabaksblätter einer Steuer unterlagen, die
ohne unmittelbare Belästigung der Verzehrer von den Producenten zu er-
heben war.

II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.
Adam Smith: ſolche abſtrakte Theorien ſind gut genug für das ſtille Ka-
theder von Glasgow. Erſt das kühne Vorgehen der Berliner Staats-
männer ermuthigte die engliſchen Freihändler mit ihrer Meinung heraus-
zurücken. Auf das „glänzende Beiſpiel, welches Preußen der Welt gegeben“,
berief ſich die freihändleriſche Petition der Londoner City, welche Baring
im Mai 1820 dem Parlamente übergab. An Preußen dachte Huskiſſon,
als er ſeinen berühmten Satz aufſtellte: „der Handel iſt nicht Zweck, er
iſt das Mittel, Wohlſtand und Behagen unter den Völkern zu verbreiten“
und ſeinem Volke zurief: „dies Land kann nicht ſtill ſtehen, während andere
Länder vorſchreiten in Bildung und Gewerbefleiß.“

Den freihändleriſchen Anſichten der preußiſchen Staatsmänner genügte
das neue Geſetz nicht völlig. Man ahnte im Finanzminiſterium wohl —
J. G. Hoffmann hat es oft geſtanden — daß der weitaus größte Theil
des Zollertrags allein von den gangbarſten Kolonialwaaren aufgebracht
werden und die Staatskaſſe von anderen Zöllen nur geringen Vortheil
ziehen würde. Aber man ſah auch, daß jedem Steuerſyſteme durch die
Geſinnung der Steuerpflichtigen feſte Schranken gezogen ſind; die öffent-
liche Meinung jener Tage würde der Regierung nie verziehen haben, wenn
ſie den Kaffee beſteuert, den Thee frei gelaſſen hätte. Maaſſen verwarf
jede einſeitige Begünſtigung eines Zweiges der Produktion, er rechnete auf
das Ineinandergreifen von Ackerbau, Gewerbe und Handel und betrachtete
die Schutzzölle nur als einen Nothbehelf um die deutſche Induſtrie all-
mählich zu Kräften kommen zu laſſen. Schon bei der erſten Reviſion des
Tarifs im Jahre 1821 that man einen Schritt weiter im Sinne des
Freihandels, vereinfachte den Tarif und ſetzte mehrere Zölle herab. Wäh-
rend das Geſetz von 1818 für die weſtlichen Provinzen einen eigenen
Tarif mit etwas niedrigeren Sätzen aufgeſtellt hatte, fiel jetzt jeder Unterſchied
zwiſchen den Provinzen hinweg; die Zollrolle von 1821 bildete in Form
und Einrichtung die Grundlage für alle ſpäteren Tarife des Zollvereins.

Derweil der Staatsrath dieſe Reform zum Abſchluß brachte, erging
ſich die unreife nationalökonomiſche Bildung der Zeit in widerſprechenden
Klagen. Die Maſſen meinten die Vertheuerung des Lebensunterhalts
nicht ertragen zu können, die Fabrikanten ſahen „dem engliſchen Handels-
despotismus“ Thür und Thor geöffnet und beſtürmten den Thron aber-
mals mit ſo verzweifelten Bittſchriften, daß der König, obwohl ſelbſt mit
Maaſſens Plänen ganz einverſtanden, doch eine nochmalige Prüfung des
ſchon unterſchriebenen Geſetzes befahl. Erſt am 1. Sept. 1818 wurde das
Zollgeſetz veröffentlicht, erſt zu Neujahr 1819 traten die neuen Grenz-
zollämter in Thätigkeit. Am 8. Febr. 1819 erſchien das ergänzende Geſetz
über die Beſteuerung des Conſums inländiſcher Erzeugniſſe, wonach nur
Wein, Bier, Branntwein und Tabaksblätter einer Steuer unterlagen, die
ohne unmittelbare Beläſtigung der Verzehrer von den Producenten zu er-
heben war.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0230" n="216"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 5. Die Wiederher&#x017F;tellung des preußi&#x017F;chen Staates.</fw><lb/>
Adam Smith: &#x017F;olche ab&#x017F;trakte Theorien &#x017F;ind gut genug für das &#x017F;tille Ka-<lb/>
theder von Glasgow. Er&#x017F;t das kühne Vorgehen der Berliner Staats-<lb/>
