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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 4. Der Befreiungskrieg.
stürze. Friedrich Wilhelm versagte die Erlaubniß. Das Volk gehorchte
schweigend, obgleich die hastigen Neuerungen des Staatskanzlers viel Un-
willen, gerechten und ungerechten, gegen die Regierung hervorgerufen hatten,
und so geschah was der Barmherzigkeit und dem gesetzlichen Sinne jenes
tapferen Geschlechts gleichmäßig zur Ehre gereicht: diese Schaaren wehr-
loser, tödlich gehaßter Feinde zogen sicher ihres Wegs durch das preußische
Land. Da und dort lärmte der Pöbel in wüster Schadenfreude, die
Schuljugend ließ sich's nicht nehmen die Flüchtlinge durch den Schreckens-
ruf "Kosak" aus der Rast aufzuscheuchen. Es geschah wohl, daß rhein-
bündischen Offizieren das rothe Band von der Brust gerissen wurde; diese
Landesverräther haßte das Volk noch grimmiger als die Franzosen selber.
Die Masse der Unglücklichen blieb unbelästigt, fand in preußischen Häusern
Obdach und Pflege. Der Anblick des grauenhaften Elends erschütterte selbst
rohe Gemüther; den kleinen Leuten schien es sündlich sich an denen zu ver-
greifen, die Gott selbst geschlagen. Unter den Tausenden, die also entkamen,
war die große Mehrzahl der Generale und Obersten des Imperators; die
deutsche Gutherzigkeit rettete ihm seine Heerführer. Was aber bestimmte die
Haltung des Königs? Wahrlich nicht allein seine peinliche Gewissenhaftig-
keit, die selbst den heiligen Kampf der Nothwehr nicht ohne unanfechtbaren
Rechtsgrund beginnen mochte, sondern die richtige Erkenntniß der militäri-
schen Lage. Ein vorzeitiger Losbruch ungeordneter Massen war das sichere
Verderben des Staates. Es galt, unter den Augen des Feindes das
Heer, das ihn schlagen sollte, erst zu schaffen, den Bestand der Streit-
kräfte zu versechsfachen und unterdessen die Allianz mit den beiden an-
deren Ostmächten abzuschließen. Alles dies ward nur möglich durch die
Mittel der Arglist, welche der erfinderische Kopf des Staatskanzlers an-
gab. Er spielte den treuen Verbündeten Napoleons, versicherte beharr-
lich, daß seine Rüstungen für die Fortführung des russischen Krieges be-
stimmt seien.

Aber selbst wenn die geheimen Verhandlungen günstigen Fortgang
nahmen und eine Coalition der sämmtlichen alten Mächte zu Stande kam,
so blieb Preußens politische Lage noch immer sehr nachtheilig, fast ver-
zweifelt. Gewiß bedurfte Rußland der preußischen Hilfe. Denn hielt der
König bei dem französischen Bunde aus, so wurde die schwache schlecht-
gerüstete Armee des Czaren von dem zurückkehrenden Napoleon unzweifel-
haft mit zermalmender Uebermacht vernichtet bevor der Nachschub aus
dem fernen Osten herankommen konnte; der Eroberer, gewitzigt durch das
Unglück des vergangenen Winters, hätte sicherlich nicht zum zweiten male
den abenteuerlichen Zug in das Innere des weiten Reiches gewagt, son-
dern sich begnügt, die Ostseeprovinzen und die polnisch-litthauischen Lande
von dem Czarenreiche abzureißen. Trotzdem standen die Aussichten für
die alten Mächte sehr ungleich. Rußland und England hatten während
der jüngsten Jahrzehnte ihre Macht erheblich vergrößert: jenes in Polen

