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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Der Aufruf an Mein Volk.
die der geistvolle Hippel in guter Stunde entworfen hatte. Mit herz-
lichem Vertrauen rief der König seine Brandenburger, Preußen, Schlesier,
Pommern und Litthauer bei ihren alten Stammesnamen an und entbot
sie zum heiligen Kampfe: "Keinen anderen Ausweg giebt es, als einen
ehrenvollen Frieden oder einen ruhmvollen Untergang. Auch diesem würdet
Ihr getrost entgegengehen, weil ehrlos der Preuße und der Deutsche nicht
zu leben vermag!" Und nun stand es auf, das alte waffengewaltige
Preußen, das Volk der Slavenkämpfe, der Schwedenschlachten und der
sieben Jahre, und ihm geschah wie jenem Helden der germanischen Sage,
der beim Anblick seiner Fesseln so in heißem Zorn entbrannte, daß die
Ketten schmolzen. Kein Zweifel, kein Abwägen der Uebermacht des Feindes;
Alle dachten wie Fichte: "Nicht Siegen oder Sterben soll unsere Losung
sein, sondern Siegen schlechtweg!" "Mag Napoleon noch so oft Schlachten
gewinnen -- schrieb Scharnhorst -- die ganze Anlage des Krieges ist
so, daß im Verlaufe dieses Feldzugs uns sowohl die Ueberlegenheit als
der Sieg nicht entgehen kann." Schon der Aufruf vom 3. Februar hatte
Erfolge, welche Niemand außer Scharnhorst für möglich gehalten. Es
war der stolzeste Augenblick in Scharnhorsts Leben, als er den König
einst in Breslau ans Fenster führte und ihm die jubelnden Schaaren
der Freiwilligen zeigte, wie sie in malerischem Gewimmel, zu Fuß, zu Roß,
zu Wagen, ein endloser Zug, sich an den alten Giebelhäusern des Ringes
vorüberdrängten. Dem Könige stürzten die Thränen aus den Augen.
Treu und gewissenhaft hatte er seines schweren Amtes gewartet in dieser
langen Zeit der Leiden und oftmals richtiger gerechnet als die Kriegspartei;
was ihm fehlte, war der frohe Glaube an die Hingebung seiner Preußen,
jetzt fand er ihn wieder.

Seit dem 17. März traten auch die breiten Massen des Volkes
in das Heer ein. Durch den Wetteifer aller Stände wurde die größte
kriegerische Leistung möglich, welche die Geschichte von gesitteten Nationen
kennt. Dies verarmte kleine Volk verstärkte die 46,000 Mann der alten
Linienarmee durch 95,000 Rekruten und stellte außerdem über 10,000 frei-
willige Jäger, sowie 120,000 Mann Landwehr, zusammen 271,000 Mann,
einen Soldaten auf siebzehn Einwohner, unvergleichlich mehr, als Frank-
reich einst unter dem Drucke der Schreckensherrschaft aufgeboten hatte --
das Alles noch im Verlaufe des Sommers, ungerechnet die starken Nach-
schübe, welche späterhin zum Heere abgingen. Natürlich, daß die ent-
lassenen Offiziere sich sofort herbeidrängten, um die Ehre ihrer alten
Fahnen wiederherzustellen. Sobald General Oppen auf seinem mär-
kischen Landgute von dem Anrücken des vaterländischen Heeres hörte, nahm
er seinen alten Säbel von der Wand und ritt, wie ein Rittersmann in
den Tagen der Wendenkriege, mit einem Knechte spornstreichs hinüber
zu seinem alten Waffengefährten Bülow. Der stellt den herculischen
Mann mit den blitzenden Augen lachend seinen Offizieren vor: "Das

Der Aufruf an Mein Volk.
die der geiſtvolle Hippel in guter Stunde entworfen hatte. Mit herz-
lichem Vertrauen rief der König ſeine Brandenburger, Preußen, Schleſier,
Pommern und Litthauer bei ihren alten Stammesnamen an und entbot
ſie zum heiligen Kampfe: „Keinen anderen Ausweg giebt es, als einen
ehrenvollen Frieden oder einen ruhmvollen Untergang. Auch dieſem würdet
Ihr getroſt entgegengehen, weil ehrlos der Preuße und der Deutſche nicht
zu leben vermag!“ Und nun ſtand es auf, das alte waffengewaltige
Preußen, das Volk der Slavenkämpfe, der Schwedenſchlachten und der
ſieben Jahre, und ihm geſchah wie jenem Helden der germaniſchen Sage,
der beim Anblick ſeiner Feſſeln ſo in heißem Zorn entbrannte, daß die
Ketten ſchmolzen. Kein Zweifel, kein Abwägen der Uebermacht des Feindes;
Alle dachten wie Fichte: „Nicht Siegen oder Sterben ſoll unſere Loſung
ſein, ſondern Siegen ſchlechtweg!“ „Mag Napoleon noch ſo oft Schlachten
gewinnen — ſchrieb Scharnhorſt — die ganze Anlage des Krieges iſt
ſo, daß im Verlaufe dieſes Feldzugs uns ſowohl die Ueberlegenheit als
der Sieg nicht entgehen kann.“ Schon der Aufruf vom 3. Februar hatte
Erfolge, welche Niemand außer Scharnhorſt für möglich gehalten. Es
war der ſtolzeſte Augenblick in Scharnhorſts Leben, als er den König
einſt in Breslau ans Fenſter führte und ihm die jubelnden Schaaren
der Freiwilligen zeigte, wie ſie in maleriſchem Gewimmel, zu Fuß, zu Roß,
zu Wagen, ein endloſer Zug, ſich an den alten Giebelhäuſern des Ringes
vorüberdrängten. Dem Könige ſtürzten die Thränen aus den Augen.
Treu und gewiſſenhaft hatte er ſeines ſchweren Amtes gewartet in dieſer
langen Zeit der Leiden und oftmals richtiger gerechnet als die Kriegspartei;
was ihm fehlte, war der frohe Glaube an die Hingebung ſeiner Preußen,
jetzt fand er ihn wieder.

