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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
stolzeren Verächter; und nirgends konnte dieser unerbittliche Realismus so
reinigend und zerstörend, so revolutionär wirken wie in der großen Fabel-
welt des römischen Reichs. Nichts schonungsloser als Friedrichs Hohn
wider die heilige Majestät des Kaisers Franz, der am Schürzenbande
seiner Gemahlin gegängelt wird und, ein würdiger König von Jerusalem,
für die Heere der Königin von Ungarn einträgliche Lieferungsgeschäfte be-
sorgt; nichts grausamer als sein Spott über "das Phantom" der Reichs-
armee, über die dünkelhafte Nichtigkeit der kleinen Höfe, über die Formel-
krämerei "dieser verfluchten Perrücken von Hannover," über den leeren
Hochmuth des staatlosen Junkerthums in Sachsen und Mecklenburg,
über "diese ganze Rasse von Prinzen und Leuten Oesterreichs": -- wer
vor den Großen dieser Welt die Kniee beugt, "der kennt sie nicht!"

Im vollen Bewußtsein der Ueberlegenheit hält er den Schattenbildern
des Reichsrechtes die gesunde Wirklichkeit seines modernen Staates ent-
gegen; eine ingrimmige Schadenfreude spricht aus seinen Briefen, wenn
er "die Pedanten von Regensburg" des Krieges eherne Nothwendigkeit
empfinden läßt. Friedrich vollzog durch die That was die streitbaren
Publicisten des vergangenen Jahrhunderts, Hippolithus und Severinus,
nur mit Worten versucht hatten: er hielt dem "unheimlich leichenhaften
Angesicht Germaniens" den Spiegel vor, erwies vor aller Welt die
rettungslose Fäulniß des heiligen Reichs. Mochten wohlmeinende Zeit-
genossen ihn schelten, weil er das altehrwürdige Gemeinwesen dem Gelächter
preisgegeben: die Nachwelt dankt ihm, denn er hat die Wahrheit wieder
zu Ehren gebracht in der deutschen Politik, wie Martin Luther einst im
deutschen Denken und Glauben.

Friedrich hatte jene streng protestantische Ansicht von deutscher Ge-
schichte und Reichspolitik, die seit Pufendorf und Thomasius unter den
freieren Köpfen Preußens vorherrschte, frühe in sich aufgenommen und
sie dann, unter den erbitternden Erfahrungen seiner mißhandelten Jugend,
scharf und selbständig weiter gebildet. Er sieht in der Erhebung der
Schmalkaldener, im dreißigjährigen Kriege, in allen Wirren der jüngsten
zwei Jahrhunderte nichts als den unablässigen Kampf der deutschen
Freiheit wider den Despotismus des Hauses Oesterreich, das die schwachen
Fürsten des Reichs "mit eisernem Scepter" als Sklaven beherrsche und
nur die starken frei gewähren lasse. Nicht ohne Willkür legt er sich die
Thatsachen der Geschichte nach dieser einseitigen Auffassung zurecht; die
dem Lichte und dem Leben zugewandte Einseitigkeit bleibt ja das Vorrecht
des schaffenden Helden. Jenen alten Kampf siegreich hinauszuführen
scheint ihm die Aufgabe des preußischen Staates. In seinen jungen
Jahren steht er noch treu zur evangelischen Sache; er preist die rühm-
liche Pflicht des Hauses Brandenburg "die protestantische Religion überall
im deutschen Reiche und in Europa zu fördern" und bemerkt in Heidel-
berg voll Unmuth, wie hier in der alten Herrscherstätte unserer Kirche

I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
ſtolzeren Verächter; und nirgends konnte dieſer unerbittliche Realismus ſo
reinigend und zerſtörend, ſo revolutionär wirken wie in der großen Fabel-
welt des römiſchen Reichs. Nichts ſchonungsloſer als Friedrichs Hohn
wider die heilige Majeſtät des Kaiſers Franz, der am Schürzenbande
ſeiner Gemahlin gegängelt wird und, ein würdiger König von Jeruſalem,
für die Heere der Königin von Ungarn einträgliche Lieferungsgeſchäfte be-
ſorgt; nichts grauſamer als ſein Spott über „das Phantom“ der Reichs-
armee, über die dünkelhafte Nichtigkeit der kleinen Höfe, über die Formel-
krämerei „dieſer verfluchten Perrücken von Hannover,“ über den leeren
Hochmuth des ſtaatloſen Junkerthums in Sachſen und Mecklenburg,
über „dieſe ganze Raſſe von Prinzen und Leuten Oeſterreichs“: — wer
vor den Großen dieſer Welt die Kniee beugt, „der kennt ſie nicht!“

Im vollen Bewußtſein der Ueberlegenheit hält er den Schattenbildern
des Reichsrechtes die geſunde Wirklichkeit ſeines modernen Staates ent-
gegen; eine ingrimmige Schadenfreude ſpricht aus ſeinen Briefen, wenn
er „die Pedanten von Regensburg“ des Krieges eherne Nothwendigkeit
empfinden läßt. Friedrich vollzog durch die That was die ſtreitbaren
Publiciſten des vergangenen Jahrhunderts, Hippolithus und Severinus,
nur mit Worten verſucht hatten: er hielt dem „unheimlich leichenhaften
Angeſicht Germaniens“ den Spiegel vor, erwies vor aller Welt die
rettungsloſe Fäulniß des heiligen Reichs. Mochten wohlmeinende Zeit-
genoſſen ihn ſchelten, weil er das altehrwürdige Gemeinweſen dem Gelächter
preisgegeben: die Nachwelt dankt ihm, denn er hat die Wahrheit wieder
zu Ehren gebracht in der deutſchen Politik, wie Martin Luther einſt im
deutſchen Denken und Glauben.

