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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 1. Der Wiener Congreß.
und sein russischer Gehilfe, daß eine monarchische Spitze kräftiger sei als
eine collegialische. Ebenso unwiderleglich erwies Humboldt die Unfähigkeit
Oesterreichs diese monarchische Macht zum Heile der Nation zu gebrauchen:
"Deutschland widerstrebt jener österreichischen Unbeweglichkeit, für welche
die Erfahrung nichts ist und die Jahrhunderte spurlos vorübergehen."
Die Nothwendigkeit des preußischen Kaiserthums, die sich aus diesem Für
und Wider von selber zu ergeben schien, konnte, wie die Lage war, noch
nicht erkannt werden; saßen doch die Lothringer wieder so fest im germa-
nischen Sattel, daß sie zuweilen schon daran dachten Preußen ganz vom
Rücken des deutschen Rosses herunterzuwerfen! Das Ergebniß war, daß
die Kaiserpläne begraben wurden. Humboldt behielt Recht mit seiner trocke-
nen Erklärung: nur ein Bund ist jetzt noch möglich.

Ueber diesem unfruchtbaren Zwischenspiele gingen wieder vier Wochen
verloren, und kaum war es zu Ende, so kam am 7. März die Nach-
richt von Napoleons Rückkehr. Das europäische Kriegsbündniß und die
Rüstungen drängten viele Wochen lang alle anderen Fragen in den Hin-
tergrund. Die deutsche Verfassung schien rettungslos verloren. Auch
der auf Preußens Antrag eingesetzte deutsche Militärausschuß, welchem der
Kronprinz von Württemberg vorsaß, ging unverrichteter Dinge ausein-
ander; mit zorniger Scham verließ Rühle von Lilienstern diese Versamm-
lung, von der er gehofft hatte, sie werde die allgemeine Wehrpflicht für
ganz Deutschland einführen. Desgleichen scheiterten die ebenfalls auf
Preußens Betrieb berufenen Conferenzen über die deutsche Flußschifffahrt;
denn die Welfen fanden es ganz unerhört, daß die rein deutschen Flüsse
derselben Freiheit genießen sollten wie die mehreren europäischen Mächten
gemeinsam angehörigen. Wegwerfend schrieb Münster an den Prinzregen-
ten: Hannover werde sicherlich nicht finanzielle Opfer bringen "um einige
vage Ideen von Handelsfreiheit zu begünstigen". Die ehrenwerthen Män-
ner unter der deutschen Diplomatie überkam ein vernichtendes Gefühl der
Scham. Welch ein Schauspiel bot seit sechs langen Monaten dies Deutsch-
land, das soeben noch die Welt mit seinem Kriegsruhm erfüllt hatte!
Nichts als Zank und Stank, nichts als Neid gegen die Retter der Nation,
und noch immer kein Ende! Der wackere Gersdorff rieth in seiner Her-
zensangst dem Staatskanzler: jetzt könne aus Deutschland doch nichts
Tüchtiges werden, die feindselige Gesinnung von Baiern und Genossen
lasse sich nicht verkennen; besser also, Preußen schließe mit dem Süden
nur eine Allianz, mit den kleinen norddeutschen Staaten aber einen festen
Bund, der für das ganze Vaterland eine bessere Zukunft vorbereiten
könne.*)

Die Mehrzahl der streitigen Gebietsfragen war erledigt, die Monar-
chen rüsteten sich zur Abreise, Alle verlangten ungeduldig nach dem Schluß

*) Gersdorff an Hardenberg, 7. April 1815.

II. 1. Der Wiener Congreß.
und ſein ruſſiſcher Gehilfe, daß eine monarchiſche Spitze kräftiger ſei als
eine collegialiſche. Ebenſo unwiderleglich erwies Humboldt die Unfähigkeit
Oeſterreichs dieſe monarchiſche Macht zum Heile der Nation zu gebrauchen:
„Deutſchland widerſtrebt jener öſterreichiſchen Unbeweglichkeit, für welche
die Erfahrung nichts iſt und die Jahrhunderte ſpurlos vorübergehen.“
Die Nothwendigkeit des preußiſchen Kaiſerthums, die ſich aus dieſem Für
und Wider von ſelber zu ergeben ſchien, konnte, wie die Lage war, noch
nicht erkannt werden; ſaßen doch die Lothringer wieder ſo feſt im germa-
niſchen Sattel, daß ſie zuweilen ſchon daran dachten Preußen ganz vom
Rücken des deutſchen Roſſes herunterzuwerfen! Das Ergebniß war, daß
die Kaiſerpläne begraben wurden. Humboldt behielt Recht mit ſeiner trocke-
nen Erklärung: nur ein Bund iſt jetzt noch möglich.

