Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.Schwenkung der englischen Politik. mit Freuden bereit, das Cabinet von St. James im Kampfe wider Ruß-land zu unterstützen. Castlereagh bat die Bourbonen, ihre Meinung über die polnische Frage den großen Mächten mitzutheilen und erkundigte sich zugleich bei seinem Gesandten Wellington, ob Frankreich in der Lage sei, dieser Ansicht durch die Waffen Nachdruck zu geben. Der eiserne Herzog erwiderte: "die Lage der europäischen Angelegenheiten wird nothwendiger- weise England und Frankreich zu Schiedsrichtern auf dem Congresse machen, wenn diese Mächte sich verständigen, und ein solches Einver- ständniß mag den allgemeinen Frieden bewahren." Castlereagh dachte noch keineswegs sich von den alten Alliirten gänzlich loszusagen; vielmehr sah er nicht ohne Argwohn auf Frankreichs unberechenbaren Ehrgeiz. Er kannte das tiefe Friedensbedürfniß seines ermüdeten Landes und wußte, daß auch Oesterreich nur mit diplomatischen Waffen gegen Ruß- land kämpfen wollte. Doch indem er Frankreich einlud sich in die pol- nischen Händel zu mischen, verletzte er leichtfertig die Verträge von Reichen- bach und Teplitz, und dieser gedankenlose Vertragsbruch konnte, bei der Klugheit des französischen, der Thorheit des englischen Cabinets leicht zur Zerstörung der Coalition führen. Auch in der niederländischen Frage war England den preußischen Während das siegreiche England seine Kraft vergeudete an die künst- Schwenkung der engliſchen Politik. mit Freuden bereit, das Cabinet von St. James im Kampfe wider Ruß-land zu unterſtützen. Caſtlereagh bat die Bourbonen, ihre Meinung über die polniſche Frage den großen Mächten mitzutheilen und erkundigte ſich zugleich bei ſeinem Geſandten Wellington, ob Frankreich in der Lage ſei, dieſer Anſicht durch die Waffen Nachdruck zu geben. Der eiſerne Herzog erwiderte: „die Lage der europäiſchen Angelegenheiten wird nothwendiger- weiſe England und Frankreich zu Schiedsrichtern auf dem Congreſſe machen, wenn dieſe Mächte ſich verſtändigen, und ein ſolches Einver- ſtändniß mag den allgemeinen Frieden bewahren.“ Caſtlereagh dachte noch keineswegs ſich von den alten Alliirten gänzlich loszuſagen; vielmehr ſah er nicht ohne Argwohn auf Frankreichs unberechenbaren Ehrgeiz. Er kannte das tiefe Friedensbedürfniß ſeines ermüdeten Landes und wußte, daß auch Oeſterreich nur mit diplomatiſchen Waffen gegen Ruß- land kämpfen wollte. Doch indem er Frankreich einlud ſich in die pol- niſchen Händel zu miſchen, verletzte er leichtfertig die Verträge von Reichen- bach und Teplitz, und dieſer gedankenloſe Vertragsbruch konnte, bei der Klugheit des franzöſiſchen, der Thorheit des engliſchen Cabinets leicht zur Zerſtörung der Coalition führen. Auch in der niederländiſchen Frage war England den preußiſchen Während das ſiegreiche England ſeine Kraft vergeudete an die künſt- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0591" n="575"/><fw place="top" type="header">Schwenkung der engliſchen Politik.</fw><lb/> mit Freuden bereit, das Cabinet von St. James im Kampfe wider Ruß-<lb/> land zu unterſtützen. Caſtlereagh bat die Bourbonen, ihre Meinung über<lb/> die polniſche Frage den großen Mächten mitzutheilen und erkundigte ſich<lb/> zugleich bei ſeinem Geſandten Wellington, ob Frankreich in der Lage ſei,<lb/> dieſer Anſicht durch die Waffen Nachdruck zu geben. 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Schwenkung der engliſchen Politik.