männer ermuthigte die engli&#x017F;chen Freihändler mit ihrer Meinung heraus-<lb/>
zurücken. Auf das &#x201E;glänzende Bei&#x017F;piel, welches Preußen der Welt gegeben&#x201C;,<lb/>
berief &#x017F;ich die freihändleri&#x017F;che Petition der Londoner City, welche Baring<lb/>
im Mai 1820 dem Parlamente übergab. An Preußen dachte Huski&#x017F;&#x017F;on,<lb/>
als er &#x017F;einen berühmten Satz auf&#x017F;tellte: &#x201E;der Handel i&#x017F;t nicht Zweck, er<lb/>
i&#x017F;t das Mittel, Wohl&#x017F;tand und Behagen unter den Völkern zu verbreiten&#x201C;<lb/>
und &#x017F;einem Volke zurief: &#x201E;dies Land kann nicht &#x017F;till &#x017F;tehen, während andere<lb/>
Länder vor&#x017F;chreiten in Bildung und Gewerbefleiß.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Den freihändleri&#x017F;chen An&#x017F;ichten der preußi&#x017F;chen Staatsmänner genügte<lb/>
das neue Ge&#x017F;etz nicht völlig. Man ahnte im Finanzmini&#x017F;terium wohl &#x2014;<lb/>
J. G. Hoffmann hat es oft ge&#x017F;tanden &#x2014; daß der weitaus größte Theil<lb/>
des Zollertrags allein von den gangbar&#x017F;ten Kolonialwaaren aufgebracht<lb/>
werden und die Staatska&#x017F;&#x017F;e von anderen Zöllen nur geringen Vortheil<lb/>
ziehen würde. Aber man &#x017F;ah auch, daß jedem Steuer&#x017F;y&#x017F;teme durch die<lb/>
Ge&#x017F;innung der Steuerpflichtigen fe&#x017F;te Schranken gezogen &#x017F;ind; die öffent-<lb/>
liche Meinung jener Tage würde der Regierung nie verziehen haben, wenn<lb/>
&#x017F;ie den Kaffee be&#x017F;teuert, den Thee frei gela&#x017F;&#x017F;en hätte. Maa&#x017F;&#x017F;en verwarf<lb/>
jede ein&#x017F;eitige Begün&#x017F;tigung eines Zweiges der Produktion, er rechnete auf<lb/>
das Ineinandergreifen von Ackerbau, Gewerbe und Handel und betrachtete<lb/>
die Schutzzölle nur als einen Nothbehelf um die deut&#x017F;che Indu&#x017F;trie all-<lb/>
mählich zu Kräften kommen zu la&#x017F;&#x017F;en. Schon bei der er&#x017F;ten Revi&#x017F;ion des<lb/>
Tarifs im Jahre 1821 that man einen Schritt weiter im Sinne des<lb/>
Freihandels, vereinfachte den Tarif und &#x017F;etzte mehrere Zölle herab. Wäh-<lb/>
rend das Ge&#x017F;etz von 1818 für die we&#x017F;tlichen Provinzen einen eigenen<lb/>
Tarif mit etwas niedrigeren Sätzen aufge&#x017F;tellt hatte, fiel jetzt jeder Unter&#x017F;chied<lb/>
zwi&#x017F;chen den Provinzen hinweg; die Zollrolle von 1821 bildete in Form<lb/>
und Einrichtung die Grundlage für alle &#x017F;päteren Tarife des Zollvereins.</p><lb/>
          <p>Derweil der Staatsrath die&#x017F;e Reform zum Ab&#x017F;chluß brachte, erging<lb/>
&#x017F;ich die unreife nationalökonomi&#x017F;che Bildung der Zeit in wider&#x017F;prechenden<lb/>
Klagen. Die Ma&#x017F;&#x017F;en meinten die Vertheuerung des Lebensunterhalts<lb/>
nicht ertragen zu können, die Fabrikanten &#x017F;ahen &#x201E;dem engli&#x017F;chen Handels-<lb/>
despotismus&#x201C; Thür und Thor geöffnet und be&#x017F;türmten den Thron aber-<lb/>
mals mit &#x017F;o verzweifelten Bitt&#x017F;chriften, daß der König, obwohl &#x017F;elb&#x017F;t mit<lb/>
Maa&#x017F;&#x017F;ens Plänen ganz einver&#x017F;tanden, doch eine nochmalige Prüfung des<lb/>
&#x017F;chon unter&#x017F;chriebenen Ge&#x017F;etzes befahl. Er&#x017F;t am 1. Sept. 1818 wurde das<lb/>
Zollge&#x017F;etz veröffentlicht, er&#x017F;t zu Neujahr 1819 traten die neuen Grenz-<lb/>
zollämter in Thätigkeit. Am 8. Febr. 1819 er&#x017F;chien das ergänzende Ge&#x017F;etz<lb/>
