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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 1. Der Wiener Congreß.
den Lustbarkeiten des Congresses drangen unheimliche Nachrichten von
dem italienischen Geheimbunde der Carbonari, von der dumpfen Gährung
in Frankreich, von den Zornreden der enttäuschten preußischen Patrioten,
von den Verschwörungen der Griechen und dem Heldenkampfe der Ser-
ben wider ihre türkischen Tyrannen. Mochte man immerhin sorgsam
die Thüren schließen und das laute Anklopfen des demokratischen neuen
Zeitalters überhören, ganz geheuer fühlte man sich doch nicht mehr. Wie
sonst der Spott so war jetzt der Glaube Modepflicht: ein paar salbungs-
volle Worte über Christenthum und göttliches Königsrecht mußte auch
das Weltkind zur Verfügung haben. Die weibische Zierlichkeit des acht-
zehnten Jahrhunderts verrieth sich noch, wenngleich Zopf und Puder nicht
wieder auferstanden, in den bartlosen Gesichtern, den Tabaksdosen, den
Schuhen und seidenen Strümpfen, in der gesuchten Eleganz der männ-
lichen Kleidung; doch war der Ton des Umgangs schon um Vieles freier
und formloser geworden. Keine Rede mehr von den alten Rang- und
Titelstreitigkeiten, von dem pedantischen Gezänk über Form und Farbe
der Sessel; bald da bald dort, bei irgend einem der Bevollmächtigten
fanden sich die Minister zur Berathung zusammen und unterzeichneten
die Urkunden nach dem Alphabet oder auch in bunter Reihe, wie man
gerade am Tische saß. Am Auffälligsten bekundeten sich die veränderten
Sitten an den großen Prunk- und Feiertagen des Congresses. Das
Mittelalter feierte kirchliche, das Jahrhundert Ludwigs XIV. höfische
Feste; die neue Zeit trug einen entschieden militärischen Charakter. Pa-
rade und Heerschau wurden unvermeidlich, so oft sich der moderne Staat im
Glanze seiner Herrlichkeit sonnen wollte. Selbst dies Oesterreich, damals
der am wenigsten militärische unter den großen Staaten des Festlandes,
durfte die ungeheure Macht der neuen massenhaften Heere nicht ganz
verkennen. Vor fünfzig Jahren hatte man noch über den militärischen
Anstrich des preußischen Hofes vornehm gespottet, jetzt war die preußische
Sitte allgemein eingebürgert, und auch der waffenscheue Kaiser Franz mußte
zuweilen in der Uniform erscheinen.

Ein Diplomaten-Congreß kann niemals schöpferisch wirken; genug,
wenn er die offenbaren Ergebnisse der vorangegangenen kriegerischen Ver-
wicklungen leidlich ordnet und sicherstellt. Und wie hätte diese Wiener Ver-
sammlung Größeres leisten sollen? Eine unbeschreibliche Ermattung lastete
auf den Gemüthern, wie einst da der Utrechter Congreß das blutige Zeit-
alter Ludwigs XIV. beendigte; und wie damals Kronprinz Friedrich die
allgemeine Verkommenheit der europäischen Staatskunst beklagte, so ging
jetzt die abgespannte und abgehetzte diplomatische Welt allen den unfertigen
neuen Ideen der Zeit ängstlich aus dem Wege und ließ sichs wieder
wohl sein bei jener bequemen Staatsanschauung des alten Jahrhunderts,
die den Staat nur als einen Haufen von Geviertmeilen und Seelen be-
trachtete. Die Wiener Luft that das Ihrige hinzu. Hier in dem Mittel-

II. 1. Der Wiener Congreß.
den Luſtbarkeiten des Congreſſes drangen unheimliche Nachrichten von
dem italieniſchen Geheimbunde der Carbonari, von der dumpfen Gährung
in Frankreich, von den Zornreden der enttäuſchten preußiſchen Patrioten,
von den Verſchwörungen der Griechen und dem Heldenkampfe der Ser-
ben wider ihre türkiſchen Tyrannen. Mochte man immerhin ſorgſam
die Thüren ſchließen und das laute Anklopfen des demokratiſchen neuen
Zeitalters überhören, ganz geheuer fühlte man ſich doch nicht mehr. Wie
ſonſt der Spott ſo war jetzt der Glaube Modepflicht: ein paar ſalbungs-
volle Worte über Chriſtenthum und göttliches Königsrecht mußte auch
das Weltkind zur Verfügung haben. Die weibiſche Zierlichkeit des acht-
zehnten Jahrhunderts verrieth ſich noch, wenngleich Zopf und Puder nicht
wieder auferſtanden, in den bartloſen Geſichtern, den Tabaksdoſen, den
Schuhen und ſeidenen Strümpfen, in der geſuchten Eleganz der männ-
lichen Kleidung; doch war der Ton des Umgangs ſchon um Vieles freier
und formloſer geworden. Keine Rede mehr von den alten Rang- und
Titelſtreitigkeiten, von dem pedantiſchen Gezänk über Form und Farbe
der Seſſel; bald da bald dort, bei irgend einem der Bevollmächtigten
fanden ſich die Miniſter zur Berathung zuſammen und unterzeichneten
die Urkunden nach dem Alphabet oder auch in bunter Reihe, wie man
gerade am Tiſche ſaß. Am Auffälligſten bekundeten ſich die veränderten
Sitten an den großen Prunk- und Feiertagen des Congreſſes. Das
Mittelalter feierte kirchliche, das Jahrhundert Ludwigs XIV. höfiſche
Feſte; die neue Zeit trug einen entſchieden militäriſchen Charakter. Pa-
rade und Heerſchau wurden unvermeidlich, ſo oft ſich der moderne Staat im
Glanze ſeiner Herrlichkeit ſonnen wollte. Selbſt dies Oeſterreich, damals
der am wenigſten militäriſche unter den großen Staaten des Feſtlandes,
durfte die ungeheure Macht der neuen maſſenhaften Heere nicht ganz
verkennen. Vor fünfzig Jahren hatte man noch über den militäriſchen
Anſtrich des preußiſchen Hofes vornehm geſpottet, jetzt war die preußiſche
Sitte allgemein eingebürgert, und auch der waffenſcheue Kaiſer Franz mußte
zuweilen in der Uniform erſcheinen.

