Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

I. 3. Preußens Erhebung.
die Ereignisse gingen schneller als Hardenbergs verständige Wünsche. Bald
nach dem Wiener Frieden ließ sich schon errathen, daß der Entscheidungs-
kampf zwischen den Tilsiter Verbündeten nahte; nicht urplötzlich wie die
meisten anderen Kriege dieser athemlosen Zeit, sondern schrittweise, zwei
Jahre zum Voraus erkennbar, rückte die neue Kriegsgefahr heran.

Der entscheidende Grund lag wieder in dem unzähmbaren Charakter
des Weltherrschers. Wie der Löwe nicht blos aus Hunger mordet, son-
dern weil er nicht anders kann, weil es seine Natur ist zu rauben und
zu zerfleischen, so konnte dieser Allgewaltige nicht einen Augenblick bei
einem erreichten Erfolge sich beruhigen. Ins Grenzenlose schweiften seine
begehrlichen Träume; noch war ihm nichts gelungen was der Märchen-
pracht des Alexanderzuges gleich kam. Kaum war mit Rußlands Hilfe
Oesterreich unterworfen, so sollte der Czar mit dem Beistande der Hof-
burg gedemüthigt werden. Doch nicht blos die verzehrende Gluth eines
rasenden Ehrgeizes trieb den Imperator vorwärts, sondern auch eine un-
aufhaltsame politische Nothwendigkeit; sein Weltreich konnte nicht bestehen
wenn er nicht über alle Küsten Europas unbedingt gebot. Leidenschaft-
licher denn je betrieb er jetzt den Handelskrieg gegen das unangreifbare
England; durch das Edict von Trianon hoffte er die Sperrung des Con-
tinents zu vollenden. Als er die Nordseeküste mit dem Kaiserreiche ver-
einigte, erklärte er den Abgeordneten der Hansestädte kurzab: die Edicte
über die Continentalsperre sind die Grundgesetze meines Reiches! Auf der
spanischen Halbinsel wogte der gräuelvolle Krieg ins Unabsehbare dahin;
aus den radicalen Beschlüssen der Cortes von Cadiz sprach die verzwei-
felte Entschlossenheit eines heldenhaften Volkes. Zwingende politische
Gründe mahnten den Imperator zunächst diese offene Wunde zu schließen;
er aber wollte und konnte die ungeheure Macht der nationalen Leiden-
schaft nicht würdigen. War erst Rußland gebändigt und die englische
Flagge von allen Häfen des Festlands ausgeschlossen, standen die franzö-
sischen Zollwächter in Petersburg, dann mußte der spanische Aufstand wie
Schnee zerschmelzen vor der Sonne des Kaiserthums. Und schon brütete
der Unersättliche über noch kühneren, noch wunderbareren Plänen: nach
dem Falle von Moskau sollte von den Ufern der Wolga aus ein neuer
Kriegszug, die Wunder Alexanders überbietend, beginnen, ein Zug zum
Ganges, der "dies Schaugerüste der englischen Handelsgröße" für immer
vernichten mußte.

Der Czar konnte sich die Gefahren des Tilsiter Bündnisses nicht
länger mehr verbergen. Ganz Rußland vernahm mit Unmuth, wie Na-
poleon das von den Russen eroberte österreichische Polen großentheils an
Warschau verschenkte ohne den Verbündeten auch nur zu befragen. Man
kannte in Petersburg den geheimen Verkehr zwischen dem polnischen Adel
und den Tuilerien, der durch Napoleons polnische Flügeladjutanten ver-
mittelt wurde. Die Wiederherstellung Polens durch Frankreichs Gnade,

I. 3. Preußens Erhebung.
die Ereigniſſe gingen ſchneller als Hardenbergs verſtändige Wünſche. Bald
nach dem Wiener Frieden ließ ſich ſchon errathen, daß der Entſcheidungs-
kampf zwiſchen den Tilſiter Verbündeten nahte; nicht urplötzlich wie die
meiſten anderen Kriege dieſer athemloſen Zeit, ſondern ſchrittweiſe, zwei
Jahre zum Voraus erkennbar, rückte die neue Kriegsgefahr heran.