Ueber dieſem unfruchtbaren Zwiſchenſpiele gingen wieder vier Wochen
verloren, und kaum war es zu Ende, ſo kam am 7. März die Nach-
richt von Napoleons Rückkehr. Das europäiſche Kriegsbündniß und die
Rüſtungen drängten viele Wochen lang alle anderen Fragen in den Hin-
tergrund. Die deutſche Verfaſſung ſchien rettungslos verloren. Auch
der auf Preußens Antrag eingeſetzte deutſche Militärausſchuß, welchem der
Kronprinz von Württemberg vorſaß, ging unverrichteter Dinge ausein-
ander; mit zorniger Scham verließ Rühle von Lilienſtern dieſe Verſamm-
lung, von der er gehofft hatte, ſie werde die allgemeine Wehrpflicht für
ganz Deutſchland einführen. Desgleichen ſcheiterten die ebenfalls auf
Preußens Betrieb berufenen Conferenzen über die deutſche Flußſchifffahrt;
denn die Welfen fanden es ganz unerhört, daß die rein deutſchen Flüſſe
derſelben Freiheit genießen ſollten wie die mehreren europäiſchen Mächten
gemeinſam angehörigen. Wegwerfend ſchrieb Münſter an den Prinzregen-
ten: Hannover werde ſicherlich nicht finanzielle Opfer bringen „um einige
vage Ideen von Handelsfreiheit zu begünſtigen“. Die ehrenwerthen Män-
ner unter der deutſchen Diplomatie überkam ein vernichtendes Gefühl der
Scham. Welch ein Schauſpiel bot ſeit ſechs langen Monaten dies Deutſch-
land, das ſoeben noch die Welt mit ſeinem Kriegsruhm erfüllt hatte!
Nichts als Zank und Stank, nichts als Neid gegen die Retter der Nation,
und noch immer kein Ende! Der wackere Gersdorff rieth in ſeiner Her-
zensangſt dem Staatskanzler: jetzt könne aus Deutſchland doch nichts
Tüchtiges werden, die feindſelige Geſinnung von Baiern und Genoſſen
laſſe ſich nicht verkennen; beſſer alſo, Preußen ſchließe mit dem Süden
nur eine Allianz, mit den kleinen norddeutſchen Staaten aber einen feſten
Bund, der für das ganze Vaterland eine beſſere Zukunft vorbereiten
könne.*)

Die Mehrzahl der ſtreitigen Gebietsfragen war erledigt, die Monar-
chen rüſteten ſich zur Abreiſe, Alle verlangten ungeduldig nach dem Schluß

*) Gersdorff an Hardenberg, 7. April 1815.
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[694/0710] II. 1. Der Wiener Congreß. und ſein ruſſiſcher Gehilfe, daß eine monarchiſche Spitze kräftiger ſei als eine collegialiſche. Ebenſo unwiderleglich erwies Humboldt die Unfähigkeit Oeſterreichs dieſe monarchiſche Macht zum Heile der Nation zu gebrauchen: „Deutſchland widerſtrebt jener öſterreichiſchen Unbeweglichkeit, für welche die Erfahrung nichts iſt und die Jahrhunderte ſpurlos vorübergehen.“ Die Nothwendigkeit des preußiſchen Kaiſerthums, die ſich aus dieſem Für und Wider von ſelber zu ergeben ſchien, konnte, wie die Lage war, noch nicht erkannt werden; ſaßen doch die Lothringer wieder ſo feſt im germa- niſchen Sattel, daß ſie zuweilen ſchon daran dachten Preußen ganz vom Rücken des deutſchen Roſſes herunterzuwerfen! Das Ergebniß war, daß die Kaiſerpläne begraben wurden. Humboldt behielt Recht mit ſeiner trocke- nen Erklärung: nur ein Bund iſt jetzt noch möglich. Ueber dieſem unfruchtbaren Zwiſchenſpiele gingen wieder vier Wochen verloren, und kaum war es zu Ende, ſo kam am 7. März die Nach- richt von Napoleons Rückkehr. Das europäiſche Kriegsbündniß und die Rüſtungen drängten viele Wochen lang alle anderen Fragen in den Hin- tergrund. Die deutſche Verfaſſung ſchien rettungslos verloren. Auch der auf Preußens Antrag eingeſetzte deutſche Militärausſchuß, welchem der Kronprinz von Württemberg vorſaß, ging unverrichteter Dinge ausein- ander; mit zorniger Scham verließ Rühle von Lilienſtern dieſe Verſamm- lung, von der er gehofft hatte, ſie werde die allgemeine Wehrpflicht für ganz Deutſchland einführen. Desgleichen ſcheiterten die ebenfalls auf Preußens Betrieb berufenen Conferenzen über die deutſche Flußſchifffahrt; denn die Welfen fanden es ganz unerhört, daß die rein deutſchen Flüſſe derſelben Freiheit genießen ſollten wie die mehreren europäiſchen Mächten gemeinſam angehörigen. Wegwerfend ſchrieb Münſter an den Prinzregen- ten: Hannover werde ſicherlich nicht finanzielle Opfer bringen „um einige vage Ideen von Handelsfreiheit zu begünſtigen“. Die ehrenwerthen Män- ner unter der deutſchen Diplomatie überkam ein vernichtendes Gefühl der Scham. Welch ein Schauſpiel bot ſeit ſechs langen Monaten dies Deutſch- land, das ſoeben noch die Welt mit ſeinem Kriegsruhm erfüllt hatte! Nichts als Zank und Stank, nichts als Neid gegen die Retter der Nation, und noch immer kein Ende! Der wackere Gersdorff rieth in ſeiner Her- zensangſt dem Staatskanzler: jetzt könne aus Deutſchland doch nichts Tüchtiges werden, die feindſelige Geſinnung von Baiern und Genoſſen laſſe ſich nicht verkennen; beſſer alſo, Preußen ſchließe mit dem Süden nur eine Allianz, mit den kleinen norddeutſchen Staaten aber einen feſten Bund, der für das ganze Vaterland eine beſſere Zukunft vorbereiten könne. *) Die Mehrzahl der ſtreitigen Gebietsfragen war erledigt, die Monar- chen rüſteten ſich zur Abreiſe, Alle verlangten ungeduldig nach dem Schluß *) Gersdorff an Hardenberg, 7. April 1815.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 694. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/710>, abgerufen am 25.11.2024.