Ein Diplomaten-Congreß kann niemals ſchöpferiſch wirken; genug,
wenn er die offenbaren Ergebniſſe der vorangegangenen kriegeriſchen Ver-
wicklungen leidlich ordnet und ſicherſtellt. Und wie hätte dieſe Wiener Ver-
ſammlung Größeres leiſten ſollen? Eine unbeſchreibliche Ermattung laſtete
auf den Gemüthern, wie einſt da der Utrechter Congreß das blutige Zeit-
alter Ludwigs XIV. beendigte; und wie damals Kronprinz Friedrich die
allgemeine Verkommenheit der europäiſchen Staatskunſt beklagte, ſo ging
jetzt die abgeſpannte und abgehetzte diplomatiſche Welt allen den unfertigen
neuen Ideen der Zeit ängſtlich aus dem Wege und ließ ſichs wieder
wohl ſein bei jener bequemen Staatsanſchauung des alten Jahrhunderts,
die den Staat nur als einen Haufen von Geviertmeilen und Seelen be-
trachtete. Die Wiener Luft that das Ihrige hinzu. Hier in dem Mittel-

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[596/0612] II. 1. Der Wiener Congreß. den Luſtbarkeiten des Congreſſes drangen unheimliche Nachrichten von dem italieniſchen Geheimbunde der Carbonari, von der dumpfen Gährung in Frankreich, von den Zornreden der enttäuſchten preußiſchen Patrioten, von den Verſchwörungen der Griechen und dem Heldenkampfe der Ser- ben wider ihre türkiſchen Tyrannen. Mochte man immerhin ſorgſam die Thüren ſchließen und das laute Anklopfen des demokratiſchen neuen Zeitalters überhören, ganz geheuer fühlte man ſich doch nicht mehr. Wie ſonſt der Spott ſo war jetzt der Glaube Modepflicht: ein paar ſalbungs- volle Worte über Chriſtenthum und göttliches Königsrecht mußte auch das Weltkind zur Verfügung haben. Die weibiſche Zierlichkeit des acht- zehnten Jahrhunderts verrieth ſich noch, wenngleich Zopf und Puder nicht wieder auferſtanden, in den bartloſen Geſichtern, den Tabaksdoſen, den Schuhen und ſeidenen Strümpfen, in der geſuchten Eleganz der männ- lichen Kleidung; doch war der Ton des Umgangs ſchon um Vieles freier und formloſer geworden. Keine Rede mehr von den alten Rang- und Titelſtreitigkeiten, von dem pedantiſchen Gezänk über Form und Farbe der Seſſel; bald da bald dort, bei irgend einem der Bevollmächtigten fanden ſich die Miniſter zur Berathung zuſammen und unterzeichneten die Urkunden nach dem Alphabet oder auch in bunter Reihe, wie man gerade am Tiſche ſaß. Am Auffälligſten bekundeten ſich die veränderten Sitten an den großen Prunk- und Feiertagen des Congreſſes. Das Mittelalter feierte kirchliche, das Jahrhundert Ludwigs XIV. höfiſche Feſte; die neue Zeit trug einen entſchieden militäriſchen Charakter. Pa- rade und Heerſchau wurden unvermeidlich, ſo oft ſich der moderne Staat im Glanze ſeiner Herrlichkeit ſonnen wollte. Selbſt dies Oeſterreich, damals der am wenigſten militäriſche unter den großen Staaten des Feſtlandes, durfte die ungeheure Macht der neuen maſſenhaften Heere nicht ganz verkennen. Vor fünfzig Jahren hatte man noch über den militäriſchen Anſtrich des preußiſchen Hofes vornehm geſpottet, jetzt war die preußiſche Sitte allgemein eingebürgert, und auch der waffenſcheue Kaiſer Franz mußte zuweilen in der Uniform erſcheinen. Ein Diplomaten-Congreß kann niemals ſchöpferiſch wirken; genug, wenn er die offenbaren Ergebniſſe der vorangegangenen kriegeriſchen Ver- wicklungen leidlich ordnet und ſicherſtellt. Und wie hätte dieſe Wiener Ver- ſammlung Größeres leiſten ſollen? Eine unbeſchreibliche Ermattung laſtete auf den Gemüthern, wie einſt da der Utrechter Congreß das blutige Zeit- alter Ludwigs XIV. beendigte; und wie damals Kronprinz Friedrich die allgemeine Verkommenheit der europäiſchen Staatskunſt beklagte, ſo ging jetzt die abgeſpannte und abgehetzte diplomatiſche Welt allen den unfertigen neuen Ideen der Zeit ängſtlich aus dem Wege und ließ ſichs wieder wohl ſein bei jener bequemen Staatsanſchauung des alten Jahrhunderts, die den Staat nur als einen Haufen von Geviertmeilen und Seelen be- trachtete. Die Wiener Luft that das Ihrige hinzu. Hier in dem Mittel-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 596. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/612>, abgerufen am 25.11.2024.