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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Verhandlungen mit Frankreich.
der Revolution, den Bourbonen zu lassen, so daß "das alte Frankreich"
noch immer einen Zuwachs von mehreren hunderttausend Köpfen behielt!
Zwei Tage vorher hatte Talleyrand auch die Rückgabe der Kunstschätze
für unzulässig erklärt, weil sie den Haß des Volks gegen die Bourbonen
steigern müsse. Eine solche Sprache aus dem Munde eines völlig ent-
waffneten Staates erschien doch sogar den Briten und den Russen un-
erträglich. Wellington, der früher die Rückforderung der Kunstschätze
bedenklich gefunden hatte, meinte jetzt: sie sei nothwendig um den Fran-
zosen "eine große moralische Lection zu geben". Auf Talleyrands Note
erwiderten die vier Mächte schon am folgenden Tage scharf abweisend:
von Eroberungen sei überhaupt nicht die Rede, sondern nur von Maßregeln
für die Sicherheit Europas; wolle der königliche Hof etwa jenen Grund-
satz der Unantastbarkeit der französischen Grenzen wieder aufnehmen, der
unter Napoleon so viel Unglück angerichtet habe? -- Den Deutschen gegen-
über hatten England und Rußland den Grundsatz der Unverletzlichkeit
Frankreichs soeben erst salbungsvoll vertheidigt; jetzt gaben sie ihn wie-
der auf.

In den Tuilerien verbreitete diese Antwort tiefe Bestürzung. König
Ludwig versuchte noch einmal persönlich einen Sturm auf das erregbare
Gemüth des Czaren. "In der Bitterniß meines Herzens -- so schrieb
er am 23. Septbr. -- nehme ich meine Zuflucht zu E. Maj., um Ihnen
hingebend das peinliche Gefühl auszusprechen, das ich beim Durchlesen
der Vorschläge der vier Mächte empfunden habe. Eines vor Allem er-
schüttert mich tief und treibt mich zur Verzweiflung an dem Wohle des
unglücklichen Frankreichs: der niederschmetternde Gedanke, daß E. Maj.,
auf den ich meine Hoffnung gesetzt, die mir übersendete Note gebilligt zu
haben scheint. Ich zögere nicht Ihnen zu versichern, Sire: ich werde
mich weigern das Werkzeug für den Untergang meines Landes zu werden,
und ich werde eher vom Throne niedersteigen als der Befleckung seines
alten Glanzes durch eine beispiellose Erniedrigung zustimmen!" Kaiser
Franz ward gleichzeitig durch ein Handbillet auf dies verzweifelte Schreiben
aufmerksam gemacht; nur den Todfeind, den König von Preußen würdigte
der Bourbone keiner Mittheilung. *) Indeß die angedrohte Abdankung
war doch allzu unwahrscheinlich, das theatralische Pathos des Briefes
stand in einem allzu lächerlichen Mißverhältniß zu der Thatsache, daß
die Verbündeten das alte Frankreich ungestört im Besitze einer erheblichen
Vergrößerung lassen wollten. Selbst der Czar war über den maßlosen
Jammer seines Schützlings befremdet. Ganz unerschütterlich blieb Alex-
ander freilich nicht; er setzte durch, daß von den letzten Forderungen der
Coalition noch ein wenig nachgelassen wurde. Die Verbündeten verzich-

*) König Ludwig an Kaiser Alexander 23. September, an Kaiser Franz 23. Sep-
tember 1815.

Verhandlungen mit Frankreich.
der Revolution, den Bourbonen zu laſſen, ſo daß „das alte Frankreich“
noch immer einen Zuwachs von mehreren hunderttauſend Köpfen behielt!
Zwei Tage vorher hatte Talleyrand auch die Rückgabe der Kunſtſchätze
für unzuläſſig erklärt, weil ſie den Haß des Volks gegen die Bourbonen
ſteigern müſſe. Eine ſolche Sprache aus dem Munde eines völlig ent-
waffneten Staates erſchien doch ſogar den Briten und den Ruſſen un-
erträglich. Wellington, der früher die Rückforderung der Kunſtſchätze
bedenklich gefunden hatte, meinte jetzt: ſie ſei nothwendig um den Fran-
zoſen „eine große moraliſche Lection zu geben“. Auf Talleyrands Note
erwiderten die vier Mächte ſchon am folgenden Tage ſcharf abweiſend:
von Eroberungen ſei überhaupt nicht die Rede, ſondern nur von Maßregeln
für die Sicherheit Europas; wolle der königliche Hof etwa jenen Grund-
ſatz der Unantaſtbarkeit der franzöſiſchen Grenzen wieder aufnehmen, der
unter Napoleon ſo viel Unglück angerichtet habe? — Den Deutſchen gegen-
über hatten England und Rußland den Grundſatz der Unverletzlichkeit
Frankreichs ſoeben erſt ſalbungsvoll vertheidigt; jetzt gaben ſie ihn wie-
der auf.

