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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Capodistrias gegen Gneisenau.
mals aus einem Könige von Frankreich ein Opfer zu machen und dem
Königthum eine neue Entheiligung zu bereiten? Das hieße die Sittlich-
keit für immer aus allen politischen Verhandlungen verbannen. Die
Gewalt allein würde dann Grundsatz, Mittel und Zweck der Staatskunst
werden! Frankreich, erniedrigt und durch eine Reihe willkürlicher Maß-
regeln noch mehr sittlich verdorben, müßte sich schließlich in die Arme der
gewaltsamsten Partei werfen. Eine vorübergehende Occupation bietet den
Nachbarn Frankreichs jede Sicherheit, die sie nur wünschen können." Zum
Schluß: "Verkennen wir in einem so entscheidenden Augenblicke nicht den
unwandelbaren Gang der Vorsehung, welche die Sache der Religion, der
Sittlichkeit und Gerechtigkeit nur darum hat straucheln lassen, um ihr
neue Triumphe zu bereiten und um den Fürsten wie den Völkern große
und heilsame Antriebe zu geben!" *)

Als dies Musterstück orientalischer Kanzelberedsamkeit am 5. Sep-
tember den preußischen Staatsmännern überreicht wurde, hatten sie be-
reits ihre letzte Hoffnung auf England aufgeben müssen. Castlereaghs
Bruder Lord Charles Stewart war nach Windsor geeilt und in den letzten
Tagen des August zurückgekehrt mit der frohen Botschaft, daß er den
Einfluß des Grafen Münster überwunden, den Prinzregenten gänzlich
für die Ansicht Castlereaghs und Wellingtons gewonnen habe. Mit er-
höhtem Selbstgefühle durften die Beiden nun vorgehen. Der Herzog er-
widerte (31. August) auf Hardenbergs letzte Denkschrift kurz und scharf:
jede Gebietsabtretung sei unpolitisch und widerrechtlich, weil nicht im Ein-
klange mit der Wiener Erklärung der Verbündeten; die Occupation für
einige Jahre genüge vollauf. **) Castlereagh aber erklärte (2. September),
im Namen des Prinzregenten, Englands volle Zustimmung zu den rus-
sischen Vorschlägen. So war man denn in offener Zwietracht: Rußland
und England versagten sich grundsätzlich jeder Gebietsforderung Preußens;
Oesterreich -- mit seinem schüchternen Verlangen nach Schleifung der
elsassischen Grenzplätze -- stand scheinbar in der Mitte, doch in Wahr-
heit der englisch-russischen Meinung sehr nahe. Sollte dies an Geld und
Truppen erschöpfte Preußen jetzt seine Forderungen mit den Waffen durch-
setzen? Daran war nicht zu denken.

Aber auch der Czar fühlte, daß er seinem besten Alliirten nicht eine
unbedingte, demüthigende Unterwerfung zumuthen durfte, da er doch die
Fortdauer des preußisch-russischen Bündnisses dringend wünschte. Er be-
schloß daher schon am 7. September ein wenig einzulenken, freilich nur
eine winzige Strecke weit, und ließ durch Nesselrode dem Staatskanzler
erklären: Rußland halte zwar wie England unwiderruflich fest an dem
Gedanken der vorübergehenden Occupation (le systeme des garanties

*) Capodistrias, Reponse au memoire du general de Gneisenau, 5. Sept. 1815.
**) Wellingtons Denkschrift an Hardenberg, 31. Aug. 1815.

Capodiſtrias gegen Gneiſenau.
mals aus einem Könige von Frankreich ein Opfer zu machen und dem
Königthum eine neue Entheiligung zu bereiten? Das hieße die Sittlich-
keit für immer aus allen politiſchen Verhandlungen verbannen. Die
Gewalt allein würde dann Grundſatz, Mittel und Zweck der Staatskunſt
werden! Frankreich, erniedrigt und durch eine Reihe willkürlicher Maß-
regeln noch mehr ſittlich verdorben, müßte ſich ſchließlich in die Arme der
gewaltſamſten Partei werfen. Eine vorübergehende Occupation bietet den
Nachbarn Frankreichs jede Sicherheit, die ſie nur wünſchen können.“ Zum
Schluß: „Verkennen wir in einem ſo entſcheidenden Augenblicke nicht den
unwandelbaren Gang der Vorſehung, welche die Sache der Religion, der
Sittlichkeit und Gerechtigkeit nur darum hat ſtraucheln laſſen, um ihr
neue Triumphe zu bereiten und um den Fürſten wie den Völkern große
und heilſame Antriebe zu geben!“ *)

