Allerhand geringfügige Umstände haben diesen schlimmen Schein ge- fördert. Das russische Heer glänzte von jeher durch eine Ueberzahl mit Orden beladener Generale; das verarmte Preußen ließ seine Brigaden durch Obersten, seine Regimenter durch Majore führen; daher fiel, wenn ein Zusammenwirken der Alliirten nöthig ward, der Oberbefehl fast immer in russische Hände. Auch die schüchterne Zurückhaltung des Königs, der so willig neben der glänzenden Erscheinung des Czaren verschwand, ja selbst seine edle soldatische Einfachheit war für Preußens diplomatische Stellung nachtheilig. Welch ein Abstand, wenn man den leichten Halb- wagen des Königs mit kleinem Gefolge daherrollen sah, und nachher den ungeheuren Wagentroß des Czaren oder gar die vielen Tausende von Maul- eseln, welche das Gepäck des Kaisers Franz mitsammt dem berüchtigten k. k. Leib-Grenadier-Streichquartett schleppten! Der Staat, in dessen Heere die sittliche Kraft des großen Krieges lag, erschien vor den Augen der Diplomatie wie eine Macht zweiten Ranges neben den beiden Kaiser- höfen, und in den verwickelten Verhältnissen eines Coalitionskrieges ist der Schein der Macht fast ebenso werthvoll wie die Macht selber. --
Es war die höchste Zeit, daß die Ungewißheit ein Ende nahm. Wäh- rend Knesebeck in Kalisch zauderte, geriethen die zwischen den kriegführen- den Parteien eingeklemmten preußischen Generale aus einer falschen Stel- lung in die andere. Die Russen drangen westwärts vor, sehr langsam freilich, da sich die Unzulänglichkeit ihrer Streitkräfte mit jedem Tage deutlicher herausstellte. Erst zu Anfang Februars erschienen die ersten Kosaken in der Neumark. Ueberall nahm das Volk die wildfremden Bundesgenossen mit offenen Armen auf. Welcher Jubel, wenn der Basch- kire seinen Bogen und seine Pfeile betasten ließ, wenn der bärtige Kosak, den Mantel behangen mit Ehrenlegionskreuzen und den Fetzen französi- scher Uniformen, seine Reiterkünste zeigte; glückselig jeder deutsche Junge, den die gutmüthigen Kinderfreunde auf ihren Kleppern aufsitzen ließen. Alle Welt sang das neue Lied "Schöne Minka, ich muß scheiden", das ein gefühlvoller Sohn der Steppe am Ufer des blauen Don gedichtet haben sollte. Besorgte Mütter hielten es freilich für nöthig ihre Kleinen, wenn sie von den Fremden abgeküßt waren, in die Badewanne zu stecken, und als man mit den diebischen Neigungen dieses Kindervolkes näher bekannt wurde, erkaltete die Begeisterung ein wenig.
Mit Sorgen sah York den Vormarsch der Russen; er fühlte, daß man die Befreiung der Marken nimmermehr den Fremden allein überlassen durfte, und brach mit seinem Corps auf um die Weichsel zu überschreiten. Von ähnlichen Zweifeln wurde General Bülow gepeinigt; der hatte sich wochenlang geschickt zwischen den Zumuthungen der Russen und der Fran- zosen hindurchgewunden, mitten zwischen den Kriegführenden sein Reserve- corps verstärkt und völlig selbständig erhalten. Flehentlich bat er den König, das von Allen ersehnte befreiende Wort zu sprechen: "freiwillig
I. 4. Der Befreiungskrieg.
Allerhand geringfügige Umſtände haben dieſen ſchlimmen Schein ge- fördert. Das ruſſiſche Heer glänzte von jeher durch eine Ueberzahl mit Orden beladener Generale; das verarmte Preußen ließ ſeine Brigaden durch Oberſten, ſeine Regimenter durch Majore führen; daher fiel, wenn ein Zuſammenwirken der Alliirten nöthig ward, der Oberbefehl faſt immer in ruſſiſche Hände. Auch die ſchüchterne Zurückhaltung des Königs, der ſo willig neben der glänzenden Erſcheinung des Czaren verſchwand, ja ſelbſt ſeine edle ſoldatiſche Einfachheit war für Preußens diplomatiſche Stellung nachtheilig. Welch ein Abſtand, wenn man den leichten Halb- wagen des Königs mit kleinem Gefolge daherrollen ſah, und nachher den ungeheuren Wagentroß des Czaren oder gar die vielen Tauſende von Maul- eſeln, welche das Gepäck des Kaiſers Franz mitſammt dem berüchtigten k. k. Leib-Grenadier-Streichquartett ſchleppten! Der Staat, in deſſen Heere die ſittliche Kraft des großen Krieges lag, erſchien vor den Augen der Diplomatie wie eine Macht zweiten Ranges neben den beiden Kaiſer- höfen, und in den verwickelten Verhältniſſen eines Coalitionskrieges iſt der Schein der Macht faſt ebenſo werthvoll wie die Macht ſelber. —
Es war die höchſte Zeit, daß die Ungewißheit ein Ende nahm. Wäh- rend Kneſebeck in Kaliſch zauderte, geriethen die zwiſchen den kriegführen- den Parteien eingeklemmten preußiſchen Generale aus einer falſchen Stel- lung in die andere. Die Ruſſen drangen weſtwärts vor, ſehr langſam freilich, da ſich die Unzulänglichkeit ihrer Streitkräfte mit jedem Tage deutlicher herausſtellte. Erſt zu Anfang Februars erſchienen die erſten Koſaken in der Neumark. Ueberall nahm das Volk die wildfremden Bundesgenoſſen mit offenen Armen auf. Welcher Jubel, wenn der Baſch- kire ſeinen Bogen und ſeine Pfeile betaſten ließ, wenn der bärtige Koſak, den Mantel behangen mit Ehrenlegionskreuzen und den Fetzen franzöſi- ſcher Uniformen, ſeine Reiterkünſte zeigte; glückſelig jeder deutſche Junge, den die gutmüthigen Kinderfreunde auf ihren Kleppern aufſitzen ließen. Alle Welt ſang das neue Lied „Schöne Minka, ich muß ſcheiden“, das ein gefühlvoller Sohn der Steppe am Ufer des blauen Don gedichtet haben ſollte. Beſorgte Mütter hielten es freilich für nöthig ihre Kleinen, wenn ſie von den Fremden abgeküßt waren, in die Badewanne zu ſtecken, und als man mit den diebiſchen Neigungen dieſes Kindervolkes näher bekannt wurde, erkaltete die Begeiſterung ein wenig.
