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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 3. Preußens Erhebung.
völlig gebrochen, was dem Cadettenhause Friedrich Wilhelms I. nur halb
gelungen war. Das alte Geschlecht, das die Federfuchser verhöhnte, starb
hinweg, der junge Nachwuchs kannte und achtete die Macht des Wissens.

Allen diesen Reformen lag der Gedanke zu Grunde, daß die Armee
fortan das Volk in Waffen sein solle, ein nationales Heer, dem jeder
Wehrfähige angehöre. Die Werbung wurde abgeschafft, die Aufnahme
von Ausländern verboten, nur einzelne Freiwillige von deutschem Blute
ließ man zu. Die neuen Kriegsartikel und die Verordnung über die
Militärstrafen hoben sogleich mit der Verheißung an, künftig würden alle
Unterthanen, auch junge Leute von guter Erziehung, als gemeine Sol-
daten dienen, und begründeten damit die Nothwendigkeit einer milderen
Behandlung der Mannschaft. Ueber die Verwerflichkeit der alten Be-
freiungen vom Waffendienste waren alle denkenden Offiziere einig. Der
Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht war schon vor dem Kriege von Boyen,
Lossau und anderen Offizieren vertheidigt, von dem Könige selbst reiflich
erwogen worden; während des unglücklichen Feldzugs hatte er dann in
der Stille seinen Weg gemacht, und jetzt war jedem einsichtigen Soldaten
klar, daß der ungleiche Kampf nur mit dem Aufgebote der gesammten
Volkskraft wieder aufgenommen werden konnte. Gleich nach dem Frieden
bat Blücher seinen lieben Scharnhorst "vor einer National-Armee zu sorgen,
Niemand auf der Welt muß eximirt sein, es muß zur Schande gereichen
wer nicht gedient hat". Prinz August sendete noch aus der Kriegsge-
fangenschaft einen Plan für die Neubildung des Heeres, worin die all-
gemeine Wehrpflicht als leitender Gedanke obenan stand. Scharnhorst
aber wußte, was die meisten der Zeitgenossen ganz vergessen hatten, daß
damit nur ein altpreußischer Grundsatz erneuert wurde. Er erinnerte
den König daran, sein Ahnherr Friedrich Wilhelm I. habe zuerst unter
allen Fürsten Europas die allgemeine Conscription eingeführt; dieser
Grundsatz habe Preußen einst groß gemacht und sei in Oesterreich und
Frankreich nur nachgeahmt worden; jetzt erscheine es geboten, zu dem alt-
preußischen Systeme zurückzukehren und den Mißbrauch der Exemtionen
kurzerhand hinwegzufegen; nur so bilde sich eine wahre stehende Armee,
eine solche, die man jederzeit in gleicher Größe erhalten könne. Fast genau
mit den Worten des alten Soldatenkönigs begann Scharnhorst seinen
Entwurf für die Bildung einer Reserve-Armee also: §. 1. Alle Bewohner
des Staates sind geborene Vertheidiger desselben.

Die preußischen Offiziere faßten den Gedanken der allgemeinen Dienst-
pflicht von Haus aus in einem freieren und gerechteren Sinne auf als
vormals die Bourgeois der französischen Directorialregierung. Die Be-
siegten dachten zu stolz um die Institutionen des Siegers einfach nach-
zuahmen. Man hatte es ertragen, daß der Befehl des Königs einzelne
Volksklassen kraft ihrer Standesprivilegien oder aus volkswirthschaftlichen
Rücksichten von der Cantonspflicht befreite. Aber die Vorstellung, daß der

I. 3. Preußens Erhebung.
völlig gebrochen, was dem Cadettenhauſe Friedrich Wilhelms I. nur halb
gelungen war. Das alte Geſchlecht, das die Federfuchſer verhöhnte, ſtarb
hinweg, der junge Nachwuchs kannte und achtete die Macht des Wiſſens.

