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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 3. Preußens Erhebung.

Es war dieselbe unbändige Naturkraft der nationalen Leidenschaft, wie
einst in den wilden Klängen des Marseillermarsches, nur ungleich poetischer,
wahrer, tiefer empfunden. Nachher schuf der unglückliche Dichter in dem
Prinzen von Homburg das einzige künstlerisch vollendete unserer histo-
rischen Dramen, das seinen Stoff aus der neuen, noch wahrhaft leben-
digen deutschen Geschichte herausgriff, die schönste poetische Verklärung
des preußischen Waffenruhms. Als auch dies Werk an den Zeitgenossen
spurlos vorüberging und die Lage des Vaterlandes sich immer trauriger
gestaltete, da starb der Ungeduldige durch eigene Hand -- ein Opfer
seiner angeborenen krankhaften Verstimmung, aber auch ein Opfer seiner
finsteren hoffnungslosen Zeit. Es bezeichnet den großen Umschwung
des nationalen Lebens, daß jetzt ein Mann aus den alten brandenbur-
gischen Soldatengeschlechtern mit der ganzen Farbenpracht der neuen
Dichtung dies preußische Soldatenthum verherrlichte, das so lange, ver-
ständnißlos und unverstanden, der modernen deutschen Bildung fern ge-
blieben war. Wie lebhaft betheiligte sich doch nunmehr das starre trotzige
Junkerthum der Marken an dem geistigen Schaffen der Nation: eine
lange Reihe seiner Söhne, Kleist, Arnim und Fouque, die Humboldts
und L. v. Buch standen mit obenan unter Deutschlands Dichtern und
Gelehrten. Das banausische Wesen des alten Preußenthums war endlich
völlig überwunden.

Und seltsam, Niemand hat diese große Wandlung im deutschen Volks-
gemüthe, das Erstarken des freudigen nationalen Selbstgefühls mächtiger
gefördert als Goethe. Er that es fast wider seinen Willen, durch ein
Werk, das ursprünglich einem ganz anderen Zeitalter angehörte. Es blieb
sein Schicksalsberuf immer das rechte Wort zu finden für die eigensten
und geheimsten Empfindungen der Deutschen. Im Jahre 1808 erschien
der Faust, der erste Theil ganz und einige Scenen des zweiten. Goethe
war jetzt an sechzig Jahr alt, seit nahezu vier Jahrzehnten eine anerkannte
Macht im deutschen Leben; eine Wallfahrt nach Weimar zu dem würde-
vollen, feierlich ernsthaften Altmeister gehörte längst zu den Anstandspflichten
der jungen Schriftsteller. Aber Niemand erwartete von dem alten Herrn
noch eine schöpferische That, eine Theilnahme an den Kämpfen des neuen
Deutschlands; wußte man doch, wie kühl und vornehm er die Heißsporne
der Romantik von sich abwies. Wohl nahm er die Widmung des Wunder-
horns freundlich auf und gab der Sammlung den Segenswunsch mit
auf den Weg, sie möge in jedem deutschen Hause ihren Platz unter dem
Spiegel finden. Er selber hatte einst in seinen glücklichen Straßburger
Zeiten, von Wenigen verstanden, das Lob der gothischen Baukunst ver-
kündigt. Wenn er jetzt nach langen Jahren seine Saat aufgehen und
alle Welt für die alte deutsche Kunst begeistert sah, so meinte er befriedigt,
die Menschheit zusammen sei erst der wahre Mensch, und hatte seine
Freude an Sulpiz Boisserees liebenswürdigem Eifer. Doch das aufge-

I. 3. Preußens Erhebung.

Es war dieſelbe unbändige Naturkraft der nationalen Leidenſchaft, wie
einſt in den wilden Klängen des Marſeillermarſches, nur ungleich poetiſcher,
wahrer, tiefer empfunden. Nachher ſchuf der unglückliche Dichter in dem
Prinzen von Homburg das einzige künſtleriſch vollendete unſerer hiſto-
riſchen Dramen, das ſeinen Stoff aus der neuen, noch wahrhaft leben-
digen deutſchen Geſchichte herausgriff, die ſchönſte poetiſche Verklärung
des preußiſchen Waffenruhms. Als auch dies Werk an den Zeitgenoſſen
ſpurlos vorüberging und die Lage des Vaterlandes ſich immer trauriger
geſtaltete, da ſtarb der Ungeduldige durch eigene Hand — ein Opfer
ſeiner angeborenen krankhaften Verſtimmung, aber auch ein Opfer ſeiner
finſteren hoffnungsloſen Zeit. Es bezeichnet den großen Umſchwung
des nationalen Lebens, daß jetzt ein Mann aus den alten brandenbur-
giſchen Soldatengeſchlechtern mit der ganzen Farbenpracht der neuen
Dichtung dies preußiſche Soldatenthum verherrlichte, das ſo lange, ver-
ſtändnißlos und unverſtanden, der modernen deutſchen Bildung fern ge-
blieben war. Wie lebhaft betheiligte ſich doch nunmehr das ſtarre trotzige
Junkerthum der Marken an dem geiſtigen Schaffen der Nation: eine
lange Reihe ſeiner Söhne, Kleiſt, Arnim und Fouqué, die Humboldts
und L. v. Buch ſtanden mit obenan unter Deutſchlands Dichtern und
Gelehrten. Das banauſiſche Weſen des alten Preußenthums war endlich
völlig überwunden.

