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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 3. Preußens Erhebung.
allen Einfluß; der deutsche Freiherr behauptete sich in der Gunst des
Czaren und zeigte bereits in einer Denkschrift der russischen Regierung
die Mittel, welche ihr nachher ermöglichten, vierzig Millionen Rubel Pa-
piergeld in Deutschland umzusetzen und also den Krieg fortzuführen.

Wunderbar doch, wie sicher der große Patriot den springenden Punkt
in der Lage der Welt -- die Nothwendigkeit der deutschen Schilderhebung
-- herausfand, und wie gröblich er sich in allem Einzelnen irrte. Er
kannte weder die Schwäche der russischen Streitkräfte, noch die bedacht-
same Aengstlichkeit des Wiener Hofes, weder die Unfähigkeit des englischen
Tory-Cabinets, noch den stumpfen Particularismus der Völkchen in den
deutschen Kleinstaaten, die nirgends daran dachten sich wider den Willen
ihrer Dynastien zu erheben. Doch am allerwenigsten kannte er den
heiligen Zorn, der in den Herzen der Preußen kochte, und die ehrenhaften
Entschlüsse, womit ihr König sich trug; eben dieser Staat, den der Frei-
herr sich nur im Schlepptau der anderen Mächte denken konnte, sollte
den Anstoß geben zu dem europäischen Kriege. Hardenberg hatte sich
während des Sommers bemüht das Einverständniß mit Oesterreich zu
befestigen und deßhalb im September den Flügeladjutanten v. Natzmer
nach Wien gesendet. Der Bevollmächtigte fand in Wien eine überaus
freundliche Aufnahme. In seinem Antwortschreiben betheuerte Metternich
mit Wärme, er vermöge die Interessen der beiden Staaten nicht von ein-
ander zu trennen; greifbare Versprechungen gab er jedoch nicht. Als
nun der Krieg sich in die Länge zog, da begann der König zu hoffen,
daß sein russischer Freund diesmal endlich ausharren würde; schon am
29. October, noch ehe die Nachricht von dem Moskauer Brande einge-
troffen war, erklärte er sich bereit zu einem Wechsel des politischen
Systems, aber nur im Bunde mit Oesterreich. Neue vertrauliche An-
fragen in Wien hatten geringen Erfolg. Die Hofburg behauptete noch
die gleiche Haltung wie in der Krisis von 1811: sie hatte nichts dawider,
wenn Preußen sein Glück versuchte, wollte aber selber aus ihrer so viel
besser gesicherten Position nicht heraustreten. Gewaltigen Eindruck hin-
terließ in Berlin wie überall die unglaubliche Nachricht von der Verschwö-
rung des Generals Mallet: wie dieser Tollkopf durch das Märchen von
Napoleons Tode die höchsten Behörden überrumpelt und während einiger
Stunden Paris beherrscht hatte. So morsch war schon der Grund,
worauf das Weltreich fußte! Dann kam die Kunde von Napoleons Rück-
kehr, bald darauf aus Dresden ein Schreiben des Flüchtlings an den
König, das unbefangen, als sei gar kein Zweifel möglich, die Verstär-
kung des preußischen Hilfscorps verlangte: kein Wort von Entschädigung,
kein Wort über die Bezahlung der preußischen Lieferungen vom letzten
Frühjahr! Der Imperator meinte Preußen genugsam gefesselt und versah
sich keiner Weigerung. In der That überschätzte Hardenberg die Bedeu-
tung der russischen Katastrophe nicht. Er begriff, daß Napoleons unrit-

I. 3. Preußens Erhebung.
allen Einfluß; der deutſche Freiherr behauptete ſich in der Gunſt des
Czaren und zeigte bereits in einer Denkſchrift der ruſſiſchen Regierung
die Mittel, welche ihr nachher ermöglichten, vierzig Millionen Rubel Pa-
piergeld in Deutſchland umzuſetzen und alſo den Krieg fortzuführen.