Friedrich hatte jene ſtreng proteſtantiſche Anſicht von deutſcher Ge-
ſchichte und Reichspolitik, die ſeit Pufendorf und Thomaſius unter den
freieren Köpfen Preußens vorherrſchte, frühe in ſich aufgenommen und
ſie dann, unter den erbitternden Erfahrungen ſeiner mißhandelten Jugend,
ſcharf und ſelbſtändig weiter gebildet. Er ſieht in der Erhebung der
Schmalkaldener, im dreißigjährigen Kriege, in allen Wirren der jüngſten
zwei Jahrhunderte nichts als den unabläſſigen Kampf der deutſchen
Freiheit wider den Despotismus des Hauſes Oeſterreich, das die ſchwachen
Fürſten des Reichs „mit eiſernem Scepter“ als Sklaven beherrſche und
nur die ſtarken frei gewähren laſſe. Nicht ohne Willkür legt er ſich die
Thatſachen der Geſchichte nach dieſer einſeitigen Auffaſſung zurecht; die
dem Lichte und dem Leben zugewandte Einſeitigkeit bleibt ja das Vorrecht
des ſchaffenden Helden. Jenen alten Kampf ſiegreich hinauszuführen
ſcheint ihm die Aufgabe des preußiſchen Staates. In ſeinen jungen
Jahren ſteht er noch treu zur evangeliſchen Sache; er preiſt die rühm-
liche Pflicht des Hauſes Brandenburg „die proteſtantiſche Religion überall
im deutſchen Reiche und in Europa zu fördern“ und bemerkt in Heidel-
berg voll Unmuth, wie hier in der alten Herrſcherſtätte unſerer Kirche

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[50/0066] I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden. ſtolzeren Verächter; und nirgends konnte dieſer unerbittliche Realismus ſo reinigend und zerſtörend, ſo revolutionär wirken wie in der großen Fabel- welt des römiſchen Reichs. Nichts ſchonungsloſer als Friedrichs Hohn wider die heilige Majeſtät des Kaiſers Franz, der am Schürzenbande ſeiner Gemahlin gegängelt wird und, ein würdiger König von Jeruſalem, für die Heere der Königin von Ungarn einträgliche Lieferungsgeſchäfte be- ſorgt; nichts grauſamer als ſein Spott über „das Phantom“ der Reichs- armee, über die dünkelhafte Nichtigkeit der kleinen Höfe, über die Formel- krämerei „dieſer verfluchten Perrücken von Hannover,“ über den leeren Hochmuth des ſtaatloſen Junkerthums in Sachſen und Mecklenburg, über „dieſe ganze Raſſe von Prinzen und Leuten Oeſterreichs“: — wer vor den Großen dieſer Welt die Kniee beugt, „der kennt ſie nicht!“ Im vollen Bewußtſein der Ueberlegenheit hält er den Schattenbildern des Reichsrechtes die geſunde Wirklichkeit ſeines modernen Staates ent- gegen; eine ingrimmige Schadenfreude ſpricht aus ſeinen Briefen, wenn er „die Pedanten von Regensburg“ des Krieges eherne Nothwendigkeit empfinden läßt. Friedrich vollzog durch die That was die ſtreitbaren Publiciſten des vergangenen Jahrhunderts, Hippolithus und Severinus, nur mit Worten verſucht hatten: er hielt dem „unheimlich leichenhaften Angeſicht Germaniens“ den Spiegel vor, erwies vor aller Welt die rettungsloſe Fäulniß des heiligen Reichs. Mochten wohlmeinende Zeit- genoſſen ihn ſchelten, weil er das altehrwürdige Gemeinweſen dem Gelächter preisgegeben: die Nachwelt dankt ihm, denn er hat die Wahrheit wieder zu Ehren gebracht in der deutſchen Politik, wie Martin Luther einſt im deutſchen Denken und Glauben. Friedrich hatte jene ſtreng proteſtantiſche Anſicht von deutſcher Ge- ſchichte und Reichspolitik, die ſeit Pufendorf und Thomaſius unter den freieren Köpfen Preußens vorherrſchte, frühe in ſich aufgenommen und ſie dann, unter den erbitternden Erfahrungen ſeiner mißhandelten Jugend, ſcharf und ſelbſtändig weiter gebildet. Er ſieht in der Erhebung der Schmalkaldener, im dreißigjährigen Kriege, in allen Wirren der jüngſten zwei Jahrhunderte nichts als den unabläſſigen Kampf der deutſchen Freiheit wider den Despotismus des Hauſes Oeſterreich, das die ſchwachen Fürſten des Reichs „mit eiſernem Scepter“ als Sklaven beherrſche und nur die ſtarken frei gewähren laſſe. Nicht ohne Willkür legt er ſich die Thatſachen der Geſchichte nach dieſer einſeitigen Auffaſſung zurecht; die dem Lichte und dem Leben zugewandte Einſeitigkeit bleibt ja das Vorrecht des ſchaffenden Helden. Jenen alten Kampf ſiegreich hinauszuführen ſcheint ihm die Aufgabe des preußiſchen Staates. In ſeinen jungen Jahren ſteht er noch treu zur evangeliſchen Sache; er preiſt die rühm- liche Pflicht des Hauſes Brandenburg „die proteſtantiſche Religion überall im deutſchen Reiche und in Europa zu fördern“ und bemerkt in Heidel- berg voll Unmuth, wie hier in der alten Herrſcherſtätte unſerer Kirche

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/66>, abgerufen am 21.11.2024.