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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 1. Der Wiener Congreß.
zu versehen habe. Hardenberg freilich hat die "unglückliche Uebereilung"
seiner österreichischen Freunde nur zu bald großmüthig vergessen; doch
unter den jüngeren, kräftigeren Männern der Regierungskreise blieb die
Erinnerung an jenen Treubruch lange lebendig. Die alten glorreichen
fridericianischen Ueberlieferungen fanden wieder muthige Bekenner; und
jener Staatsmann, der nachher in langen stillen Friedensjahren die Politik
des großen Königs behutsam weiter führen sollte, der Hauptbegründer des
Zollvereins, Eichhorn, hatte an den sächsischen Händeln mit seiner scharfen
Feder theilgenommen und sich sein Urtheil über Oesterreich aus den Er-
fahrungen des Wiener Congresses gebildet.

Es giebt aber ein letztes Maß des Unsinns, das in einer geordneten
Staatengesellschaft auf die Dauer nicht überschritten werden kann. Kaum
war der Vertrag unterzeichnet, so fragte sich Lord Castlereagh, wie er mit
einer so ganz unenglischen Politik vor dem Parlamente bestehen sollte.
Hatte England darum ein Vierteljahrhundert hindurch gegen Frankreichs
Uebermacht gekämpft, damit jetzt 150,000 napoleonische Veteranen unter
dem Lilienbanner wieder den Rhein überschritten? Man kannte in Wien,
trotz aller Ableugnungen Talleyrands, die bonapartistische Gesinnung des
französischen Heeres. Und sollte der kaum erst blutig erkämpfte Friede
wieder gestört werden -- einem napoleonischen Satrapen zu Lieb'? Die
verbrecherische Thorheit eines solchen Unterfangens begann dem Briten
doch einzuleuchten; auch Metternich ward besorgt über den lauten Jubel
der Franzosen und der Rheinbündler. Während der folgenden Wochen
schlossen sich noch Sardinien, Baiern, Hannover, Darmstadt dem Bündniß
vom 3. Januar an, ja die Schwerfälligkeit der Oranischen Regierung
hatte sogar den tragikomischen Erfolg, daß die Niederlande erst im April
dem Kriegsbunde gegen Preußen förmlich beitraten -- in einem Augen-
blicke, da die Welt durch Napoleons Rückkehr längst wieder verwandelt
war und Preußens Heer bereits heranzog die Niederlande gegen Frankreich
zu vertheidigen. Doch das Bündniß war todt geboren, eine wirkliche
Kriegsgefahr bestand nur etwa sechs Tage lang.

Schon in der Sitzung vom 9. Januar thaten Oesterreich und Eng-
land einen ersten Schritt zur Versöhnung. Sie gaben die feierliche Er-
klärung ab, daß die Verhandlungen über Sachsen lediglich den Zweck
hätten dem preußischen Staate die vertragsmäßige Entschädigung zu ver-
schaffen, und darum die Entscheidung in keiner Weise von der Zustimmung
Friedrich Augusts abhängig sei. Nur unter dieser Bedingung genehmigten
Preußen und Rußland den jetzt unvermeidlichen Eintritt des französischen
Ministers. Am 12. Januar trat Talleyrand in den Rath der Groß-
mächte ein. Das Comite der Vier erweiterte sich zum Fünfer-Ausschuß,
und diese Fünf bildeten den eigentlichen Congreß *), so daß die erlauchte

*) So Humboldt in seinem handschriftlichen "Systematischen Verzeichniß" der
Congreßverhandlungen, Wien 15. Juni 1815.

II. 1. Der Wiener Congreß.
zu verſehen habe. Hardenberg freilich hat die „unglückliche Uebereilung“
ſeiner öſterreichiſchen Freunde nur zu bald großmüthig vergeſſen; doch
unter den jüngeren, kräftigeren Männern der Regierungskreiſe blieb die
Erinnerung an jenen Treubruch lange lebendig. Die alten glorreichen
fridericianiſchen Ueberlieferungen fanden wieder muthige Bekenner; und
jener Staatsmann, der nachher in langen ſtillen Friedensjahren die Politik
des großen Königs behutſam weiter führen ſollte, der Hauptbegründer des
Zollvereins, Eichhorn, hatte an den ſächſiſchen Händeln mit ſeiner ſcharfen
Feder theilgenommen und ſich ſein Urtheil über Oeſterreich aus den Er-
fahrungen des Wiener Congreſſes gebildet.

Es giebt aber ein letztes Maß des Unſinns, das in einer geordneten
Staatengeſellſchaft auf die Dauer nicht überſchritten werden kann. Kaum
war der Vertrag unterzeichnet, ſo fragte ſich Lord Caſtlereagh, wie er mit
einer ſo ganz unengliſchen Politik vor dem Parlamente beſtehen ſollte.
Hatte England darum ein Vierteljahrhundert hindurch gegen Frankreichs
Uebermacht gekämpft, damit jetzt 150,000 napoleoniſche Veteranen unter
dem Lilienbanner wieder den Rhein überſchritten? Man kannte in Wien,
trotz aller Ableugnungen Talleyrands, die bonapartiſtiſche Geſinnung des
franzöſiſchen Heeres. Und ſollte der kaum erſt blutig erkämpfte Friede
wieder geſtört werden — einem napoleoniſchen Satrapen zu Lieb’? Die
verbrecheriſche Thorheit eines ſolchen Unterfangens begann dem Briten
doch einzuleuchten; auch Metternich ward beſorgt über den lauten Jubel
der Franzoſen und der Rheinbündler. Während der folgenden Wochen
ſchloſſen ſich noch Sardinien, Baiern, Hannover, Darmſtadt dem Bündniß
vom 3. Januar an, ja die Schwerfälligkeit der Oraniſchen Regierung
hatte ſogar den tragikomiſchen Erfolg, daß die Niederlande erſt im April
dem Kriegsbunde gegen Preußen förmlich beitraten — in einem Augen-
blicke, da die Welt durch Napoleons Rückkehr längſt wieder verwandelt
war und Preußens Heer bereits heranzog die Niederlande gegen Frankreich
zu vertheidigen. Doch das Bündniß war todt geboren, eine wirkliche
Kriegsgefahr beſtand nur etwa ſechs Tage lang.