über die Be&#x017F;teuerung des Con&#x017F;ums inländi&#x017F;cher Erzeugni&#x017F;&#x017F;e, wonach nur<lb/>
Wein, Bier, Branntwein und Tabaksblätter einer Steuer unterlagen, die<lb/>
ohne unmittelbare Belä&#x017F;tigung der Verzehrer von den Producenten zu er-<lb/>
heben war.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[216/0230] II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates. Adam Smith: ſolche abſtrakte Theorien ſind gut genug für das ſtille Ka- theder von Glasgow. Erſt das kühne Vorgehen der Berliner Staats- männer ermuthigte die engliſchen Freihändler mit ihrer Meinung heraus- zurücken. Auf das „glänzende Beiſpiel, welches Preußen der Welt gegeben“, berief ſich die freihändleriſche Petition der Londoner City, welche Baring im Mai 1820 dem Parlamente übergab. An Preußen dachte Huskiſſon, als er ſeinen berühmten Satz aufſtellte: „der Handel iſt nicht Zweck, er iſt das Mittel, Wohlſtand und Behagen unter den Völkern zu verbreiten“ und ſeinem Volke zurief: „dies Land kann nicht ſtill ſtehen, während andere Länder vorſchreiten in Bildung und Gewerbefleiß.“ Den freihändleriſchen Anſichten der preußiſchen Staatsmänner genügte das neue Geſetz nicht völlig. Man ahnte im Finanzminiſterium wohl — J. G. Hoffmann hat es oft geſtanden — daß der weitaus größte Theil des Zollertrags allein von den gangbarſten Kolonialwaaren aufgebracht werden und die Staatskaſſe von anderen Zöllen nur geringen Vortheil ziehen würde. Aber man ſah auch, daß jedem Steuerſyſteme durch die Geſinnung der Steuerpflichtigen feſte Schranken gezogen ſind; die öffent- liche Meinung jener Tage würde der Regierung nie verziehen haben, wenn ſie den Kaffee beſteuert, den Thee frei gelaſſen hätte. Maaſſen verwarf jede einſeitige Begünſtigung eines Zweiges der Produktion, er rechnete auf das Ineinandergreifen von Ackerbau, Gewerbe und Handel und betrachtete die Schutzzölle nur als einen Nothbehelf um die deutſche Induſtrie all- mählich zu Kräften kommen zu laſſen. Schon bei der erſten Reviſion des Tarifs im Jahre 1821 that man einen Schritt weiter im Sinne des Freihandels, vereinfachte den Tarif und ſetzte mehrere Zölle herab. Wäh- rend das Geſetz von 1818 für die weſtlichen Provinzen einen eigenen Tarif mit etwas niedrigeren Sätzen aufgeſtellt hatte, fiel jetzt jeder Unterſchied zwiſchen den Provinzen hinweg; die Zollrolle von 1821 bildete in Form und Einrichtung die Grundlage für alle ſpäteren Tarife des Zollvereins. Derweil der Staatsrath dieſe Reform zum Abſchluß brachte, erging ſich die unreife nationalökonomiſche Bildung der Zeit in widerſprechenden Klagen. Die Maſſen meinten die Vertheuerung des Lebensunterhalts nicht ertragen zu können, die Fabrikanten ſahen „dem engliſchen Handels- despotismus“ Thür und Thor geöffnet und beſtürmten den Thron aber- mals mit ſo verzweifelten Bittſchriften, daß der König, obwohl ſelbſt mit Maaſſens Plänen ganz einverſtanden, doch eine nochmalige Prüfung des ſchon unterſchriebenen Geſetzes befahl. Erſt am 1. Sept. 1818 wurde das Zollgeſetz veröffentlicht, erſt zu Neujahr 1819 traten die neuen Grenz- zollämter in Thätigkeit. Am 8. Febr. 1819 erſchien das ergänzende Geſetz über die Beſteuerung des Conſums inländiſcher Erzeugniſſe, wonach nur Wein, Bier, Branntwein und Tabaksblätter einer Steuer unterlagen, die ohne unmittelbare Beläſtigung der Verzehrer von den Producenten zu er- heben war.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/230
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/230>, abgerufen am 22.11.2024.