Der entſcheidende Grund lag wieder in dem unzähmbaren Charakter
des Weltherrſchers. Wie der Löwe nicht blos aus Hunger mordet, ſon-
dern weil er nicht anders kann, weil es ſeine Natur iſt zu rauben und
zu zerfleiſchen, ſo konnte dieſer Allgewaltige nicht einen Augenblick bei
einem erreichten Erfolge ſich beruhigen. Ins Grenzenloſe ſchweiften ſeine
begehrlichen Träume; noch war ihm nichts gelungen was der Märchen-
pracht des Alexanderzuges gleich kam. Kaum war mit Rußlands Hilfe
Oeſterreich unterworfen, ſo ſollte der Czar mit dem Beiſtande der Hof-
burg gedemüthigt werden. Doch nicht blos die verzehrende Gluth eines
raſenden Ehrgeizes trieb den Imperator vorwärts, ſondern auch eine un-
aufhaltſame politiſche Nothwendigkeit; ſein Weltreich konnte nicht beſtehen
wenn er nicht über alle Küſten Europas unbedingt gebot. Leidenſchaft-
licher denn je betrieb er jetzt den Handelskrieg gegen das unangreifbare
England; durch das Edict von Trianon hoffte er die Sperrung des Con-
tinents zu vollenden. Als er die Nordſeeküſte mit dem Kaiſerreiche ver-
einigte, erklärte er den Abgeordneten der Hanſeſtädte kurzab: die Edicte
über die Continentalſperre ſind die Grundgeſetze meines Reiches! Auf der
ſpaniſchen Halbinſel wogte der gräuelvolle Krieg ins Unabſehbare dahin;
aus den radicalen Beſchlüſſen der Cortes von Cadiz ſprach die verzwei-
felte Entſchloſſenheit eines heldenhaften Volkes. Zwingende politiſche
Gründe mahnten den Imperator zunächſt dieſe offene Wunde zu ſchließen;
er aber wollte und konnte die ungeheure Macht der nationalen Leiden-
ſchaft nicht würdigen. War erſt Rußland gebändigt und die engliſche
Flagge von allen Häfen des Feſtlands ausgeſchloſſen, ſtanden die franzö-
ſiſchen Zollwächter in Petersburg, dann mußte der ſpaniſche Aufſtand wie
Schnee zerſchmelzen vor der Sonne des Kaiſerthums. Und ſchon brütete
der Unerſättliche über noch kühneren, noch wunderbareren Plänen: nach
dem Falle von Moskau ſollte von den Ufern der Wolga aus ein neuer
Kriegszug, die Wunder Alexanders überbietend, beginnen, ein Zug zum
Ganges, der „dies Schaugerüſte der engliſchen Handelsgröße“ für immer
vernichten mußte.

Der Czar konnte ſich die Gefahren des Tilſiter Bündniſſes nicht
länger mehr verbergen. Ganz Rußland vernahm mit Unmuth, wie Na-
poleon das von den Ruſſen eroberte öſterreichiſche Polen großentheils an
Warſchau verſchenkte ohne den Verbündeten auch nur zu befragen. Man
kannte in Petersburg den geheimen Verkehr zwiſchen dem polniſchen Adel
und den Tuilerien, der durch Napoleons polniſche Flügeladjutanten ver-
mittelt wurde. Die Wiederherſtellung Polens durch Frankreichs Gnade,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0398" n="382"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> 3. Preußens Erhebung.</fw><lb/>
die Ereigni&#x017F;&#x017F;e gingen &#x017F;chneller als Hardenbergs ver&#x017F;tändige Wün&#x017F;che. Bald<lb/>
nach dem Wiener Frieden ließ &#x017F;ich &#x017F;chon errathen, daß der Ent&#x017F;cheidungs-<lb/>
kampf zwi&#x017F;chen den Til&#x017F;iter Verbündeten nahte; nicht urplötzlich wie die<lb/>
mei&#x017F;ten anderen Kriege die&#x017F;er athemlo&#x017F;en Zeit, &#x017F;ondern &#x017F;chrittwei&#x017F;e, zwei<lb/>
Jahre zum Voraus erkennbar, rückte die neue Kriegsgefahr heran.</p><lb/>
            <p>Der ent&#x017F;cheidende Grund lag wieder in dem unzähmbaren Charakter<lb/>