Schon in der Sitzung vom 9. Januar thaten Oeſterreich und Eng-
land einen erſten Schritt zur Verſöhnung. Sie gaben die feierliche Er-
klärung ab, daß die Verhandlungen über Sachſen lediglich den Zweck
hätten dem preußiſchen Staate die vertragsmäßige Entſchädigung zu ver-
ſchaffen, und darum die Entſcheidung in keiner Weiſe von der Zuſtimmung
Friedrich Auguſts abhängig ſei. Nur unter dieſer Bedingung genehmigten
Preußen und Rußland den jetzt unvermeidlichen Eintritt des franzöſiſchen
Miniſters. Am 12. Januar trat Talleyrand in den Rath der Groß-
mächte ein. Das Comité der Vier erweiterte ſich zum Fünfer-Ausſchuß,
und dieſe Fünf bildeten den eigentlichen Congreß *), ſo daß die erlauchte

*) So Humboldt in ſeinem handſchriftlichen „Syſtematiſchen Verzeichniß“ der
Congreßverhandlungen, Wien 15. Juni 1815.
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[654/0670] II. 1. Der Wiener Congreß. zu verſehen habe. Hardenberg freilich hat die „unglückliche Uebereilung“ ſeiner öſterreichiſchen Freunde nur zu bald großmüthig vergeſſen; doch unter den jüngeren, kräftigeren Männern der Regierungskreiſe blieb die Erinnerung an jenen Treubruch lange lebendig. Die alten glorreichen fridericianiſchen Ueberlieferungen fanden wieder muthige Bekenner; und jener Staatsmann, der nachher in langen ſtillen Friedensjahren die Politik des großen Königs behutſam weiter führen ſollte, der Hauptbegründer des Zollvereins, Eichhorn, hatte an den ſächſiſchen Händeln mit ſeiner ſcharfen Feder theilgenommen und ſich ſein Urtheil über Oeſterreich aus den Er- fahrungen des Wiener Congreſſes gebildet. Es giebt aber ein letztes Maß des Unſinns, das in einer geordneten Staatengeſellſchaft auf die Dauer nicht überſchritten werden kann. Kaum war der Vertrag unterzeichnet, ſo fragte ſich Lord Caſtlereagh, wie er mit einer ſo ganz unengliſchen Politik vor dem Parlamente beſtehen ſollte. Hatte England darum ein Vierteljahrhundert hindurch gegen Frankreichs Uebermacht gekämpft, damit jetzt 150,000 napoleoniſche Veteranen unter dem Lilienbanner wieder den Rhein überſchritten? Man kannte in Wien, trotz aller Ableugnungen Talleyrands, die bonapartiſtiſche Geſinnung des franzöſiſchen Heeres. Und ſollte der kaum erſt blutig erkämpfte Friede wieder geſtört werden — einem napoleoniſchen Satrapen zu Lieb’? Die verbrecheriſche Thorheit eines ſolchen Unterfangens begann dem Briten doch einzuleuchten; auch Metternich ward beſorgt über den lauten Jubel der Franzoſen und der Rheinbündler. Während der folgenden Wochen ſchloſſen ſich noch Sardinien, Baiern, Hannover, Darmſtadt dem Bündniß vom 3. Januar an, ja die Schwerfälligkeit der Oraniſchen Regierung hatte ſogar den tragikomiſchen Erfolg, daß die Niederlande erſt im April dem Kriegsbunde gegen Preußen förmlich beitraten — in einem Augen- blicke, da die Welt durch Napoleons Rückkehr längſt wieder verwandelt war und Preußens Heer bereits heranzog die Niederlande gegen Frankreich zu vertheidigen. Doch das Bündniß war todt geboren, eine wirkliche Kriegsgefahr beſtand nur etwa ſechs Tage lang. Schon in der Sitzung vom 9. Januar thaten Oeſterreich und Eng- land einen erſten Schritt zur Verſöhnung. Sie gaben die feierliche Er- klärung ab, daß die Verhandlungen über Sachſen lediglich den Zweck hätten dem preußiſchen Staate die vertragsmäßige Entſchädigung zu ver- ſchaffen, und darum die Entſcheidung in keiner Weiſe von der Zuſtimmung Friedrich Auguſts abhängig ſei. Nur unter dieſer Bedingung genehmigten Preußen und Rußland den jetzt unvermeidlichen Eintritt des franzöſiſchen Miniſters. Am 12. Januar trat Talleyrand in den Rath der Groß- mächte ein. Das Comité der Vier erweiterte ſich zum Fünfer-Ausſchuß, und dieſe Fünf bildeten den eigentlichen Congreß *), ſo daß die erlauchte *) So Humboldt in ſeinem handſchriftlichen „Syſtematiſchen Verzeichniß“ der Congreßverhandlungen, Wien 15. Juni 1815.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 654. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/670>, abgerufen am 02.05.2024.