I. 4. Der Befreiungskrieg.
ſtürze. Friedrich Wilhelm verſagte die Erlaubniß. Das Volk gehorchte
ſchweigend, obgleich die haſtigen Neuerungen des Staatskanzlers viel Un-
willen, gerechten und ungerechten, gegen die Regierung hervorgerufen hatten,
und ſo geſchah was der Barmherzigkeit und dem geſetzlichen Sinne jenes
tapferen Geſchlechts gleichmäßig zur Ehre gereicht: dieſe Schaaren wehr-
loſer, tödlich gehaßter Feinde zogen ſicher ihres Wegs durch das preußiſche
Land. Da und dort lärmte der Pöbel in wüſter Schadenfreude, die
Schuljugend ließ ſich’s nicht nehmen die Flüchtlinge durch den Schreckens-
ruf „Koſak“ aus der Raſt aufzuſcheuchen. Es geſchah wohl, daß rhein-
bündiſchen Offizieren das rothe Band von der Bruſt geriſſen wurde; dieſe
Landesverräther haßte das Volk noch grimmiger als die Franzoſen ſelber.
Die Maſſe der Unglücklichen blieb unbeläſtigt, fand in preußiſchen Häuſern
Obdach und Pflege. Der Anblick des grauenhaften Elends erſchütterte ſelbſt
rohe Gemüther; den kleinen Leuten ſchien es ſündlich ſich an denen zu ver-
greifen, die Gott ſelbſt geſchlagen. Unter den Tauſenden, die alſo entkamen,
war die große Mehrzahl der Generale und Oberſten des Imperators; die
deutſche Gutherzigkeit rettete ihm ſeine Heerführer. Was aber beſtimmte die
Haltung des Königs? Wahrlich nicht allein ſeine peinliche Gewiſſenhaftig-
keit, die ſelbſt den heiligen Kampf der Nothwehr nicht ohne unanfechtbaren
Rechtsgrund beginnen mochte, ſondern die richtige Erkenntniß der militäri-
ſchen Lage. Ein vorzeitiger Losbruch ungeordneter Maſſen war das ſichere
Verderben des Staates. Es galt, unter den Augen des Feindes das
Heer, das ihn ſchlagen ſollte, erſt zu ſchaffen, den Beſtand der Streit-
kräfte zu verſechsfachen und unterdeſſen die Allianz mit den beiden an-
deren Oſtmächten abzuſchließen. Alles dies ward nur möglich durch die
Mittel der Argliſt, welche der erfinderiſche Kopf des Staatskanzlers an-
gab. Er ſpielte den treuen Verbündeten Napoleons, verſicherte beharr-
lich, daß ſeine Rüſtungen für die Fortführung des ruſſiſchen Krieges be-
ſtimmt ſeien.

Aber ſelbſt wenn die geheimen Verhandlungen günſtigen Fortgang
nahmen und eine Coalition der ſämmtlichen alten Mächte zu Stande kam,
ſo blieb Preußens politiſche Lage noch immer ſehr nachtheilig, faſt ver-
zweifelt. Gewiß bedurfte Rußland der preußiſchen Hilfe. Denn hielt der
König bei dem franzöſiſchen Bunde aus, ſo wurde die ſchwache ſchlecht-
gerüſtete Armee des Czaren von dem zurückkehrenden Napoleon unzweifel-
haft mit zermalmender Uebermacht vernichtet bevor der Nachſchub aus
dem fernen Oſten herankommen konnte; der Eroberer, gewitzigt durch das
Unglück des vergangenen Winters, hätte ſicherlich nicht zum zweiten male
den abenteuerlichen Zug in das Innere des weiten Reiches gewagt, ſon-
dern ſich begnügt, die Oſtſeeprovinzen und die polniſch-litthauiſchen Lande
von dem Czarenreiche abzureißen. Trotzdem ſtanden die Ausſichten für
die alten Mächte ſehr ungleich. Rußland und England hatten während
der jüngſten Jahrzehnte ihre Macht erheblich vergrößert: jenes in Polen

