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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Die Schmähschriften.
dabei nicht allzu streng eingehalten; das Leibregiment in Berlin ließ jahre-
lang, so oft die Truppe zum Felddienst ausrückte, einen Theil der Mann-
schaft in der Kaserne zurück, damit Napoleons Späher die Stärke der
Bataillone nicht bemerkten. Es konnte nicht fehlen, daß manche Wehr-
pflichtigen sich der strengeren Aushebung durch die Flucht entzogen, wie
umgekehrt viele Conscribirte aus den Rheinbundslanden nach Preußen
hinüberflohen; es gab beständig kleine Unruhen an den Landesgrenzen,
der arme Mann wurde ganz irr an der wüsten Zeit. Im Ganzen
zeigte das Volk dem Könige hingebende Treue; geschah es doch ein-
mal, daß Bauern aus der Umgegend Nachts eine Kanone von den
Wällen der westphälischen Festung Magdeburg stahlen und sie zu Schiff
nach Spandau entführten: ihr angestammter Herr brauche Waffen
gegen den Franzmann. Durch dies Krümpersystem bildete Scharnhorst
nach und nach 150,000 Soldaten nothdürftig aus. Ein tragisches Schau-
spiel, wie der große Mann so jahraus jahrein mit tausend Listen und
Schlichen dem allwissenden Feinde zu entschlüpfen suchte. Seine Seele
schmachtete nach der Freude der Schlacht; den letzten Hauch von Mann
und Roß, Alles was an die Wände pissen konnte wollte er dahingeben
damit Deutschland wieder sei; und immer wieder vereitelte der wachsame
Gegner die Pläne der Rüstung. Erst als die Stunde des offenen Kampfes
schlug, trat mit einem Schlage ins Leben was in fünf Jahren voll auf-
reibender Arbeit, voll namenloser Sorge still bereitet war. Scharnhorst
und Niemand sonst ist der Vater der Landwehr von 1813. --

Unterdessen brachten Haß und Noth in den gebildeten Klassen Nord-
deutschlands eine grundtiefe Umstimmung der Gesinnungen zur Reife,
die durch die Gedankenarbeit der romantischen Literatur längst vorbereitet
war. Nach den großen Heimsuchungen des Völkerlebens erhebt sich stets
ein Sturm von Klagen und Anklagen, die gequälten Gewissen suchen die
Schuld Aller auf die Schultern Einzelner hinüberzuwälzen, Schmähreden
und Schmutzschriften kriechen wie ekle Würmer aus dem Leichnam der
gefallenen alten Ordnung. So stürzte sich auch auf den gedemüthigten
preußischen Staat ein Schwarm frecher Lästerer -- zumeist dieselben
Menschen, die vor dem Kriege den Bund Norddeutschlands mit Frank-
reich verherrlicht hatten. Cöllns Feuerbrände, Massenbachs Denkwürdig-
keiten, Buchholzs Gallerie preußischer Charaktere und ähnliche Schriften
trugen geschäftig allen Unrath zusammen, der sich nur irgend in den
Winkeln der alten Monarchie aufwühlen ließ, bis herab zu den Domänen-
käufen der Zeiten Friedrich Wilhelms II. Jene dünkelhafte, unfruchtbare
Altklugheit, die seit Nicolais Tagen in den Kreisen der Berliner Halb-
bildung nicht mehr aussterben wollte, fand jetzt ihren politischen Ausdruck.
Wie jener ehrliche Alte einst im Namen der Aufklärung alles Freie und
Lebendige der jungen Dichtung bekämpft hatte, so wurde jetzt im Namen
der Freiheit der Krieg gegen Napoleon getadelt und verhöhnt. Nur Eng-

Die Schmähſchriften.
dabei nicht allzu ſtreng eingehalten; das Leibregiment in Berlin ließ jahre-
lang, ſo oft die Truppe zum Felddienſt ausrückte, einen Theil der Mann-
ſchaft in der Kaſerne zurück, damit Napoleons Späher die Stärke der
Bataillone nicht bemerkten. Es konnte nicht fehlen, daß manche Wehr-
pflichtigen ſich der ſtrengeren Aushebung durch die Flucht entzogen, wie
umgekehrt viele Conſcribirte aus den Rheinbundslanden nach Preußen
hinüberflohen; es gab beſtändig kleine Unruhen an den Landesgrenzen,
der arme Mann wurde ganz irr an der wüſten Zeit. Im Ganzen
zeigte das Volk dem Könige hingebende Treue; geſchah es doch ein-
mal, daß Bauern aus der Umgegend Nachts eine Kanone von den
Wällen der weſtphäliſchen Feſtung Magdeburg ſtahlen und ſie zu Schiff
nach Spandau entführten: ihr angeſtammter Herr brauche Waffen
gegen den Franzmann. Durch dies Krümperſyſtem bildete Scharnhorſt
nach und nach 150,000 Soldaten nothdürftig aus. Ein tragiſches Schau-
ſpiel, wie der große Mann ſo jahraus jahrein mit tauſend Liſten und
Schlichen dem allwiſſenden Feinde zu entſchlüpfen ſuchte. Seine Seele
ſchmachtete nach der Freude der Schlacht; den letzten Hauch von Mann
und Roß, Alles was an die Wände piſſen konnte wollte er dahingeben
damit Deutſchland wieder ſei; und immer wieder vereitelte der wachſame
Gegner die Pläne der Rüſtung. Erſt als die Stunde des offenen Kampfes
ſchlug, trat mit einem Schlage ins Leben was in fünf Jahren voll auf-
reibender Arbeit, voll namenloſer Sorge ſtill bereitet war. Scharnhorſt
und Niemand ſonſt iſt der Vater der Landwehr von 1813. —