Seit dem 17. März traten auch die breiten Maſſen des Volkes
in das Heer ein. Durch den Wetteifer aller Stände wurde die größte
kriegeriſche Leiſtung möglich, welche die Geſchichte von geſitteten Nationen
kennt. Dies verarmte kleine Volk verſtärkte die 46,000 Mann der alten
Linienarmee durch 95,000 Rekruten und ſtellte außerdem über 10,000 frei-
willige Jäger, ſowie 120,000 Mann Landwehr, zuſammen 271,000 Mann,
einen Soldaten auf ſiebzehn Einwohner, unvergleichlich mehr, als Frank-
reich einſt unter dem Drucke der Schreckensherrſchaft aufgeboten hatte —
das Alles noch im Verlaufe des Sommers, ungerechnet die ſtarken Nach-
ſchübe, welche ſpäterhin zum Heere abgingen. Natürlich, daß die ent-
laſſenen Offiziere ſich ſofort herbeidrängten, um die Ehre ihrer alten
Fahnen wiederherzuſtellen. Sobald General Oppen auf ſeinem mär-
kiſchen Landgute von dem Anrücken des vaterländiſchen Heeres hörte, nahm
er ſeinen alten Säbel von der Wand und ritt, wie ein Rittersmann in
den Tagen der Wendenkriege, mit einem Knechte ſpornſtreichs hinüber
zu ſeinem alten Waffengefährten Bülow. Der ſtellt den herculiſchen
Mann mit den blitzenden Augen lachend ſeinen Offizieren vor: „Das

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[429/0445] Der Aufruf an Mein Volk. die der geiſtvolle Hippel in guter Stunde entworfen hatte. Mit herz- lichem Vertrauen rief der König ſeine Brandenburger, Preußen, Schleſier, Pommern und Litthauer bei ihren alten Stammesnamen an und entbot ſie zum heiligen Kampfe: „Keinen anderen Ausweg giebt es, als einen ehrenvollen Frieden oder einen ruhmvollen Untergang. Auch dieſem würdet Ihr getroſt entgegengehen, weil ehrlos der Preuße und der Deutſche nicht zu leben vermag!“ Und nun ſtand es auf, das alte waffengewaltige Preußen, das Volk der Slavenkämpfe, der Schwedenſchlachten und der ſieben Jahre, und ihm geſchah wie jenem Helden der germaniſchen Sage, der beim Anblick ſeiner Feſſeln ſo in heißem Zorn entbrannte, daß die Ketten ſchmolzen. Kein Zweifel, kein Abwägen der Uebermacht des Feindes; Alle dachten wie Fichte: „Nicht Siegen oder Sterben ſoll unſere Loſung ſein, ſondern Siegen ſchlechtweg!“ „Mag Napoleon noch ſo oft Schlachten gewinnen — ſchrieb Scharnhorſt — die ganze Anlage des Krieges iſt ſo, daß im Verlaufe dieſes Feldzugs uns ſowohl die Ueberlegenheit als der Sieg nicht entgehen kann.“ Schon der Aufruf vom 3. Februar hatte Erfolge, welche Niemand außer Scharnhorſt für möglich gehalten. Es war der ſtolzeſte Augenblick in Scharnhorſts Leben, als er den König einſt in Breslau ans Fenſter führte und ihm die jubelnden Schaaren der Freiwilligen zeigte, wie ſie in maleriſchem Gewimmel, zu Fuß, zu Roß, zu Wagen, ein endloſer Zug, ſich an den alten Giebelhäuſern des Ringes vorüberdrängten. Dem Könige ſtürzten die Thränen aus den Augen. Treu und gewiſſenhaft hatte er ſeines ſchweren Amtes gewartet in dieſer langen Zeit der Leiden und oftmals richtiger gerechnet als die Kriegspartei; was ihm fehlte, war der frohe Glaube an die Hingebung ſeiner Preußen, jetzt fand er ihn wieder. Seit dem 17. März traten auch die breiten Maſſen des Volkes in das Heer ein. Durch den Wetteifer aller Stände wurde die größte kriegeriſche Leiſtung möglich, welche die Geſchichte von geſitteten Nationen kennt. Dies verarmte kleine Volk verſtärkte die 46,000 Mann der alten Linienarmee durch 95,000 Rekruten und ſtellte außerdem über 10,000 frei- willige Jäger, ſowie 120,000 Mann Landwehr, zuſammen 271,000 Mann, einen Soldaten auf ſiebzehn Einwohner, unvergleichlich mehr, als Frank- reich einſt unter dem Drucke der Schreckensherrſchaft aufgeboten hatte — das Alles noch im Verlaufe des Sommers, ungerechnet die ſtarken Nach- ſchübe, welche ſpäterhin zum Heere abgingen. Natürlich, daß die ent- laſſenen Offiziere ſich ſofort herbeidrängten, um die Ehre ihrer alten Fahnen wiederherzuſtellen. Sobald General Oppen auf ſeinem mär- kiſchen Landgute von dem Anrücken des vaterländiſchen Heeres hörte, nahm er ſeinen alten Säbel von der Wand und ritt, wie ein Rittersmann in den Tagen der Wendenkriege, mit einem Knechte ſpornſtreichs hinüber zu ſeinem alten Waffengefährten Bülow. Der ſtellt den herculiſchen Mann mit den blitzenden Augen lachend ſeinen Offizieren vor: „Das

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/445>, abgerufen am 22.11.2024.