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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 4. Der Befreiungskrieg.

Also trat die geplante deutsche Centralbehörde in ihrem ursprüng-
lichen radicalen Sinne niemals ins Leben; der erste Versuch unitarischer
Politik gerieth nach halbem Anlauf ins Stocken. Noch ehe der große
Krieg begann, ward schon erkennbar, welche Macht der Particularismus
im Volke und in den Dynastien noch besaß. Die Fremdherrschaft war
reif zum Untergange; für den Staatsbau der deutschen Einheit fehlte
noch der Boden.


Zeiten der Noth heben den rechten Mann rasch an die rechte Stelle.
Da der König in seiner Schüchternheit sich nicht getraute nach dem
Brauche seiner Vorfahren das Heer selber zu führen, so durfte nur ein
Mann den Befehl über die preußische Hauptarmee übernehmen -- der
erste Feldsoldat der deutschen Heere, General Blücher. Wohin waren sie
doch, die Träume der gebildeten Menschenfreunde vom ewigen Frieden?
Gereift und gekräftigt in harter Prüfung glaubten die Deutschen wieder
an den Gott der Eisen wachsen ließ, und jene einfachen Tugenden ur-
sprünglicher Menschheit, die bis an das Ende der Geschichte der feste
Grund aller Größe der Völker bleiben werden, gelangten wieder zu ver-
dienten Ehren: der kriegerische Muth, die frische Kraft des begeisterten
Willens, die Wahrhaftigkeit des Hasses und der Liebe. In ihnen lag
Blüchers Stärke, und diese Nation, die sich so gern das Volk der Dichter
und der Denker nannte, beugte sich vor der Seelengröße des bildungs-
losen Mannes; sie fühlte, daß er werth war sie zu führen, daß der
Heldenzorn und die Siegesfreude der Hunderttausende sich in ihm ver-
körperten. Was hatte der Alte nicht Alles durchgemacht in dem halben
Jahrhundert, seit die Belling-Husaren einst den schwedischen Cornet ein-
fingen und der alte Belling selber den unbändigen Junker in Kunst und
Brauch der fridericianischen Reiter unterrichtete. Er hatte an der Peene
gegen die Schweden, bei Freiberg gegen die Kaiserlichen, in Polen gegen
die Confoederirten gefochten, war auf jenem unblutigen Siegeszuge durch
Holland dem Bürger und Bauern überall ein wohlwollender Beschützer
gewesen und dann während der rheinischen Feldzüge von Freund und
Feind bewundert worden. Die schneidige Tollkühnheit, die behende List,
die unermüdliche Ausdauer des alten Zieten lebten wieder auf in dem
neuen Könige der Husaren. Sein Lebelang blieb er der Ansicht, für
das Fußvolk genüge zur Noth der nachhaltige Muth, der Reiterführer
aber bedürfe einer angeborenen Begeisterung, um die seltenen und flüch-
tigen Augenblicke, die seiner Waffe eine große Wirkung erlaubten, immer
sofort mit Ungestüm zu ergreifen.

Seit dem Jahre 1806 und dem kühnen Zuge auf Lübeck war er
die Hoffnung der Armee; Scharnhorst lernte damals an Blüchers Seite,
daß man mit Muth und Willenskraft Alles auf der Welt überwinde und
sagte zu ihm: "Sie sind unser Anführer und Held und müßten Sie uns

I. 4. Der Befreiungskrieg.

Alſo trat die geplante deutſche Centralbehörde in ihrem urſprüng-
lichen radicalen Sinne niemals ins Leben; der erſte Verſuch unitariſcher
Politik gerieth nach halbem Anlauf ins Stocken. Noch ehe der große
Krieg begann, ward ſchon erkennbar, welche Macht der Particularismus
im Volke und in den Dynaſtien noch beſaß. Die Fremdherrſchaft war
reif zum Untergange; für den Staatsbau der deutſchen Einheit fehlte
noch der Boden.


