Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Schwenkung der englischen Politik.
mit Freuden bereit, das Cabinet von St. James im Kampfe wider Ruß-
land zu unterstützen. Castlereagh bat die Bourbonen, ihre Meinung über
die polnische Frage den großen Mächten mitzutheilen und erkundigte sich
zugleich bei seinem Gesandten Wellington, ob Frankreich in der Lage sei,
dieser Ansicht durch die Waffen Nachdruck zu geben. Der eiserne Herzog
erwiderte: "die Lage der europäischen Angelegenheiten wird nothwendiger-
weise England und Frankreich zu Schiedsrichtern auf dem Congresse
machen, wenn diese Mächte sich verständigen, und ein solches Einver-
ständniß mag den allgemeinen Frieden bewahren." Castlereagh dachte
noch keineswegs sich von den alten Alliirten gänzlich loszusagen; vielmehr
sah er nicht ohne Argwohn auf Frankreichs unberechenbaren Ehrgeiz.
Er kannte das tiefe Friedensbedürfniß seines ermüdeten Landes und
wußte, daß auch Oesterreich nur mit diplomatischen Waffen gegen Ruß-
land kämpfen wollte. Doch indem er Frankreich einlud sich in die pol-
nischen Händel zu mischen, verletzte er leichtfertig die Verträge von Reichen-
bach und Teplitz, und dieser gedankenlose Vertragsbruch konnte, bei der
Klugheit des französischen, der Thorheit des englischen Cabinets leicht zur
Zerstörung der Coalition führen.

Auch in der niederländischen Frage war England den preußischen
Plänen nicht günstig. Während jenes Aufenthalts der Monarchen in
London wurde die Vereinigung Belgiens und Hollands durch die Alliirten
endgiltig anerkannt, aber das ewige Bündniß mit Deutschland, das Har-
denberg vorgeschlagen, fand weder bei den Holländern noch bei ihren
britischen Beschützern Anklang. Als ein völlig unabhängiger europäischer
Fürst wollte der Oranier, ohne jede Gegenleistung, sich des Schutzes der
preußischen Waffen erfreuen. Seine Politik verfolgte fortan den zwei-
fachen Zweck, dem preußischen Befreier möglichst viel deutsches Land auf
dem linken Rheinufer zu entreißen und dem welfischen Hause die an
Holland angrenzenden ostfriesisch-westphälischen Provinzen zu verschaffen,
damit eine geschlossene welfisch-oranische Macht den Preußen im Nord-
westen das Gleichgewicht halte. Graf Münster wirkte in demselben Sinne.
Mit Entsetzen hörten die welfischen Diplomaten von jenem preußischen
"Isthmus", der Hannover im Süden umfassen sollte; nimmer durfte das
stolze Welfenreich eine Enclave des verhaßten Nachbarstaates werden.

Während das siegreiche England seine Kraft vergeudete an die künst-
liche Bildung des niederländischen Staates, der sechzehn Jahre nachher
unter Englands eigener Mitwirkung wieder zertrümmert ward, verschaffte
die gewandte Staatskunst der Bourbonen dem gedemüthigten Frankreich
erstaunlich schnell wieder seine alte Stellung im Staatensysteme. Talley-
rand führte seinen Staat von den Träumen napoleonischer Weltherrschaft
zurück zu jener nationalen Politik, die seit den Tagen Heinrichs IV. mit
allen Vorurtheilen und Gewohnheiten der Franzosen fest verwachsen war:
in der Zersplitterung der Nachbarmächte, in der Begünstigung der Klein-

Schwenkung der engliſchen Politik.
mit Freuden bereit, das Cabinet von St. James im Kampfe wider Ruß-
land zu unterſtützen. Caſtlereagh bat die Bourbonen, ihre Meinung über
die polniſche Frage den großen Mächten mitzutheilen und erkundigte ſich
zugleich bei ſeinem Geſandten Wellington, ob Frankreich in der Lage ſei,
dieſer Anſicht durch die Waffen Nachdruck zu geben. Der eiſerne Herzog
erwiderte: „die Lage der europäiſchen Angelegenheiten wird nothwendiger-
weiſe England und Frankreich zu Schiedsrichtern auf dem Congreſſe
machen, wenn dieſe Mächte ſich verſtändigen, und ein ſolches Einver-
ſtändniß mag den allgemeinen Frieden bewahren.“ Caſtlereagh dachte
noch keineswegs ſich von den alten Alliirten gänzlich loszuſagen; vielmehr
ſah er nicht ohne Argwohn auf Frankreichs unberechenbaren Ehrgeiz.