des Weltherr&#x017F;chers. Wie der Löwe nicht blos aus Hunger mordet, &#x017F;on-<lb/>
dern weil er nicht anders kann, weil es &#x017F;eine Natur i&#x017F;t zu rauben und<lb/>
zu zerflei&#x017F;chen, &#x017F;o konnte die&#x017F;er Allgewaltige nicht einen Augenblick bei<lb/>
einem erreichten Erfolge &#x017F;ich beruhigen. Ins Grenzenlo&#x017F;e &#x017F;chweiften &#x017F;eine<lb/>
begehrlichen Träume; noch war ihm nichts gelungen was der Märchen-<lb/>
pracht des Alexanderzuges gleich kam. Kaum war mit Rußlands Hilfe<lb/>
Oe&#x017F;terreich unterworfen, &#x017F;o &#x017F;ollte der Czar mit dem Bei&#x017F;tande der Hof-<lb/>
burg gedemüthigt werden. Doch nicht blos die verzehrende Gluth eines<lb/>
ra&#x017F;enden Ehrgeizes trieb den Imperator vorwärts, &#x017F;ondern auch eine un-<lb/>
aufhalt&#x017F;ame politi&#x017F;che Nothwendigkeit; &#x017F;ein Weltreich konnte nicht be&#x017F;tehen<lb/>
wenn er nicht über alle Kü&#x017F;ten Europas unbedingt gebot. Leiden&#x017F;chaft-<lb/>
licher denn je betrieb er jetzt den Handelskrieg gegen das unangreifbare<lb/>
England; durch das Edict von Trianon hoffte er die Sperrung des Con-<lb/>
tinents zu vollenden. Als er die Nord&#x017F;eekü&#x017F;te mit dem Kai&#x017F;erreiche ver-<lb/>
einigte, erklärte er den Abgeordneten der Han&#x017F;e&#x017F;tädte kurzab: die Edicte<lb/>
über die Continental&#x017F;perre &#x017F;ind die Grundge&#x017F;etze meines Reiches! Auf der<lb/>
&#x017F;pani&#x017F;chen Halbin&#x017F;el wogte der gräuelvolle Krieg ins Unab&#x017F;ehbare dahin;<lb/>
aus den radicalen Be&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;en der Cortes von Cadiz &#x017F;prach die verzwei-<lb/>
felte Ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enheit eines heldenhaften Volkes. Zwingende politi&#x017F;che<lb/>
Gründe mahnten den Imperator zunäch&#x017F;t die&#x017F;e offene Wunde zu &#x017F;chließen;<lb/>
er aber wollte und konnte die ungeheure Macht der nationalen Leiden-<lb/>
&#x017F;chaft nicht würdigen. War er&#x017F;t Rußland gebändigt und die engli&#x017F;che<lb/>
Flagge von allen Häfen des Fe&#x017F;tlands ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;tanden die franzö-<lb/>
&#x017F;i&#x017F;chen Zollwächter in Petersburg, dann mußte der &#x017F;pani&#x017F;che Auf&#x017F;tand wie<lb/>
Schnee zer&#x017F;chmelzen vor der Sonne des Kai&#x017F;erthums. Und &#x017F;chon brütete<lb/>
der Uner&#x017F;ättliche über noch kühneren, noch wunderbareren Plänen: nach<lb/>
dem Falle von Moskau &#x017F;ollte von den Ufern der Wolga aus ein neuer<lb/>
Kriegszug, die Wunder Alexanders überbietend, beginnen, ein Zug zum<lb/>
Ganges, der &#x201E;dies Schaugerü&#x017F;te der engli&#x017F;chen Handelsgröße&#x201C; für immer<lb/>
vernichten mußte.</p><lb/>
            <p>Der Czar konnte &#x017F;ich die Gefahren des Til&#x017F;iter Bündni&#x017F;&#x017F;es nicht<lb/>
länger mehr verbergen. Ganz Rußland vernahm mit Unmuth, wie Na-<lb/>
poleon das von den Ru&#x017F;&#x017F;en eroberte ö&#x017F;terreichi&#x017F;che Polen großentheils an<lb/>
War&#x017F;chau ver&#x017F;chenkte ohne den Verbündeten auch nur zu befragen. Man<lb/>
kannte in Petersburg den geheimen Verkehr zwi&#x017F;chen dem polni&#x017F;chen Adel<lb/>
und den Tuilerien, der durch Napoleons polni&#x017F;che Flügeladjutanten ver-<lb/>
