schwunden. Die neue Bundesacte wußte gar nichts mehr von einem deutschen Volke; sie kannte nur Baiern, Waldecker, Schwarzburg-Sonders- hausener, Unterthanen jener deutschen Fürsten, welche nach Gefallen zu einem völkerrechtlichen Vereine zusammengetreten waren. Die Nation mußte den Becher der Demüthigung bis zur Hefe leeren; jene württem- bergische Mahnung: "man werde doch nicht aus verschiedenen Völker- schaften sozusagen eine Nation bilden wollen" hatte vollständig Recht be- halten. Die Deutschen standen außer jeder Beziehung zu der Bundes- gewalt, waren nicht einmal verpflichtet ihr zu gehorchen; nur wenn ein Souverän einen Bundesbeschluß als Landesgesetz zu verkündigen geruhte, mußten seine Unterthanen diesem Landesgesetze sich fügen. Die Nation war mediatisirt durch einen Fürstenbund. Wie die Revolution von 1803 so ward auch diese neue Verfassung Deutschlands ausschließlich durch die Dynastien geschaffen.
Der neue Bundestag war der Regensburger Reichstag in etwas modernerer Gestalt, ganz ebenso schwerfällig und unbrauchbar; daß er bald als engerer Rath bald als Plenum tagte, war eine leere Förmlichkeit, da auch im engeren Rathe alle Neununddreißig mitstimmten. Der Wider- spruch zwischen dem formalen Rechte und der lebendigen Macht trat im Deutschen Bunde sogar noch greller hervor als im heiligen Reiche. Der durch den Genuß der Souveränität aufgestachelte Dünkel der kleinen Kronen bewirkte in Wien eine Stimmenvertheilung, welche alle Unge- heuerlichkeiten des alten Reichsrechts weitaus überbot und nun ihrerseits dazu half jenen Dünkel bis zum Wahnsinn zu steigern. Eine gewisse Bevorzugung der kleinen Bundesglieder liegt im Wesen jeder Foederativ- verfassung; das aber ging doch über jedes Maß erlaubter Unbilligkeit hinaus, daß im Plenum des Bundestags die sieben größten Staaten, Oesterreich, die Königreiche und Baden, die zusammen mehr als fünf Sechstel des deutschen Volks umfaßten, mit nur 27 Stimmen die Min- derheit bildeten neben den 42 Stimmen des letzten Sechstels. Das hieß die großen Staaten geradezu auffordern zur Umgehung der Bundesbe- schlüsse oder zur gewaltsamen Einschüchterung der kleinen Genossen. Und dazu jenes Geschenk der Krone Sachsen, die Einstimmigkeit für alle wich- tigen Beschlüsse -- eine Vorschrift die im heiligen Reiche nur für Reli- gionssachen und jura singulorum gegolten hatte. Jetzt konnte Reuß jüngerer Linie jede Entwicklung des Bundes verbieten. Diese Fortbildung ward aber vollends unmöglich gemacht durch die Begründung der land- ständischen Verfassungen. Denn sollte der Bund irgend welches Leben gewinnen, so mußte er zunächst die Militärgewalt und die auswärtige Politik der Bundesstaaten zu beschränken suchen; dies waren aber gerade die einzigen Kronrechte welche nach Einführung der Landstände den Klein- fürsten noch ungeschmälert verblieben, ein freiwilliger Verzicht darauf stand mithin ganz außer Frage.
II. 1. Der Wiener Congreß.
ſchwunden. Die neue Bundesacte wußte gar nichts mehr von einem deutſchen Volke; ſie kannte nur Baiern, Waldecker, Schwarzburg-Sonders- hauſener, Unterthanen jener deutſchen Fürſten, welche nach Gefallen zu einem völkerrechtlichen Vereine zuſammengetreten waren. Die Nation mußte den Becher der Demüthigung bis zur Hefe leeren; jene württem- bergiſche Mahnung: „man werde doch nicht aus verſchiedenen Völker- ſchaften ſozuſagen eine Nation bilden wollen“ hatte vollſtändig Recht be- halten. Die Deutſchen ſtanden außer jeder Beziehung zu der Bundes- gewalt, waren nicht einmal verpflichtet ihr zu gehorchen; nur wenn ein Souverän einen Bundesbeſchluß als Landesgeſetz zu verkündigen geruhte, mußten ſeine Unterthanen dieſem Landesgeſetze ſich fügen. Die Nation war mediatiſirt durch einen Fürſtenbund. Wie die Revolution von 1803 ſo ward auch dieſe neue Verfaſſung Deutſchlands ausſchließlich durch die Dynaſtien geſchaffen.