Als dies Muſterſtück orientaliſcher Kanzelberedſamkeit am 5. Sep-
tember den preußiſchen Staatsmännern überreicht wurde, hatten ſie be-
reits ihre letzte Hoffnung auf England aufgeben müſſen. Caſtlereaghs
Bruder Lord Charles Stewart war nach Windſor geeilt und in den letzten
Tagen des Auguſt zurückgekehrt mit der frohen Botſchaft, daß er den
Einfluß des Grafen Münſter überwunden, den Prinzregenten gänzlich
für die Anſicht Caſtlereaghs und Wellingtons gewonnen habe. Mit er-
höhtem Selbſtgefühle durften die Beiden nun vorgehen. Der Herzog er-
widerte (31. Auguſt) auf Hardenbergs letzte Denkſchrift kurz und ſcharf:
jede Gebietsabtretung ſei unpolitiſch und widerrechtlich, weil nicht im Ein-
klange mit der Wiener Erklärung der Verbündeten; die Occupation für
einige Jahre genüge vollauf. **) Caſtlereagh aber erklärte (2. September),
im Namen des Prinzregenten, Englands volle Zuſtimmung zu den ruſ-
ſiſchen Vorſchlägen. So war man denn in offener Zwietracht: Rußland
und England verſagten ſich grundſätzlich jeder Gebietsforderung Preußens;
Oeſterreich — mit ſeinem ſchüchternen Verlangen nach Schleifung der
elſaſſiſchen Grenzplätze — ſtand ſcheinbar in der Mitte, doch in Wahr-
heit der engliſch-ruſſiſchen Meinung ſehr nahe. Sollte dies an Geld und
Truppen erſchöpfte Preußen jetzt ſeine Forderungen mit den Waffen durch-
ſetzen? Daran war nicht zu denken.

Aber auch der Czar fühlte, daß er ſeinem beſten Alliirten nicht eine
unbedingte, demüthigende Unterwerfung zumuthen durfte, da er doch die
Fortdauer des preußiſch-ruſſiſchen Bündniſſes dringend wünſchte. Er be-
ſchloß daher ſchon am 7. September ein wenig einzulenken, freilich nur
eine winzige Strecke weit, und ließ durch Neſſelrode dem Staatskanzler
erklären: Rußland halte zwar wie England unwiderruflich feſt an dem
Gedanken der vorübergehenden Occupation (le système des garanties

*) Capodiſtrias, Réponse au mémoire du général de Gneisenau, 5. Sept. 1815.
**) Wellingtons Denkſchrift an Hardenberg, 31. Aug. 1815.
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[779/0795] Capodiſtrias gegen Gneiſenau. mals aus einem Könige von Frankreich ein Opfer zu machen und dem Königthum eine neue Entheiligung zu bereiten? Das hieße die Sittlich- keit für immer aus allen politiſchen Verhandlungen verbannen. Die Gewalt allein würde dann Grundſatz, Mittel und Zweck der Staatskunſt werden! Frankreich, erniedrigt und durch eine Reihe willkürlicher Maß- regeln noch mehr ſittlich verdorben, müßte ſich ſchließlich in die Arme der gewaltſamſten Partei werfen. Eine vorübergehende Occupation bietet den Nachbarn Frankreichs jede Sicherheit, die ſie nur wünſchen können.“ Zum Schluß: „Verkennen wir in einem ſo entſcheidenden Augenblicke nicht den unwandelbaren Gang der Vorſehung, welche die Sache der Religion, der Sittlichkeit und Gerechtigkeit nur darum hat ſtraucheln laſſen, um ihr neue Triumphe zu bereiten und um den Fürſten wie den Völkern große und heilſame Antriebe zu geben!“ *) Als dies Muſterſtück orientaliſcher Kanzelberedſamkeit am 5. Sep- tember den preußiſchen Staatsmännern überreicht wurde, hatten ſie be- reits ihre letzte Hoffnung auf England aufgeben müſſen. Caſtlereaghs Bruder Lord Charles Stewart war nach Windſor geeilt und in den letzten Tagen des Auguſt zurückgekehrt mit der frohen Botſchaft, daß er den Einfluß des Grafen Münſter überwunden, den Prinzregenten gänzlich für die Anſicht Caſtlereaghs und Wellingtons gewonnen habe. Mit er- höhtem Selbſtgefühle durften die Beiden nun vorgehen. Der Herzog er- widerte (31. Auguſt) auf Hardenbergs letzte Denkſchrift kurz und ſcharf: jede Gebietsabtretung ſei unpolitiſch und widerrechtlich, weil nicht im Ein- klange mit der Wiener Erklärung der Verbündeten; die Occupation für einige Jahre genüge vollauf. **) Caſtlereagh aber erklärte (2. September), im Namen des Prinzregenten, Englands volle Zuſtimmung zu den ruſ- ſiſchen Vorſchlägen. So war man denn in offener Zwietracht: Rußland und England verſagten ſich grundſätzlich jeder Gebietsforderung Preußens; Oeſterreich — mit ſeinem ſchüchternen Verlangen nach Schleifung der elſaſſiſchen Grenzplätze — ſtand ſcheinbar in der Mitte, doch in Wahr- heit der engliſch-ruſſiſchen Meinung ſehr nahe. Sollte dies an Geld und Truppen erſchöpfte Preußen jetzt ſeine Forderungen mit den Waffen durch- ſetzen? Daran war nicht zu denken. Aber auch der Czar fühlte, daß er ſeinem beſten Alliirten nicht eine unbedingte, demüthigende Unterwerfung zumuthen durfte, da er doch die Fortdauer des preußiſch-ruſſiſchen Bündniſſes dringend wünſchte. Er be- ſchloß daher ſchon am 7. September ein wenig einzulenken, freilich nur eine winzige Strecke weit, und ließ durch Neſſelrode dem Staatskanzler erklären: Rußland halte zwar wie England unwiderruflich feſt an dem Gedanken der vorübergehenden Occupation (le système des garanties *) Capodiſtrias, Réponse au mémoire du général de Gneisenau, 5. Sept. 1815. **) Wellingtons Denkſchrift an Hardenberg, 31. Aug. 1815.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 779. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/795>, abgerufen am 25.11.2024.