Er kannte das tiefe Friedensbedürfniß ſeines ermüdeten Landes und
wußte, daß auch Oeſterreich nur mit diplomatiſchen Waffen gegen Ruß-
land kämpfen wollte. Doch indem er Frankreich einlud ſich in die pol-
niſchen Händel zu miſchen, verletzte er leichtfertig die Verträge von Reichen-
bach und Teplitz, und dieſer gedankenloſe Vertragsbruch konnte, bei der
Klugheit des franzöſiſchen, der Thorheit des engliſchen Cabinets leicht zur
Zerſtörung der Coalition führen.

Auch in der niederländiſchen Frage war England den preußiſchen
Plänen nicht günſtig. Während jenes Aufenthalts der Monarchen in
London wurde die Vereinigung Belgiens und Hollands durch die Alliirten
endgiltig anerkannt, aber das ewige Bündniß mit Deutſchland, das Har-
denberg vorgeſchlagen, fand weder bei den Holländern noch bei ihren
britiſchen Beſchützern Anklang. Als ein völlig unabhängiger europäiſcher
Fürſt wollte der Oranier, ohne jede Gegenleiſtung, ſich des Schutzes der
preußiſchen Waffen erfreuen. Seine Politik verfolgte fortan den zwei-
fachen Zweck, dem preußiſchen Befreier möglichſt viel deutſches Land auf
dem linken Rheinufer zu entreißen und dem welfiſchen Hauſe die an
Holland angrenzenden oſtfrieſiſch-weſtphäliſchen Provinzen zu verſchaffen,
damit eine geſchloſſene welfiſch-oraniſche Macht den Preußen im Nord-
weſten das Gleichgewicht halte. Graf Münſter wirkte in demſelben Sinne.
Mit Entſetzen hörten die welfiſchen Diplomaten von jenem preußiſchen
„Iſthmus“, der Hannover im Süden umfaſſen ſollte; nimmer durfte das
ſtolze Welfenreich eine Enclave des verhaßten Nachbarſtaates werden.

Während das ſiegreiche England ſeine Kraft vergeudete an die künſt-
liche Bildung des niederländiſchen Staates, der ſechzehn Jahre nachher
unter Englands eigener Mitwirkung wieder zertrümmert ward, verſchaffte
die gewandte Staatskunſt der Bourbonen dem gedemüthigten Frankreich
erſtaunlich ſchnell wieder ſeine alte Stellung im Staatenſyſteme. Talley-
rand führte ſeinen Staat von den Träumen napoleoniſcher Weltherrſchaft
zurück zu jener nationalen Politik, die ſeit den Tagen Heinrichs IV. mit
allen Vorurtheilen und Gewohnheiten der Franzoſen feſt verwachſen war:
in der Zerſplitterung der Nachbarmächte, in der Begünſtigung der Klein-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0591" n="575"/><fw place="top" type="header">Schwenkung der engli&#x017F;chen Politik.</fw><lb/>
mit Freuden bereit, das Cabinet von St. James im Kampfe wider Ruß-<lb/>
land zu unter&#x017F;tützen. Ca&#x017F;tlereagh bat die Bourbonen, ihre Meinung über<lb/>
die polni&#x017F;che Frage den großen Mächten mitzutheilen und erkundigte &#x017F;ich<lb/>
zugleich bei &#x017F;einem Ge&#x017F;andten Wellington, ob Frankreich in der Lage &#x017F;ei,<lb/>
die&#x017F;er An&#x017F;icht durch die Waffen Nachdruck zu geben. Der ei&#x017F;erne Herzog<lb/>
erwiderte: &#x201E;die Lage der europäi&#x017F;chen Angelegenheiten wird nothwendiger-<lb/>
wei&#x017F;e England und Frankreich zu Schiedsrichtern auf dem Congre&#x017F;&#x017F;e<lb/>
machen, wenn die&#x017F;e Mächte &#x017F;ich ver&#x017F;tändigen, und ein &#x017F;olches Einver-<lb/>
&#x017F;tändniß mag den allgemeinen Frieden bewahren.&#x201C; Ca&#x017F;tlereagh dachte<lb/>