Zeiten der Noth heben den rechten Mann raſch an die rechte Stelle.
Da der König in ſeiner Schüchternheit ſich nicht getraute nach dem
Brauche ſeiner Vorfahren das Heer ſelber zu führen, ſo durfte nur ein
Mann den Befehl über die preußiſche Hauptarmee übernehmen — der
erſte Feldſoldat der deutſchen Heere, General Blücher. Wohin waren ſie
doch, die Träume der gebildeten Menſchenfreunde vom ewigen Frieden?
Gereift und gekräftigt in harter Prüfung glaubten die Deutſchen wieder
an den Gott der Eiſen wachſen ließ, und jene einfachen Tugenden ur-
ſprünglicher Menſchheit, die bis an das Ende der Geſchichte der feſte
Grund aller Größe der Völker bleiben werden, gelangten wieder zu ver-
dienten Ehren: der kriegeriſche Muth, die friſche Kraft des begeiſterten
Willens, die Wahrhaftigkeit des Haſſes und der Liebe. In ihnen lag
Blüchers Stärke, und dieſe Nation, die ſich ſo gern das Volk der Dichter
und der Denker nannte, beugte ſich vor der Seelengröße des bildungs-
loſen Mannes; ſie fühlte, daß er werth war ſie zu führen, daß der
Heldenzorn und die Siegesfreude der Hunderttauſende ſich in ihm ver-
körperten. Was hatte der Alte nicht Alles durchgemacht in dem halben
Jahrhundert, ſeit die Belling-Huſaren einſt den ſchwediſchen Cornet ein-
fingen und der alte Belling ſelber den unbändigen Junker in Kunſt und
Brauch der fridericianiſchen Reiter unterrichtete. Er hatte an der Peene
gegen die Schweden, bei Freiberg gegen die Kaiſerlichen, in Polen gegen
die Confoederirten gefochten, war auf jenem unblutigen Siegeszuge durch
Holland dem Bürger und Bauern überall ein wohlwollender Beſchützer
geweſen und dann während der rheiniſchen Feldzüge von Freund und
Feind bewundert worden. Die ſchneidige Tollkühnheit, die behende Liſt,
die unermüdliche Ausdauer des alten Zieten lebten wieder auf in dem
neuen Könige der Huſaren. Sein Lebelang blieb er der Anſicht, für
das Fußvolk genüge zur Noth der nachhaltige Muth, der Reiterführer
aber bedürfe einer angeborenen Begeiſterung, um die ſeltenen und flüch-
tigen Augenblicke, die ſeiner Waffe eine große Wirkung erlaubten, immer
ſofort mit Ungeſtüm zu ergreifen.

Seit dem Jahre 1806 und dem kühnen Zuge auf Lübeck war er
die Hoffnung der Armee; Scharnhorſt lernte damals an Blüchers Seite,
daß man mit Muth und Willenskraft Alles auf der Welt überwinde und
ſagte zu ihm: „Sie ſind unſer Anführer und Held und müßten Sie uns

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[448/0464] I. 4. Der Befreiungskrieg. Alſo trat die geplante deutſche Centralbehörde in ihrem urſprüng- lichen radicalen Sinne niemals ins Leben; der erſte Verſuch unitariſcher Politik gerieth nach halbem Anlauf ins Stocken. Noch ehe der große Krieg begann, ward ſchon erkennbar, welche Macht der Particularismus im Volke und in den Dynaſtien noch beſaß. Die Fremdherrſchaft war reif zum Untergange; für den Staatsbau der deutſchen Einheit fehlte noch der Boden. Zeiten der Noth heben den rechten Mann raſch an die rechte Stelle. Da der König in ſeiner Schüchternheit ſich nicht getraute nach dem Brauche ſeiner Vorfahren das Heer ſelber zu führen, ſo durfte nur ein Mann den Befehl über die preußiſche Hauptarmee übernehmen — der erſte Feldſoldat der deutſchen Heere, General Blücher. Wohin waren ſie doch, die Träume der gebildeten Menſchenfreunde vom ewigen Frieden? Gereift und gekräftigt in harter Prüfung glaubten die Deutſchen wieder an den Gott der Eiſen wachſen ließ, und jene einfachen Tugenden ur- ſprünglicher Menſchheit, die bis an das Ende der Geſchichte der feſte Grund aller Größe der Völker bleiben werden, gelangten wieder zu ver- dienten Ehren: der kriegeriſche Muth, die friſche Kraft des begeiſterten Willens, die Wahrhaftigkeit des Haſſes und der Liebe. In ihnen lag Blüchers Stärke, und dieſe Nation, die ſich ſo gern das Volk der Dichter und der Denker nannte, beugte ſich vor der Seelengröße des bildungs- loſen Mannes; ſie fühlte, daß er werth war ſie zu führen, daß der Heldenzorn und die Siegesfreude der Hunderttauſende ſich in ihm ver- körperten. Was hatte der Alte nicht Alles durchgemacht in dem halben Jahrhundert, ſeit die Belling-Huſaren einſt den ſchwediſchen Cornet ein- fingen und der alte Belling ſelber den unbändigen Junker in Kunſt und Brauch der fridericianiſchen Reiter unterrichtete. Er hatte an der Peene gegen die Schweden, bei Freiberg gegen die Kaiſerlichen, in Polen gegen die Confoederirten gefochten, war auf jenem unblutigen Siegeszuge durch Holland dem Bürger und Bauern überall ein wohlwollender Beſchützer geweſen und dann während der rheiniſchen Feldzüge von Freund und Feind bewundert worden. Die ſchneidige Tollkühnheit, die behende Liſt, die unermüdliche Ausdauer des alten Zieten lebten wieder auf in dem neuen Könige der Huſaren. Sein Lebelang blieb er der Anſicht, für das Fußvolk genüge zur Noth der nachhaltige Muth, der Reiterführer aber bedürfe einer angeborenen Begeiſterung, um die ſeltenen und flüch- tigen Augenblicke, die ſeiner Waffe eine große Wirkung erlaubten, immer ſofort mit Ungeſtüm zu ergreifen. Seit dem Jahre 1806 und dem kühnen Zuge auf Lübeck war er die Hoffnung der Armee; Scharnhorſt lernte damals an Blüchers Seite, daß man mit Muth und Willenskraft Alles auf der Welt überwinde und ſagte zu ihm: „Sie ſind unſer Anführer und Held und müßten Sie uns

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 448. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/464>, abgerufen am 22.11.2024.