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[406/0422] I. 4. Der Befreiungskrieg. ſtürze. Friedrich Wilhelm verſagte die Erlaubniß. Das Volk gehorchte ſchweigend, obgleich die haſtigen Neuerungen des Staatskanzlers viel Un- willen, gerechten und ungerechten, gegen die Regierung hervorgerufen hatten, und ſo geſchah was der Barmherzigkeit und dem geſetzlichen Sinne jenes tapferen Geſchlechts gleichmäßig zur Ehre gereicht: dieſe Schaaren wehr- loſer, tödlich gehaßter Feinde zogen ſicher ihres Wegs durch das preußiſche Land. Da und dort lärmte der Pöbel in wüſter Schadenfreude, die Schuljugend ließ ſich’s nicht nehmen die Flüchtlinge durch den Schreckens- ruf „Koſak“ aus der Raſt aufzuſcheuchen. Es geſchah wohl, daß rhein- bündiſchen Offizieren das rothe Band von der Bruſt geriſſen wurde; dieſe Landesverräther haßte das Volk noch grimmiger als die Franzoſen ſelber. Die Maſſe der Unglücklichen blieb unbeläſtigt, fand in preußiſchen Häuſern Obdach und Pflege. Der Anblick des grauenhaften Elends erſchütterte ſelbſt rohe Gemüther; den kleinen Leuten ſchien es ſündlich ſich an denen zu ver- greifen, die Gott ſelbſt geſchlagen. Unter den Tauſenden, die alſo entkamen, war die große Mehrzahl der Generale und Oberſten des Imperators; die deutſche Gutherzigkeit rettete ihm ſeine Heerführer. Was aber beſtimmte die Haltung des Königs? Wahrlich nicht allein ſeine peinliche Gewiſſenhaftig- keit, die ſelbſt den heiligen Kampf der Nothwehr nicht ohne unanfechtbaren Rechtsgrund beginnen mochte, ſondern die richtige Erkenntniß der militäri- ſchen Lage. Ein vorzeitiger Losbruch ungeordneter Maſſen war das ſichere Verderben des Staates. Es galt, unter den Augen des Feindes das Heer, das ihn ſchlagen ſollte, erſt zu ſchaffen, den Beſtand der Streit- kräfte zu verſechsfachen und unterdeſſen die Allianz mit den beiden an- deren Oſtmächten abzuſchließen. Alles dies ward nur möglich durch die Mittel der Argliſt, welche der erfinderiſche Kopf des Staatskanzlers an- gab. Er ſpielte den treuen Verbündeten Napoleons, verſicherte beharr- lich, daß ſeine Rüſtungen für die Fortführung des ruſſiſchen Krieges be- ſtimmt ſeien. Aber ſelbſt wenn die geheimen Verhandlungen günſtigen Fortgang nahmen und eine Coalition der ſämmtlichen alten Mächte zu Stande kam, ſo blieb Preußens politiſche Lage noch immer ſehr nachtheilig, faſt ver- zweifelt. Gewiß bedurfte Rußland der preußiſchen Hilfe. Denn hielt der König bei dem franzöſiſchen Bunde aus, ſo wurde die ſchwache ſchlecht- gerüſtete Armee des Czaren von dem zurückkehrenden Napoleon unzweifel- haft mit zermalmender Uebermacht vernichtet bevor der Nachſchub aus dem fernen Oſten herankommen konnte; der Eroberer, gewitzigt durch das Unglück des vergangenen Winters, hätte ſicherlich nicht zum zweiten male den abenteuerlichen Zug in das Innere des weiten Reiches gewagt, ſon- dern ſich begnügt, die Oſtſeeprovinzen und die polniſch-litthauiſchen Lande von dem Czarenreiche abzureißen. Trotzdem ſtanden die Ausſichten für die alten Mächte ſehr ungleich. Rußland und England hatten während der jüngſten Jahrzehnte ihre Macht erheblich vergrößert: jenes in Polen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/422>, abgerufen am 23.11.2024.