mit Freuden bereit, das Cabinet von St. James im Kampfe wider Ruß-
land zu unterſtützen. Caſtlereagh bat die Bourbonen, ihre Meinung über
die polniſche Frage den großen Mächten mitzutheilen und erkundigte ſich
zugleich bei ſeinem Geſandten Wellington, ob Frankreich in der Lage ſei,
dieſer Anſicht durch die Waffen Nachdruck zu geben. Der eiſerne Herzog
erwiderte: „die Lage der europäiſchen Angelegenheiten wird nothwendiger-
weiſe England und Frankreich zu Schiedsrichtern auf dem Congreſſe
machen, wenn dieſe Mächte ſich verſtändigen, und ein ſolches Einver-
ſtändniß mag den allgemeinen Frieden bewahren.“ Caſtlereagh dachte
noch keineswegs ſich von den alten Alliirten gänzlich loszuſagen; vielmehr
ſah er nicht ohne Argwohn auf Frankreichs unberechenbaren Ehrgeiz.
Er kannte das tiefe Friedensbedürfniß ſeines ermüdeten Landes und
wußte, daß auch Oeſterreich nur mit diplomatiſchen Waffen gegen Ruß-
land kämpfen wollte. Doch indem er Frankreich einlud ſich in die pol-
niſchen Händel zu miſchen, verletzte er leichtfertig die Verträge von Reichen-
bach und Teplitz, und dieſer gedankenloſe Vertragsbruch konnte, bei der
Klugheit des franzöſiſchen, der Thorheit des engliſchen Cabinets leicht zur
Zerſtörung der Coalition führen.
Auch in der niederländiſchen Frage war England den preußiſchen
Plänen nicht günſtig. Während jenes Aufenthalts der Monarchen in
London wurde die Vereinigung Belgiens und Hollands durch die Alliirten
endgiltig anerkannt, aber das ewige Bündniß mit Deutſchland, das Har-
denberg vorgeſchlagen, fand weder bei den Holländern noch bei ihren
britiſchen Beſchützern Anklang. Als ein völlig unabhängiger europäiſcher
Fürſt wollte der Oranier, ohne jede Gegenleiſtung, ſich des Schutzes der
preußiſchen Waffen erfreuen. Seine Politik verfolgte fortan den zwei-
fachen Zweck, dem preußiſchen Befreier möglichſt viel deutſches Land auf
dem linken Rheinufer zu entreißen und dem welfiſchen Hauſe die an
Holland angrenzenden oſtfrieſiſch-weſtphäliſchen Provinzen zu verſchaffen,
damit eine geſchloſſene welfiſch-oraniſche Macht den Preußen im Nord-
weſten das Gleichgewicht halte. Graf Münſter wirkte in demſelben Sinne.
Mit Entſetzen hörten die welfiſchen Diplomaten von jenem preußiſchen
„Iſthmus“, der Hannover im Süden umfaſſen ſollte; nimmer durfte das
ſtolze Welfenreich eine Enclave des verhaßten Nachbarſtaates werden.
Während das ſiegreiche England ſeine Kraft vergeudete an die künſt-
liche Bildung des niederländiſchen Staates, der ſechzehn Jahre nachher
unter Englands eigener Mitwirkung wieder zertrümmert ward, verſchaffte
die gewandte Staatskunſt der Bourbonen dem gedemüthigten Frankreich
erſtaunlich ſchnell wieder ſeine alte Stellung im Staatenſyſteme. Talley-
rand führte ſeinen Staat von den Träumen napoleoniſcher Weltherrſchaft
zurück zu jener nationalen Politik, die ſeit den Tagen Heinrichs IV. mit
allen Vorurtheilen und Gewohnheiten der Franzoſen feſt verwachſen war:
in der Zerſplitterung der Nachbarmächte, in der Begünſtigung der Klein-
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