Der neue Bundestag war der Regensburger Reichstag in etwas modernerer Geſtalt, ganz ebenſo ſchwerfällig und unbrauchbar; daß er bald als engerer Rath bald als Plenum tagte, war eine leere Förmlichkeit, da auch im engeren Rathe alle Neununddreißig mitſtimmten. Der Wider- ſpruch zwiſchen dem formalen Rechte und der lebendigen Macht trat im Deutſchen Bunde ſogar noch greller hervor als im heiligen Reiche. Der durch den Genuß der Souveränität aufgeſtachelte Dünkel der kleinen Kronen bewirkte in Wien eine Stimmenvertheilung, welche alle Unge- heuerlichkeiten des alten Reichsrechts weitaus überbot und nun ihrerſeits dazu half jenen Dünkel bis zum Wahnſinn zu ſteigern. Eine gewiſſe Bevorzugung der kleinen Bundesglieder liegt im Weſen jeder Foederativ- verfaſſung; das aber ging doch über jedes Maß erlaubter Unbilligkeit hinaus, daß im Plenum des Bundestags die ſieben größten Staaten, Oeſterreich, die Königreiche und Baden, die zuſammen mehr als fünf Sechſtel des deutſchen Volks umfaßten, mit nur 27 Stimmen die Min- derheit bildeten neben den 42 Stimmen des letzten Sechſtels. Das hieß die großen Staaten geradezu auffordern zur Umgehung der Bundesbe- ſchlüſſe oder zur gewaltſamen Einſchüchterung der kleinen Genoſſen. Und dazu jenes Geſchenk der Krone Sachſen, die Einſtimmigkeit für alle wich- tigen Beſchlüſſe — eine Vorſchrift die im heiligen Reiche nur für Reli- gionsſachen und jura singulorum gegolten hatte. Jetzt konnte Reuß jüngerer Linie jede Entwicklung des Bundes verbieten. Dieſe Fortbildung ward aber vollends unmöglich gemacht durch die Begründung der land- ſtändiſchen Verfaſſungen. Denn ſollte der Bund irgend welches Leben gewinnen, ſo mußte er zunächſt die Militärgewalt und die auswärtige Politik der Bundesſtaaten zu beſchränken ſuchen; dies waren aber gerade die einzigen Kronrechte welche nach Einführung der Landſtände den Klein- fürſten noch ungeſchmälert verblieben, ein freiwilliger Verzicht darauf ſtand mithin ganz außer Frage.
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II. 1. Der Wiener Congreß.
ſchwunden. Die neue Bundesacte wußte gar nichts mehr von einem
deutſchen Volke; ſie kannte nur Baiern, Waldecker, Schwarzburg-Sonders-
hauſener, Unterthanen jener deutſchen Fürſten, welche nach Gefallen zu
einem völkerrechtlichen Vereine zuſammengetreten waren. Die Nation
mußte den Becher der Demüthigung bis zur Hefe leeren; jene württem-
bergiſche Mahnung: „man werde doch nicht aus verſchiedenen Völker-
ſchaften ſozuſagen eine Nation bilden wollen“ hatte vollſtändig Recht be-
halten. Die Deutſchen ſtanden außer jeder Beziehung zu der Bundes-
gewalt, waren nicht einmal verpflichtet ihr zu gehorchen; nur wenn ein
Souverän einen Bundesbeſchluß als Landesgeſetz zu verkündigen geruhte,
mußten ſeine Unterthanen dieſem Landesgeſetze ſich fügen. Die Nation war
mediatiſirt durch einen Fürſtenbund. Wie die Revolution von 1803 ſo
ward auch dieſe neue Verfaſſung Deutſchlands ausſchließlich durch die
Dynaſtien geſchaffen.
Der neue Bundestag war der Regensburger Reichstag in etwas
modernerer Geſtalt, ganz ebenſo ſchwerfällig und unbrauchbar; daß er bald
als engerer Rath bald als Plenum tagte, war eine leere Förmlichkeit, da
auch im engeren Rathe alle Neununddreißig mitſtimmten. Der Wider-
ſpruch zwiſchen dem formalen Rechte und der lebendigen Macht trat im
Deutſchen Bunde ſogar noch greller hervor als im heiligen Reiche. Der
durch den Genuß der Souveränität aufgeſtachelte Dünkel der kleinen
Kronen bewirkte in Wien eine Stimmenvertheilung, welche alle Unge-
heuerlichkeiten des alten Reichsrechts weitaus überbot und nun ihrerſeits
dazu half jenen Dünkel bis zum Wahnſinn zu ſteigern. Eine gewiſſe
Bevorzugung der kleinen Bundesglieder liegt im Weſen jeder Foederativ-
verfaſſung; das aber ging doch über jedes Maß erlaubter Unbilligkeit
hinaus, daß im Plenum des Bundestags die ſieben größten Staaten,
Oeſterreich, die Königreiche und Baden, die zuſammen mehr als fünf
Sechſtel des deutſchen Volks umfaßten, mit nur 27 Stimmen die Min-
derheit bildeten neben den 42 Stimmen des letzten Sechſtels. Das hieß
die großen Staaten geradezu auffordern zur Umgehung der Bundesbe-
ſchlüſſe oder zur gewaltſamen Einſchüchterung der kleinen Genoſſen. Und
dazu jenes Geſchenk der Krone Sachſen, die Einſtimmigkeit für alle wich-
tigen Beſchlüſſe — eine Vorſchrift die im heiligen Reiche nur für Reli-
gionsſachen und jura singulorum gegolten hatte. Jetzt konnte Reuß
jüngerer Linie jede Entwicklung des Bundes verbieten. Dieſe Fortbildung
ward aber vollends unmöglich gemacht durch die Begründung der land-
ſtändiſchen Verfaſſungen. Denn ſollte der Bund irgend welches Leben
gewinnen, ſo mußte er zunächſt die Militärgewalt und die auswärtige
Politik der Bundesſtaaten zu beſchränken ſuchen; dies waren aber gerade
die einzigen Kronrechte welche nach Einführung der Landſtände den Klein-
fürſten noch ungeſchmälert verblieben, ein freiwilliger Verzicht darauf ſtand
mithin ganz außer Frage.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 706. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/722>, abgerufen am 22.11.2024.
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