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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Der Staatsrath.
währten noch lange fort. Der dicht bei Potsdam gelegene sächsische Amts-
bezirk Belzig verlangte stürmisch, beim Wittenberger Kreise zu bleiben;
sämmtliche Grundbesitzer des Eichsfeldes forderten als ein verbrieftes Recht,
daß ein eichsfeldisches Oberlandesgericht in Heiligenstadt gegründet werde.
Noch drei Jahre später sprach einer der ersten Grundbesitzer des Landes,
Graf Schulenburg gegen den Minister Klewiz die Erwartung aus, daß
die altsächsischen Gebiete sämmtlich zu einer Provinz vereinigt würden,
sonst werde "diese Wunde ewig bluten"; und bis zum heutigen Tage fühlt
sich die Stadt Görlitz als eine oberlausitzische, nicht als eine schlesische
Stadt. In der That war die Provinz Sachsen der einzige völlig künst-
liche unter den neuen großen Verwaltungsbezirken. Während bei der
Bildung aller anderen Provinzen umsichtige Schonung der Interessen und
Erinnerungen waltete und jede von ihnen einen ausgeprägten Stammes-
charakter zeigte, wurde hier, Dank der unglücklichen Halbheit der Wiener
Congreßbeschlüsse, manches althistorische Band gewaltsam zerrissen, thürin-
gische, ober- und niedersächsische Stammesart willkürlich zusammengezwängt.
Und doch ward auch hier durch die ausdauernde Geduld, die Pflichttreue
und Gerechtigkeit des Beamtenthums die Wildniß allmählich gerodet, die
feindselige Bevölkerung zu einem gesunden Gemeingeist erzogen. Es war die
Idee der praktischen deutschen Einheit, die in einem täglich und stündlich er-
neuerten Kampfe sich durchsetzte gegen die Trümmer des Particularismus. --

Sobald die Verwaltung der Provinzen sich etwas befestigt hatte nahm
Hardenberg die so lange unterbrochene Arbeit der Gesetzgebung wieder auf.
Durch die Verordnung vom 20. März 1817 wurde die seit dem Jahre 1808
wiederholt verheißene höchste berathende Behörde der Monarchie, der Staats-
rath, endlich eingerichtet, allerdings mit geringeren Befugnissen, als Stein
ihr einst zugedacht hatte. Der Berathung des Staatsraths unterlagen
alle Gesetzentwürfe sowie die allgemeinen Verwaltungsgrundsätze, desgleichen
die Streitigkeiten über den Wirkungskreis der Ministerien, die Entsetzung
der Beamten, und alle die Beschwerden der Unterthanen, welche der König
ihm zuwies, so daß die leicht zu mißbrauchende Macht der neuen Fach-
minister jetzt eine wirksame Schranke fand. Den Vorsitz übernahm der
König selbst oder der Staatskanzler, die formelle Leitung der Geschäfte der
neue Minister-Staatssekretär v. Klewiz. Mitglieder waren: die königlichen
Prinzen, die Minister und die Chefs der anderen selbständigen Central-
behörden, die Feldmarschälle, die commandirenden Generale und die Ober-
präsidenten, endlich vierunddreißig durch das Vertrauen des Königs be-
rufene Männer aus allen Zweigen des öffentlichen Dienstes -- die besten
Kräfte des Beamtenthums, sehr Wenige darunter, die nicht irgendwie über
die Mittelmäßigkeit herausragten. Von den namhaften Staatsmännern
hatte man nur zwei übergangen, deren Schroffheit dem Staatskanzler be-
drohlich schien: Stein und den hochconservativen alten Minister Voß-
Buch. Die beiden Kirchen waren durch die Bischöfe Sack und Spiegel,

Der Staatsrath.
währten noch lange fort. Der dicht bei Potsdam gelegene ſächſiſche Amts-
bezirk Belzig verlangte ſtürmiſch, beim Wittenberger Kreiſe zu bleiben;
ſämmtliche Grundbeſitzer des Eichsfeldes forderten als ein verbrieftes Recht,
daß ein eichsfeldiſches Oberlandesgericht in Heiligenſtadt gegründet werde.
Noch drei Jahre ſpäter ſprach einer der erſten Grundbeſitzer des Landes,
Graf Schulenburg gegen den Miniſter Klewiz die Erwartung aus, daß
die altſächſiſchen Gebiete ſämmtlich zu einer Provinz vereinigt würden,
ſonſt werde „dieſe Wunde ewig bluten“; und bis zum heutigen Tage fühlt
ſich die Stadt Görlitz als eine oberlauſitziſche, nicht als eine ſchleſiſche
Stadt. In der That war die Provinz Sachſen der einzige völlig künſt-
liche unter den neuen großen Verwaltungsbezirken. Während bei der
Bildung aller anderen Provinzen umſichtige Schonung der Intereſſen und
Erinnerungen waltete und jede von ihnen einen ausgeprägten Stammes-
charakter zeigte, wurde hier, Dank der unglücklichen Halbheit der Wiener
Congreßbeſchlüſſe, manches althiſtoriſche Band gewaltſam zerriſſen, thürin-
giſche, ober- und niederſächſiſche Stammesart willkürlich zuſammengezwängt.
Und doch ward auch hier durch die ausdauernde Geduld, die Pflichttreue
und Gerechtigkeit des Beamtenthums die Wildniß allmählich gerodet, die
feindſelige Bevölkerung zu einem geſunden Gemeingeiſt erzogen. Es war die
Idee der praktiſchen deutſchen Einheit, die in einem täglich und ſtündlich er-
neuerten Kampfe ſich durchſetzte gegen die Trümmer des Particularismus. —