noch keineswegs &#x017F;ich von den alten Alliirten gänzlich loszu&#x017F;agen; vielmehr<lb/>
&#x017F;ah er nicht ohne Argwohn auf Frankreichs unberechenbaren Ehrgeiz.<lb/>
Er kannte das tiefe Friedensbedürfniß &#x017F;eines ermüdeten Landes und<lb/>
wußte, daß auch Oe&#x017F;terreich nur mit diplomati&#x017F;chen Waffen gegen Ruß-<lb/>
land kämpfen wollte. Doch indem er Frankreich einlud &#x017F;ich in die pol-<lb/>
ni&#x017F;chen Händel zu mi&#x017F;chen, verletzte er leichtfertig die Verträge von Reichen-<lb/>
bach und Teplitz, und die&#x017F;er gedankenlo&#x017F;e Vertragsbruch konnte, bei der<lb/>
Klugheit des franzö&#x017F;i&#x017F;chen, der Thorheit des engli&#x017F;chen Cabinets leicht zur<lb/>
Zer&#x017F;törung der Coalition führen.</p><lb/>
            <p>Auch in der niederländi&#x017F;chen Frage war England den preußi&#x017F;chen<lb/>
Plänen nicht gün&#x017F;tig. Während jenes Aufenthalts der Monarchen in<lb/>
London wurde die Vereinigung Belgiens und Hollands durch die Alliirten<lb/>
endgiltig anerkannt, aber das ewige Bündniß mit Deut&#x017F;chland, das Har-<lb/>
denberg vorge&#x017F;chlagen, fand weder bei den Holländern noch bei ihren<lb/>
briti&#x017F;chen Be&#x017F;chützern Anklang. Als ein völlig unabhängiger europäi&#x017F;cher<lb/>
Für&#x017F;t wollte der Oranier, ohne jede Gegenlei&#x017F;tung, &#x017F;ich des Schutzes der<lb/>
preußi&#x017F;chen Waffen erfreuen. Seine Politik verfolgte fortan den zwei-<lb/>
fachen Zweck, dem preußi&#x017F;chen Befreier möglich&#x017F;t viel deut&#x017F;ches Land auf<lb/>
dem linken Rheinufer zu entreißen und dem welfi&#x017F;chen Hau&#x017F;e die an<lb/>
Holland angrenzenden o&#x017F;tfrie&#x017F;i&#x017F;ch-we&#x017F;tphäli&#x017F;chen Provinzen zu ver&#x017F;chaffen,<lb/>
damit eine ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ene welfi&#x017F;ch-orani&#x017F;che Macht den Preußen im Nord-<lb/>
we&#x017F;ten das Gleichgewicht halte. Graf Mün&#x017F;ter wirkte in dem&#x017F;elben Sinne.<lb/>
Mit Ent&#x017F;etzen hörten die welfi&#x017F;chen Diplomaten von jenem preußi&#x017F;chen<lb/>
&#x201E;I&#x017F;thmus&#x201C;, der Hannover im Süden umfa&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ollte; nimmer durfte das<lb/>
&#x017F;tolze Welfenreich eine Enclave des verhaßten Nachbar&#x017F;taates werden.</p><lb/>
            <p>Während das &#x017F;iegreiche England &#x017F;eine Kraft vergeudete an die kün&#x017F;t-<lb/>
liche Bildung des niederländi&#x017F;chen Staates, der &#x017F;echzehn Jahre nachher<lb/>
unter Englands eigener Mitwirkung wieder zertrümmert ward, ver&#x017F;chaffte<lb/>
die gewandte Staatskun&#x017F;t der Bourbonen dem gedemüthigten Frankreich<lb/>
er&#x017F;taunlich &#x017F;chnell wieder &#x017F;eine alte Stellung im Staaten&#x017F;y&#x017F;teme. Talley-<lb/>
rand führte &#x017F;einen Staat von den Träumen napoleoni&#x017F;cher Weltherr&#x017F;chaft<lb/>
zurück zu jener nationalen Politik, die &#x017F;eit den Tagen Heinrichs <hi rendition="#aq">IV.</hi> mit<lb/>
allen Vorurtheilen und Gewohnheiten der Franzo&#x017F;en fe&#x017F;t verwach&#x017F;en war:<lb/>