Wunderbar doch, wie ſicher der große Patriot den ſpringenden Punkt
in der Lage der Welt — die Nothwendigkeit der deutſchen Schilderhebung
— herausfand, und wie gröblich er ſich in allem Einzelnen irrte. Er
kannte weder die Schwäche der ruſſiſchen Streitkräfte, noch die bedacht-
ſame Aengſtlichkeit des Wiener Hofes, weder die Unfähigkeit des engliſchen
Tory-Cabinets, noch den ſtumpfen Particularismus der Völkchen in den
deutſchen Kleinſtaaten, die nirgends daran dachten ſich wider den Willen
ihrer Dynaſtien zu erheben. Doch am allerwenigſten kannte er den
heiligen Zorn, der in den Herzen der Preußen kochte, und die ehrenhaften
Entſchlüſſe, womit ihr König ſich trug; eben dieſer Staat, den der Frei-
herr ſich nur im Schlepptau der anderen Mächte denken konnte, ſollte
den Anſtoß geben zu dem europäiſchen Kriege. Hardenberg hatte ſich
während des Sommers bemüht das Einverſtändniß mit Oeſterreich zu
befeſtigen und deßhalb im September den Flügeladjutanten v. Natzmer
nach Wien geſendet. Der Bevollmächtigte fand in Wien eine überaus
freundliche Aufnahme. In ſeinem Antwortſchreiben betheuerte Metternich
mit Wärme, er vermöge die Intereſſen der beiden Staaten nicht von ein-
ander zu trennen; greifbare Verſprechungen gab er jedoch nicht. Als
nun der Krieg ſich in die Länge zog, da begann der König zu hoffen,
daß ſein ruſſiſcher Freund diesmal endlich ausharren würde; ſchon am
29. October, noch ehe die Nachricht von dem Moskauer Brande einge-
troffen war, erklärte er ſich bereit zu einem Wechſel des politiſchen
Syſtems, aber nur im Bunde mit Oeſterreich. Neue vertrauliche An-
fragen in Wien hatten geringen Erfolg. Die Hofburg behauptete noch
die gleiche Haltung wie in der Kriſis von 1811: ſie hatte nichts dawider,
wenn Preußen ſein Glück verſuchte, wollte aber ſelber aus ihrer ſo viel
beſſer geſicherten Poſition nicht heraustreten. Gewaltigen Eindruck hin-
terließ in Berlin wie überall die unglaubliche Nachricht von der Verſchwö-
rung des Generals Mallet: wie dieſer Tollkopf durch das Märchen von
Napoleons Tode die höchſten Behörden überrumpelt und während einiger
Stunden Paris beherrſcht hatte. So morſch war ſchon der Grund,
worauf das Weltreich fußte! Dann kam die Kunde von Napoleons Rück-
kehr, bald darauf aus Dresden ein Schreiben des Flüchtlings an den
König, das unbefangen, als ſei gar kein Zweifel möglich, die Verſtär-
kung des preußiſchen Hilfscorps verlangte: kein Wort von Entſchädigung,
kein Wort über die Bezahlung der preußiſchen Lieferungen vom letzten
Frühjahr! Der Imperator meinte Preußen genugſam gefeſſelt und verſah
ſich keiner Weigerung. In der That überſchätzte Hardenberg die Bedeu-
tung der ruſſiſchen Kataſtrophe nicht. Er begriff, daß Napoleons unrit-

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[400/0416] I. 3. Preußens Erhebung. allen Einfluß; der deutſche Freiherr behauptete ſich in der Gunſt des Czaren und zeigte bereits in einer Denkſchrift der ruſſiſchen Regierung die Mittel, welche ihr nachher ermöglichten, vierzig Millionen Rubel Pa- piergeld in Deutſchland umzuſetzen und alſo den Krieg fortzuführen. Wunderbar doch, wie ſicher der große Patriot den ſpringenden Punkt in der Lage der Welt — die Nothwendigkeit der deutſchen Schilderhebung — herausfand, und wie gröblich er ſich in allem Einzelnen irrte. Er kannte weder die Schwäche der ruſſiſchen Streitkräfte, noch die bedacht- ſame Aengſtlichkeit des Wiener Hofes, weder die Unfähigkeit des engliſchen Tory-Cabinets, noch den ſtumpfen Particularismus der Völkchen in den deutſchen Kleinſtaaten, die nirgends daran dachten ſich wider den Willen ihrer Dynaſtien zu erheben. Doch am allerwenigſten kannte er den heiligen Zorn, der in den Herzen der Preußen kochte, und die ehrenhaften Entſchlüſſe, womit ihr König ſich trug; eben dieſer Staat, den der Frei- herr ſich nur im Schlepptau der anderen Mächte denken konnte, ſollte den Anſtoß geben zu dem europäiſchen Kriege. Hardenberg hatte ſich während des Sommers bemüht das Einverſtändniß mit Oeſterreich zu befeſtigen und deßhalb im September den Flügeladjutanten v. Natzmer nach Wien geſendet. Der Bevollmächtigte fand in Wien eine überaus freundliche Aufnahme. In ſeinem Antwortſchreiben betheuerte Metternich mit Wärme, er vermöge die Intereſſen der beiden Staaten nicht von ein- ander zu trennen; greifbare Verſprechungen gab er jedoch nicht. Als nun der Krieg ſich in die Länge zog, da begann der König zu hoffen, daß ſein ruſſiſcher Freund diesmal endlich ausharren würde; ſchon am 29. October, noch ehe die Nachricht von dem Moskauer Brande einge- troffen war, erklärte er ſich bereit zu einem Wechſel des politiſchen Syſtems, aber nur im Bunde mit Oeſterreich. Neue vertrauliche An- fragen in Wien hatten geringen Erfolg. Die Hofburg behauptete noch die gleiche Haltung wie in der Kriſis von 1811: ſie hatte nichts dawider, wenn Preußen ſein Glück verſuchte, wollte aber ſelber aus ihrer ſo viel beſſer geſicherten Poſition nicht heraustreten. Gewaltigen Eindruck hin- terließ in Berlin wie überall die unglaubliche Nachricht von der Verſchwö- rung des Generals Mallet: wie dieſer Tollkopf durch das Märchen von Napoleons Tode die höchſten Behörden überrumpelt und während einiger Stunden Paris beherrſcht hatte. So morſch war ſchon der Grund, worauf das Weltreich fußte! Dann kam die Kunde von Napoleons Rück- kehr, bald darauf aus Dresden ein Schreiben des Flüchtlings an den König, das unbefangen, als ſei gar kein Zweifel möglich, die Verſtär- kung des preußiſchen Hilfscorps verlangte: kein Wort von Entſchädigung, kein Wort über die Bezahlung der preußiſchen Lieferungen vom letzten Frühjahr! Der Imperator meinte Preußen genugſam gefeſſelt und verſah ſich keiner Weigerung. In der That überſchätzte Hardenberg die Bedeu- tung der ruſſiſchen Kataſtrophe nicht. Er begriff, daß Napoleons unrit-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/416>, abgerufen am 22.11.2024.