Unterdeſſen brachten Haß und Noth in den gebildeten Klaſſen Nord-
deutſchlands eine grundtiefe Umſtimmung der Geſinnungen zur Reife,
die durch die Gedankenarbeit der romantiſchen Literatur längſt vorbereitet
war. Nach den großen Heimſuchungen des Völkerlebens erhebt ſich ſtets
ein Sturm von Klagen und Anklagen, die gequälten Gewiſſen ſuchen die
Schuld Aller auf die Schultern Einzelner hinüberzuwälzen, Schmähreden
und Schmutzſchriften kriechen wie ekle Würmer aus dem Leichnam der
gefallenen alten Ordnung. So ſtürzte ſich auch auf den gedemüthigten
preußiſchen Staat ein Schwarm frecher Läſterer — zumeiſt dieſelben
Menſchen, die vor dem Kriege den Bund Norddeutſchlands mit Frank-
reich verherrlicht hatten. Cöllns Feuerbrände, Maſſenbachs Denkwürdig-
keiten, Buchholzs Gallerie preußiſcher Charaktere und ähnliche Schriften
trugen geſchäftig allen Unrath zuſammen, der ſich nur irgend in den
Winkeln der alten Monarchie aufwühlen ließ, bis herab zu den Domänen-
käufen der Zeiten Friedrich Wilhelms II. Jene dünkelhafte, unfruchtbare
Altklugheit, die ſeit Nicolais Tagen in den Kreiſen der Berliner Halb-
bildung nicht mehr ausſterben wollte, fand jetzt ihren politiſchen Ausdruck.
Wie jener ehrliche Alte einſt im Namen der Aufklärung alles Freie und
Lebendige der jungen Dichtung bekämpft hatte, ſo wurde jetzt im Namen
der Freiheit der Krieg gegen Napoleon getadelt und verhöhnt. Nur Eng-

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[297/0313] Die Schmähſchriften. dabei nicht allzu ſtreng eingehalten; das Leibregiment in Berlin ließ jahre- lang, ſo oft die Truppe zum Felddienſt ausrückte, einen Theil der Mann- ſchaft in der Kaſerne zurück, damit Napoleons Späher die Stärke der Bataillone nicht bemerkten. Es konnte nicht fehlen, daß manche Wehr- pflichtigen ſich der ſtrengeren Aushebung durch die Flucht entzogen, wie umgekehrt viele Conſcribirte aus den Rheinbundslanden nach Preußen hinüberflohen; es gab beſtändig kleine Unruhen an den Landesgrenzen, der arme Mann wurde ganz irr an der wüſten Zeit. Im Ganzen zeigte das Volk dem Könige hingebende Treue; geſchah es doch ein- mal, daß Bauern aus der Umgegend Nachts eine Kanone von den Wällen der weſtphäliſchen Feſtung Magdeburg ſtahlen und ſie zu Schiff nach Spandau entführten: ihr angeſtammter Herr brauche Waffen gegen den Franzmann. Durch dies Krümperſyſtem bildete Scharnhorſt nach und nach 150,000 Soldaten nothdürftig aus. Ein tragiſches Schau- ſpiel, wie der große Mann ſo jahraus jahrein mit tauſend Liſten und Schlichen dem allwiſſenden Feinde zu entſchlüpfen ſuchte. Seine Seele ſchmachtete nach der Freude der Schlacht; den letzten Hauch von Mann und Roß, Alles was an die Wände piſſen konnte wollte er dahingeben damit Deutſchland wieder ſei; und immer wieder vereitelte der wachſame Gegner die Pläne der Rüſtung. Erſt als die Stunde des offenen Kampfes ſchlug, trat mit einem Schlage ins Leben was in fünf Jahren voll auf- reibender Arbeit, voll namenloſer Sorge ſtill bereitet war. Scharnhorſt und Niemand ſonſt iſt der Vater der Landwehr von 1813. — Unterdeſſen brachten Haß und Noth in den gebildeten Klaſſen Nord- deutſchlands eine grundtiefe Umſtimmung der Geſinnungen zur Reife, die durch die Gedankenarbeit der romantiſchen Literatur längſt vorbereitet war. Nach den großen Heimſuchungen des Völkerlebens erhebt ſich ſtets ein Sturm von Klagen und Anklagen, die gequälten Gewiſſen ſuchen die Schuld Aller auf die Schultern Einzelner hinüberzuwälzen, Schmähreden und Schmutzſchriften kriechen wie ekle Würmer aus dem Leichnam der gefallenen alten Ordnung. So ſtürzte ſich auch auf den gedemüthigten preußiſchen Staat ein Schwarm frecher Läſterer — zumeiſt dieſelben Menſchen, die vor dem Kriege den Bund Norddeutſchlands mit Frank- reich verherrlicht hatten. Cöllns Feuerbrände, Maſſenbachs Denkwürdig- keiten, Buchholzs Gallerie preußiſcher Charaktere und ähnliche Schriften trugen geſchäftig allen Unrath zuſammen, der ſich nur irgend in den Winkeln der alten Monarchie aufwühlen ließ, bis herab zu den Domänen- käufen der Zeiten Friedrich Wilhelms II. Jene dünkelhafte, unfruchtbare Altklugheit, die ſeit Nicolais Tagen in den Kreiſen der Berliner Halb- bildung nicht mehr ausſterben wollte, fand jetzt ihren politiſchen Ausdruck. Wie jener ehrliche Alte einſt im Namen der Aufklärung alles Freie und Lebendige der jungen Dichtung bekämpft hatte, ſo wurde jetzt im Namen der Freiheit der Krieg gegen Napoleon getadelt und verhöhnt. Nur Eng-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/313>, abgerufen am 22.11.2024.