Und ſeltſam, Niemand hat dieſe große Wandlung im deutſchen Volks-
gemüthe, das Erſtarken des freudigen nationalen Selbſtgefühls mächtiger
gefördert als Goethe. Er that es faſt wider ſeinen Willen, durch ein
Werk, das urſprünglich einem ganz anderen Zeitalter angehörte. Es blieb
ſein Schickſalsberuf immer das rechte Wort zu finden für die eigenſten
und geheimſten Empfindungen der Deutſchen. Im Jahre 1808 erſchien
der Fauſt, der erſte Theil ganz und einige Scenen des zweiten. Goethe
war jetzt an ſechzig Jahr alt, ſeit nahezu vier Jahrzehnten eine anerkannte
Macht im deutſchen Leben; eine Wallfahrt nach Weimar zu dem würde-
vollen, feierlich ernſthaften Altmeiſter gehörte längſt zu den Anſtandspflichten
der jungen Schriftſteller. Aber Niemand erwartete von dem alten Herrn
noch eine ſchöpferiſche That, eine Theilnahme an den Kämpfen des neuen
Deutſchlands; wußte man doch, wie kühl und vornehm er die Heißſporne
der Romantik von ſich abwies. Wohl nahm er die Widmung des Wunder-
horns freundlich auf und gab der Sammlung den Segenswunſch mit
auf den Weg, ſie möge in jedem deutſchen Hauſe ihren Platz unter dem
Spiegel finden. Er ſelber hatte einſt in ſeinen glücklichen Straßburger
Zeiten, von Wenigen verſtanden, das Lob der gothiſchen Baukunſt ver-
kündigt. Wenn er jetzt nach langen Jahren ſeine Saat aufgehen und
alle Welt für die alte deutſche Kunſt begeiſtert ſah, ſo meinte er befriedigt,
die Menſchheit zuſammen ſei erſt der wahre Menſch, und hatte ſeine
Freude an Sulpiz Boiſſerees liebenswürdigem Eifer. Doch das aufge-

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[316/0332] I. 3. Preußens Erhebung. Es war dieſelbe unbändige Naturkraft der nationalen Leidenſchaft, wie einſt in den wilden Klängen des Marſeillermarſches, nur ungleich poetiſcher, wahrer, tiefer empfunden. Nachher ſchuf der unglückliche Dichter in dem Prinzen von Homburg das einzige künſtleriſch vollendete unſerer hiſto- riſchen Dramen, das ſeinen Stoff aus der neuen, noch wahrhaft leben- digen deutſchen Geſchichte herausgriff, die ſchönſte poetiſche Verklärung des preußiſchen Waffenruhms. Als auch dies Werk an den Zeitgenoſſen ſpurlos vorüberging und die Lage des Vaterlandes ſich immer trauriger geſtaltete, da ſtarb der Ungeduldige durch eigene Hand — ein Opfer ſeiner angeborenen krankhaften Verſtimmung, aber auch ein Opfer ſeiner finſteren hoffnungsloſen Zeit. Es bezeichnet den großen Umſchwung des nationalen Lebens, daß jetzt ein Mann aus den alten brandenbur- giſchen Soldatengeſchlechtern mit der ganzen Farbenpracht der neuen Dichtung dies preußiſche Soldatenthum verherrlichte, das ſo lange, ver- ſtändnißlos und unverſtanden, der modernen deutſchen Bildung fern ge- blieben war. Wie lebhaft betheiligte ſich doch nunmehr das ſtarre trotzige Junkerthum der Marken an dem geiſtigen Schaffen der Nation: eine lange Reihe ſeiner Söhne, Kleiſt, Arnim und Fouqué, die Humboldts und L. v. Buch ſtanden mit obenan unter Deutſchlands Dichtern und Gelehrten. Das banauſiſche Weſen des alten Preußenthums war endlich völlig überwunden. Und ſeltſam, Niemand hat dieſe große Wandlung im deutſchen Volks- gemüthe, das Erſtarken des freudigen nationalen Selbſtgefühls mächtiger gefördert als Goethe. Er that es faſt wider ſeinen Willen, durch ein Werk, das urſprünglich einem ganz anderen Zeitalter angehörte. Es blieb ſein Schickſalsberuf immer das rechte Wort zu finden für die eigenſten und geheimſten Empfindungen der Deutſchen. Im Jahre 1808 erſchien der Fauſt, der erſte Theil ganz und einige Scenen des zweiten. Goethe war jetzt an ſechzig Jahr alt, ſeit nahezu vier Jahrzehnten eine anerkannte Macht im deutſchen Leben; eine Wallfahrt nach Weimar zu dem würde- vollen, feierlich ernſthaften Altmeiſter gehörte längſt zu den Anſtandspflichten der jungen Schriftſteller. Aber Niemand erwartete von dem alten Herrn noch eine ſchöpferiſche That, eine Theilnahme an den Kämpfen des neuen Deutſchlands; wußte man doch, wie kühl und vornehm er die Heißſporne der Romantik von ſich abwies. Wohl nahm er die Widmung des Wunder- horns freundlich auf und gab der Sammlung den Segenswunſch mit auf den Weg, ſie möge in jedem deutſchen Hauſe ihren Platz unter dem Spiegel finden. Er ſelber hatte einſt in ſeinen glücklichen Straßburger Zeiten, von Wenigen verſtanden, das Lob der gothiſchen Baukunſt ver- kündigt. Wenn er jetzt nach langen Jahren ſeine Saat aufgehen und alle Welt für die alte deutſche Kunſt begeiſtert ſah, ſo meinte er befriedigt, die Menſchheit zuſammen ſei erſt der wahre Menſch, und hatte ſeine Freude an Sulpiz Boiſſerees liebenswürdigem Eifer. Doch das aufge-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/332>, abgerufen am 23.11.2024.