Mit Sorgen ſah York den Vormarſch der Ruſſen; er fühlte, daß man die Befreiung der Marken nimmermehr den Fremden allein überlaſſen durfte, und brach mit ſeinem Corps auf um die Weichſel zu überſchreiten. Von ähnlichen Zweifeln wurde General Bülow gepeinigt; der hatte ſich wochenlang geſchickt zwiſchen den Zumuthungen der Ruſſen und der Fran- zoſen hindurchgewunden, mitten zwiſchen den Kriegführenden ſein Reſerve- corps verſtärkt und völlig ſelbſtändig erhalten. Flehentlich bat er den König, das von Allen erſehnte befreiende Wort zu ſprechen: „freiwillig
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I. 4. Der Befreiungskrieg.
Allerhand geringfügige Umſtände haben dieſen ſchlimmen Schein ge-
fördert. Das ruſſiſche Heer glänzte von jeher durch eine Ueberzahl mit
Orden beladener Generale; das verarmte Preußen ließ ſeine Brigaden
durch Oberſten, ſeine Regimenter durch Majore führen; daher fiel, wenn
ein Zuſammenwirken der Alliirten nöthig ward, der Oberbefehl faſt immer
in ruſſiſche Hände. Auch die ſchüchterne Zurückhaltung des Königs, der
ſo willig neben der glänzenden Erſcheinung des Czaren verſchwand, ja
ſelbſt ſeine edle ſoldatiſche Einfachheit war für Preußens diplomatiſche
Stellung nachtheilig. Welch ein Abſtand, wenn man den leichten Halb-
wagen des Königs mit kleinem Gefolge daherrollen ſah, und nachher den
ungeheuren Wagentroß des Czaren oder gar die vielen Tauſende von Maul-
eſeln, welche das Gepäck des Kaiſers Franz mitſammt dem berüchtigten
k. k. Leib-Grenadier-Streichquartett ſchleppten! Der Staat, in deſſen
Heere die ſittliche Kraft des großen Krieges lag, erſchien vor den Augen
der Diplomatie wie eine Macht zweiten Ranges neben den beiden Kaiſer-
höfen, und in den verwickelten Verhältniſſen eines Coalitionskrieges iſt
der Schein der Macht faſt ebenſo werthvoll wie die Macht ſelber. —
Es war die höchſte Zeit, daß die Ungewißheit ein Ende nahm. Wäh-
rend Kneſebeck in Kaliſch zauderte, geriethen die zwiſchen den kriegführen-
den Parteien eingeklemmten preußiſchen Generale aus einer falſchen Stel-
lung in die andere. Die Ruſſen drangen weſtwärts vor, ſehr langſam
freilich, da ſich die Unzulänglichkeit ihrer Streitkräfte mit jedem Tage
deutlicher herausſtellte. Erſt zu Anfang Februars erſchienen die erſten
Koſaken in der Neumark. Ueberall nahm das Volk die wildfremden
Bundesgenoſſen mit offenen Armen auf. Welcher Jubel, wenn der Baſch-
kire ſeinen Bogen und ſeine Pfeile betaſten ließ, wenn der bärtige Koſak,
den Mantel behangen mit Ehrenlegionskreuzen und den Fetzen franzöſi-
ſcher Uniformen, ſeine Reiterkünſte zeigte; glückſelig jeder deutſche Junge,
den die gutmüthigen Kinderfreunde auf ihren Kleppern aufſitzen ließen.
Alle Welt ſang das neue Lied „Schöne Minka, ich muß ſcheiden“, das
ein gefühlvoller Sohn der Steppe am Ufer des blauen Don gedichtet
haben ſollte. Beſorgte Mütter hielten es freilich für nöthig ihre Kleinen,
wenn ſie von den Fremden abgeküßt waren, in die Badewanne zu ſtecken,
und als man mit den diebiſchen Neigungen dieſes Kindervolkes näher
bekannt wurde, erkaltete die Begeiſterung ein wenig.
Mit Sorgen ſah York den Vormarſch der Ruſſen; er fühlte, daß
man die Befreiung der Marken nimmermehr den Fremden allein überlaſſen
durfte, und brach mit ſeinem Corps auf um die Weichſel zu überſchreiten.
Von ähnlichen Zweifeln wurde General Bülow gepeinigt; der hatte ſich
wochenlang geſchickt zwiſchen den Zumuthungen der Ruſſen und der Fran-
zoſen hindurchgewunden, mitten zwiſchen den Kriegführenden ſein Reſerve-
corps verſtärkt und völlig ſelbſtändig erhalten. Flehentlich bat er den
König, das von Allen erſehnte befreiende Wort zu ſprechen: „freiwillig
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/442>, abgerufen am 22.11.2024.
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