mittelt wurde. Die Wiederher&#x017F;tellung Polens durch Frankreichs Gnade,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[382/0398] I. 3. Preußens Erhebung. die Ereigniſſe gingen ſchneller als Hardenbergs verſtändige Wünſche. Bald nach dem Wiener Frieden ließ ſich ſchon errathen, daß der Entſcheidungs- kampf zwiſchen den Tilſiter Verbündeten nahte; nicht urplötzlich wie die meiſten anderen Kriege dieſer athemloſen Zeit, ſondern ſchrittweiſe, zwei Jahre zum Voraus erkennbar, rückte die neue Kriegsgefahr heran. Der entſcheidende Grund lag wieder in dem unzähmbaren Charakter des Weltherrſchers. Wie der Löwe nicht blos aus Hunger mordet, ſon- dern weil er nicht anders kann, weil es ſeine Natur iſt zu rauben und zu zerfleiſchen, ſo konnte dieſer Allgewaltige nicht einen Augenblick bei einem erreichten Erfolge ſich beruhigen. Ins Grenzenloſe ſchweiften ſeine begehrlichen Träume; noch war ihm nichts gelungen was der Märchen- pracht des Alexanderzuges gleich kam. Kaum war mit Rußlands Hilfe Oeſterreich unterworfen, ſo ſollte der Czar mit dem Beiſtande der Hof- burg gedemüthigt werden. Doch nicht blos die verzehrende Gluth eines raſenden Ehrgeizes trieb den Imperator vorwärts, ſondern auch eine un- aufhaltſame politiſche Nothwendigkeit; ſein Weltreich konnte nicht beſtehen wenn er nicht über alle Küſten Europas unbedingt gebot. Leidenſchaft- licher denn je betrieb er jetzt den Handelskrieg gegen das unangreifbare England; durch das Edict von Trianon hoffte er die Sperrung des Con- tinents zu vollenden. Als er die Nordſeeküſte mit dem Kaiſerreiche ver- einigte, erklärte er den Abgeordneten der Hanſeſtädte kurzab: die Edicte über die Continentalſperre ſind die Grundgeſetze meines Reiches! Auf der ſpaniſchen Halbinſel wogte der gräuelvolle Krieg ins Unabſehbare dahin; aus den radicalen Beſchlüſſen der Cortes von Cadiz ſprach die verzwei- felte Entſchloſſenheit eines heldenhaften Volkes. Zwingende politiſche Gründe mahnten den Imperator zunächſt dieſe offene Wunde zu ſchließen; er aber wollte und konnte die ungeheure Macht der nationalen Leiden- ſchaft nicht würdigen. War erſt Rußland gebändigt und die engliſche Flagge von allen Häfen des Feſtlands ausgeſchloſſen, ſtanden die franzö- ſiſchen Zollwächter in Petersburg, dann mußte der ſpaniſche Aufſtand wie Schnee zerſchmelzen vor der Sonne des Kaiſerthums. Und ſchon brütete der Unerſättliche über noch kühneren, noch wunderbareren Plänen: nach dem Falle von Moskau ſollte von den Ufern der Wolga aus ein neuer Kriegszug, die Wunder Alexanders überbietend, beginnen, ein Zug zum Ganges, der „dies Schaugerüſte der engliſchen Handelsgröße“ für immer vernichten mußte. Der Czar konnte ſich die Gefahren des Tilſiter Bündniſſes nicht länger mehr verbergen. Ganz Rußland vernahm mit Unmuth, wie Na- poleon das von den Ruſſen eroberte öſterreichiſche Polen großentheils an Warſchau verſchenkte ohne den Verbündeten auch nur zu befragen. Man kannte in Petersburg den geheimen Verkehr zwiſchen dem polniſchen Adel und den Tuilerien, der durch Napoleons polniſche Flügeladjutanten ver- mittelt wurde. Die Wiederherſtellung Polens durch Frankreichs Gnade,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/398
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/398>, abgerufen am 15.05.2024.