In den Tuilerien verbreitete dieſe Antwort tiefe Beſtürzung. König
Ludwig verſuchte noch einmal perſönlich einen Sturm auf das erregbare
Gemüth des Czaren. „In der Bitterniß meines Herzens — ſo ſchrieb
er am 23. Septbr. — nehme ich meine Zuflucht zu E. Maj., um Ihnen
hingebend das peinliche Gefühl auszuſprechen, das ich beim Durchleſen
der Vorſchläge der vier Mächte empfunden habe. Eines vor Allem er-
ſchüttert mich tief und treibt mich zur Verzweiflung an dem Wohle des
unglücklichen Frankreichs: der niederſchmetternde Gedanke, daß E. Maj.,
auf den ich meine Hoffnung geſetzt, die mir überſendete Note gebilligt zu
haben ſcheint. Ich zögere nicht Ihnen zu verſichern, Sire: ich werde
mich weigern das Werkzeug für den Untergang meines Landes zu werden,
und ich werde eher vom Throne niederſteigen als der Befleckung ſeines
alten Glanzes durch eine beiſpielloſe Erniedrigung zuſtimmen!“ Kaiſer
Franz ward gleichzeitig durch ein Handbillet auf dies verzweifelte Schreiben
aufmerkſam gemacht; nur den Todfeind, den König von Preußen würdigte
der Bourbone keiner Mittheilung. *) Indeß die angedrohte Abdankung
war doch allzu unwahrſcheinlich, das theatraliſche Pathos des Briefes
ſtand in einem allzu lächerlichen Mißverhältniß zu der Thatſache, daß
die Verbündeten das alte Frankreich ungeſtört im Beſitze einer erheblichen
Vergrößerung laſſen wollten. Selbſt der Czar war über den maßloſen
Jammer ſeines Schützlings befremdet. Ganz unerſchütterlich blieb Alex-
ander freilich nicht; er ſetzte durch, daß von den letzten Forderungen der
Coalition noch ein wenig nachgelaſſen wurde. Die Verbündeten verzich-

*) König Ludwig an Kaiſer Alexander 23. September, an Kaiſer Franz 23. Sep-
tember 1815.
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[783/0799] Verhandlungen mit Frankreich. der Revolution, den Bourbonen zu laſſen, ſo daß „das alte Frankreich“ noch immer einen Zuwachs von mehreren hunderttauſend Köpfen behielt! Zwei Tage vorher hatte Talleyrand auch die Rückgabe der Kunſtſchätze für unzuläſſig erklärt, weil ſie den Haß des Volks gegen die Bourbonen ſteigern müſſe. Eine ſolche Sprache aus dem Munde eines völlig ent- waffneten Staates erſchien doch ſogar den Briten und den Ruſſen un- erträglich. Wellington, der früher die Rückforderung der Kunſtſchätze bedenklich gefunden hatte, meinte jetzt: ſie ſei nothwendig um den Fran- zoſen „eine große moraliſche Lection zu geben“. Auf Talleyrands Note erwiderten die vier Mächte ſchon am folgenden Tage ſcharf abweiſend: von Eroberungen ſei überhaupt nicht die Rede, ſondern nur von Maßregeln für die Sicherheit Europas; wolle der königliche Hof etwa jenen Grund- ſatz der Unantaſtbarkeit der franzöſiſchen Grenzen wieder aufnehmen, der unter Napoleon ſo viel Unglück angerichtet habe? — Den Deutſchen gegen- über hatten England und Rußland den Grundſatz der Unverletzlichkeit Frankreichs ſoeben erſt ſalbungsvoll vertheidigt; jetzt gaben ſie ihn wie- der auf. In den Tuilerien verbreitete dieſe Antwort tiefe Beſtürzung. König Ludwig verſuchte noch einmal perſönlich einen Sturm auf das erregbare Gemüth des Czaren. „In der Bitterniß meines Herzens — ſo ſchrieb er am 23. Septbr. — nehme ich meine Zuflucht zu E. Maj., um Ihnen hingebend das peinliche Gefühl auszuſprechen, das ich beim Durchleſen der Vorſchläge der vier Mächte empfunden habe. Eines vor Allem er- ſchüttert mich tief und treibt mich zur Verzweiflung an dem Wohle des unglücklichen Frankreichs: der niederſchmetternde Gedanke, daß E. Maj., auf den ich meine Hoffnung geſetzt, die mir überſendete Note gebilligt zu haben ſcheint. Ich zögere nicht Ihnen zu verſichern, Sire: ich werde mich weigern das Werkzeug für den Untergang meines Landes zu werden, und ich werde eher vom Throne niederſteigen als der Befleckung ſeines alten Glanzes durch eine beiſpielloſe Erniedrigung zuſtimmen!“ Kaiſer Franz ward gleichzeitig durch ein Handbillet auf dies verzweifelte Schreiben aufmerkſam gemacht; nur den Todfeind, den König von Preußen würdigte der Bourbone keiner Mittheilung. *) Indeß die angedrohte Abdankung war doch allzu unwahrſcheinlich, das theatraliſche Pathos des Briefes ſtand in einem allzu lächerlichen Mißverhältniß zu der Thatſache, daß die Verbündeten das alte Frankreich ungeſtört im Beſitze einer erheblichen Vergrößerung laſſen wollten. Selbſt der Czar war über den maßloſen Jammer ſeines Schützlings befremdet. Ganz unerſchütterlich blieb Alex- ander freilich nicht; er ſetzte durch, daß von den letzten Forderungen der Coalition noch ein wenig nachgelaſſen wurde. Die Verbündeten verzich- *) König Ludwig an Kaiſer Alexander 23. September, an Kaiſer Franz 23. Sep- tember 1815.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 783. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/799>, abgerufen am 22.11.2024.