Sobald die Verwaltung der Provinzen ſich etwas befeſtigt hatte nahm
Hardenberg die ſo lange unterbrochene Arbeit der Geſetzgebung wieder auf.
Durch die Verordnung vom 20. März 1817 wurde die ſeit dem Jahre 1808
wiederholt verheißene höchſte berathende Behörde der Monarchie, der Staats-
rath, endlich eingerichtet, allerdings mit geringeren Befugniſſen, als Stein
ihr einſt zugedacht hatte. Der Berathung des Staatsraths unterlagen
alle Geſetzentwürfe ſowie die allgemeinen Verwaltungsgrundſätze, desgleichen
die Streitigkeiten über den Wirkungskreis der Miniſterien, die Entſetzung
der Beamten, und alle die Beſchwerden der Unterthanen, welche der König
ihm zuwies, ſo daß die leicht zu mißbrauchende Macht der neuen Fach-
miniſter jetzt eine wirkſame Schranke fand. Den Vorſitz übernahm der
König ſelbſt oder der Staatskanzler, die formelle Leitung der Geſchäfte der
neue Miniſter-Staatsſekretär v. Klewiz. Mitglieder waren: die königlichen
Prinzen, die Miniſter und die Chefs der anderen ſelbſtändigen Central-
behörden, die Feldmarſchälle, die commandirenden Generale und die Ober-
präſidenten, endlich vierunddreißig durch das Vertrauen des Königs be-
rufene Männer aus allen Zweigen des öffentlichen Dienſtes — die beſten
Kräfte des Beamtenthums, ſehr Wenige darunter, die nicht irgendwie über
die Mittelmäßigkeit herausragten. Von den namhaften Staatsmännern
hatte man nur zwei übergangen, deren Schroffheit dem Staatskanzler be-
drohlich ſchien: Stein und den hochconſervativen alten Miniſter Voß-
Buch. Die beiden Kirchen waren durch die Biſchöfe Sack und Spiegel,

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[197/0211] Der Staatsrath. währten noch lange fort. Der dicht bei Potsdam gelegene ſächſiſche Amts- bezirk Belzig verlangte ſtürmiſch, beim Wittenberger Kreiſe zu bleiben; ſämmtliche Grundbeſitzer des Eichsfeldes forderten als ein verbrieftes Recht, daß ein eichsfeldiſches Oberlandesgericht in Heiligenſtadt gegründet werde. Noch drei Jahre ſpäter ſprach einer der erſten Grundbeſitzer des Landes, Graf Schulenburg gegen den Miniſter Klewiz die Erwartung aus, daß die altſächſiſchen Gebiete ſämmtlich zu einer Provinz vereinigt würden, ſonſt werde „dieſe Wunde ewig bluten“; und bis zum heutigen Tage fühlt ſich die Stadt Görlitz als eine oberlauſitziſche, nicht als eine ſchleſiſche Stadt. In der That war die Provinz Sachſen der einzige völlig künſt- liche unter den neuen großen Verwaltungsbezirken. Während bei der Bildung aller anderen Provinzen umſichtige Schonung der Intereſſen und Erinnerungen waltete und jede von ihnen einen ausgeprägten Stammes- charakter zeigte, wurde hier, Dank der unglücklichen Halbheit der Wiener Congreßbeſchlüſſe, manches althiſtoriſche Band gewaltſam zerriſſen, thürin- giſche, ober- und niederſächſiſche Stammesart willkürlich zuſammengezwängt. Und doch ward auch hier durch die ausdauernde Geduld, die Pflichttreue und Gerechtigkeit des Beamtenthums die Wildniß allmählich gerodet, die feindſelige Bevölkerung zu einem geſunden Gemeingeiſt erzogen. Es war die Idee der praktiſchen deutſchen Einheit, die in einem täglich und ſtündlich er- neuerten Kampfe ſich durchſetzte gegen die Trümmer des Particularismus. — Sobald die Verwaltung der Provinzen ſich etwas befeſtigt hatte nahm Hardenberg die ſo lange unterbrochene Arbeit der Geſetzgebung wieder auf. Durch die Verordnung vom 20. März 1817 wurde die ſeit dem Jahre 1808 wiederholt verheißene höchſte berathende Behörde der Monarchie, der Staats- rath, endlich eingerichtet, allerdings mit geringeren Befugniſſen, als Stein ihr einſt zugedacht hatte. Der Berathung des Staatsraths unterlagen alle Geſetzentwürfe ſowie die allgemeinen Verwaltungsgrundſätze, desgleichen die Streitigkeiten über den Wirkungskreis der Miniſterien, die Entſetzung der Beamten, und alle die Beſchwerden der Unterthanen, welche der König ihm zuwies, ſo daß die leicht zu mißbrauchende Macht der neuen Fach- miniſter jetzt eine wirkſame Schranke fand. Den Vorſitz übernahm der König ſelbſt oder der Staatskanzler, die formelle Leitung der Geſchäfte der neue Miniſter-Staatsſekretär v. Klewiz. Mitglieder waren: die königlichen Prinzen, die Miniſter und die Chefs der anderen ſelbſtändigen Central- behörden, die Feldmarſchälle, die commandirenden Generale und die Ober- präſidenten, endlich vierunddreißig durch das Vertrauen des Königs be- rufene Männer aus allen Zweigen des öffentlichen Dienſtes — die beſten Kräfte des Beamtenthums, ſehr Wenige darunter, die nicht irgendwie über die Mittelmäßigkeit herausragten. Von den namhaften Staatsmännern hatte man nur zwei übergangen, deren Schroffheit dem Staatskanzler be- drohlich ſchien: Stein und den hochconſervativen alten Miniſter Voß- Buch. Die beiden Kirchen waren durch die Biſchöfe Sack und Spiegel,

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/211>, abgerufen am 24.11.2024.