in der Zer&#x017F;plitterung der Nachbarmächte, in der Begün&#x017F;tigung der Klein-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[575/0591] Schwenkung der engliſchen Politik. mit Freuden bereit, das Cabinet von St. James im Kampfe wider Ruß- land zu unterſtützen. Caſtlereagh bat die Bourbonen, ihre Meinung über die polniſche Frage den großen Mächten mitzutheilen und erkundigte ſich zugleich bei ſeinem Geſandten Wellington, ob Frankreich in der Lage ſei, dieſer Anſicht durch die Waffen Nachdruck zu geben. Der eiſerne Herzog erwiderte: „die Lage der europäiſchen Angelegenheiten wird nothwendiger- weiſe England und Frankreich zu Schiedsrichtern auf dem Congreſſe machen, wenn dieſe Mächte ſich verſtändigen, und ein ſolches Einver- ſtändniß mag den allgemeinen Frieden bewahren.“ Caſtlereagh dachte noch keineswegs ſich von den alten Alliirten gänzlich loszuſagen; vielmehr ſah er nicht ohne Argwohn auf Frankreichs unberechenbaren Ehrgeiz. Er kannte das tiefe Friedensbedürfniß ſeines ermüdeten Landes und wußte, daß auch Oeſterreich nur mit diplomatiſchen Waffen gegen Ruß- land kämpfen wollte. Doch indem er Frankreich einlud ſich in die pol- niſchen Händel zu miſchen, verletzte er leichtfertig die Verträge von Reichen- bach und Teplitz, und dieſer gedankenloſe Vertragsbruch konnte, bei der Klugheit des franzöſiſchen, der Thorheit des engliſchen Cabinets leicht zur Zerſtörung der Coalition führen. Auch in der niederländiſchen Frage war England den preußiſchen Plänen nicht günſtig. Während jenes Aufenthalts der Monarchen in London wurde die Vereinigung Belgiens und Hollands durch die Alliirten endgiltig anerkannt, aber das ewige Bündniß mit Deutſchland, das Har- denberg vorgeſchlagen, fand weder bei den Holländern noch bei ihren britiſchen Beſchützern Anklang. Als ein völlig unabhängiger europäiſcher Fürſt wollte der Oranier, ohne jede Gegenleiſtung, ſich des Schutzes der preußiſchen Waffen erfreuen. Seine Politik verfolgte fortan den zwei- fachen Zweck, dem preußiſchen Befreier möglichſt viel deutſches Land auf dem linken Rheinufer zu entreißen und dem welfiſchen Hauſe die an Holland angrenzenden oſtfrieſiſch-weſtphäliſchen Provinzen zu verſchaffen, damit eine geſchloſſene welfiſch-oraniſche Macht den Preußen im Nord- weſten das Gleichgewicht halte. Graf Münſter wirkte in demſelben Sinne. Mit Entſetzen hörten die welfiſchen Diplomaten von jenem preußiſchen „Iſthmus“, der Hannover im Süden umfaſſen ſollte; nimmer durfte das ſtolze Welfenreich eine Enclave des verhaßten Nachbarſtaates werden. Während das ſiegreiche England ſeine Kraft vergeudete an die künſt- liche Bildung des niederländiſchen Staates, der ſechzehn Jahre nachher unter Englands eigener Mitwirkung wieder zertrümmert ward, verſchaffte die gewandte Staatskunſt der Bourbonen dem gedemüthigten Frankreich erſtaunlich ſchnell wieder ſeine alte Stellung im Staatenſyſteme. Talley- rand führte ſeinen Staat von den Träumen napoleoniſcher Weltherrſchaft zurück zu jener nationalen Politik, die ſeit den Tagen Heinrichs IV. mit allen Vorurtheilen und Gewohnheiten der Franzoſen feſt verwachſen war: in der Zerſplitterung der Nachbarmächte, in der Begünſtigung der Klein-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/591
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 575. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/591>, abgerufen am 17.05.2024.