Allen dieſen Reformen lag der Gedanke zu Grunde, daß die Armee
fortan das Volk in Waffen ſein ſolle, ein nationales Heer, dem jeder
Wehrfähige angehöre. Die Werbung wurde abgeſchafft, die Aufnahme
von Ausländern verboten, nur einzelne Freiwillige von deutſchem Blute
ließ man zu. Die neuen Kriegsartikel und die Verordnung über die
Militärſtrafen hoben ſogleich mit der Verheißung an, künftig würden alle
Unterthanen, auch junge Leute von guter Erziehung, als gemeine Sol-
daten dienen, und begründeten damit die Nothwendigkeit einer milderen
Behandlung der Mannſchaft. Ueber die Verwerflichkeit der alten Be-
freiungen vom Waffendienſte waren alle denkenden Offiziere einig. Der
Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht war ſchon vor dem Kriege von Boyen,
Loſſau und anderen Offizieren vertheidigt, von dem Könige ſelbſt reiflich
erwogen worden; während des unglücklichen Feldzugs hatte er dann in
der Stille ſeinen Weg gemacht, und jetzt war jedem einſichtigen Soldaten
klar, daß der ungleiche Kampf nur mit dem Aufgebote der geſammten
Volkskraft wieder aufgenommen werden konnte. Gleich nach dem Frieden
bat Blücher ſeinen lieben Scharnhorſt „vor einer National-Armee zu ſorgen,
Niemand auf der Welt muß eximirt ſein, es muß zur Schande gereichen
wer nicht gedient hat“. Prinz Auguſt ſendete noch aus der Kriegsge-
fangenſchaft einen Plan für die Neubildung des Heeres, worin die all-
gemeine Wehrpflicht als leitender Gedanke obenan ſtand. Scharnhorſt
aber wußte, was die meiſten der Zeitgenoſſen ganz vergeſſen hatten, daß
damit nur ein altpreußiſcher Grundſatz erneuert wurde. Er erinnerte
den König daran, ſein Ahnherr Friedrich Wilhelm I. habe zuerſt unter
allen Fürſten Europas die allgemeine Conſcription eingeführt; dieſer
Grundſatz habe Preußen einſt groß gemacht und ſei in Oeſterreich und
Frankreich nur nachgeahmt worden; jetzt erſcheine es geboten, zu dem alt-
preußiſchen Syſteme zurückzukehren und den Mißbrauch der Exemtionen
kurzerhand hinwegzufegen; nur ſo bilde ſich eine wahre ſtehende Armee,
eine ſolche, die man jederzeit in gleicher Größe erhalten könne. Faſt genau
mit den Worten des alten Soldatenkönigs begann Scharnhorſt ſeinen
Entwurf für die Bildung einer Reſerve-Armee alſo: §. 1. Alle Bewohner
des Staates ſind geborene Vertheidiger deſſelben.

Die preußiſchen Offiziere faßten den Gedanken der allgemeinen Dienſt-
pflicht von Haus aus in einem freieren und gerechteren Sinne auf als
vormals die Bourgeois der franzöſiſchen Directorialregierung. Die Be-
ſiegten dachten zu ſtolz um die Inſtitutionen des Siegers einfach nach-
zuahmen. Man hatte es ertragen, daß der Befehl des Königs einzelne
Volksklaſſen kraft ihrer Standesprivilegien oder aus volkswirthſchaftlichen
Rückſichten von der Cantonspflicht befreite. Aber die Vorſtellung, daß der

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[294/0310] I. 3. Preußens Erhebung. völlig gebrochen, was dem Cadettenhauſe Friedrich Wilhelms I. nur halb gelungen war. Das alte Geſchlecht, das die Federfuchſer verhöhnte, ſtarb hinweg, der junge Nachwuchs kannte und achtete die Macht des Wiſſens. Allen dieſen Reformen lag der Gedanke zu Grunde, daß die Armee fortan das Volk in Waffen ſein ſolle, ein nationales Heer, dem jeder Wehrfähige angehöre. Die Werbung wurde abgeſchafft, die Aufnahme von Ausländern verboten, nur einzelne Freiwillige von deutſchem Blute ließ man zu. Die neuen Kriegsartikel und die Verordnung über die Militärſtrafen hoben ſogleich mit der Verheißung an, künftig würden alle Unterthanen, auch junge Leute von guter Erziehung, als gemeine Sol- daten dienen, und begründeten damit die Nothwendigkeit einer milderen Behandlung der Mannſchaft. Ueber die Verwerflichkeit der alten Be- freiungen vom Waffendienſte waren alle denkenden Offiziere einig. Der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht war ſchon vor dem Kriege von Boyen, Loſſau und anderen Offizieren vertheidigt, von dem Könige ſelbſt reiflich erwogen worden; während des unglücklichen Feldzugs hatte er dann in der Stille ſeinen Weg gemacht, und jetzt war jedem einſichtigen Soldaten klar, daß der ungleiche Kampf nur mit dem Aufgebote der geſammten Volkskraft wieder aufgenommen werden konnte. Gleich nach dem Frieden bat Blücher ſeinen lieben Scharnhorſt „vor einer National-Armee zu ſorgen, Niemand auf der Welt muß eximirt ſein, es muß zur Schande gereichen wer nicht gedient hat“. Prinz Auguſt ſendete noch aus der Kriegsge- fangenſchaft einen Plan für die Neubildung des Heeres, worin die all- gemeine Wehrpflicht als leitender Gedanke obenan ſtand. Scharnhorſt aber wußte, was die meiſten der Zeitgenoſſen ganz vergeſſen hatten, daß damit nur ein altpreußiſcher Grundſatz erneuert wurde. Er erinnerte den König daran, ſein Ahnherr Friedrich Wilhelm I. habe zuerſt unter allen Fürſten Europas die allgemeine Conſcription eingeführt; dieſer Grundſatz habe Preußen einſt groß gemacht und ſei in Oeſterreich und Frankreich nur nachgeahmt worden; jetzt erſcheine es geboten, zu dem alt- preußiſchen Syſteme zurückzukehren und den Mißbrauch der Exemtionen kurzerhand hinwegzufegen; nur ſo bilde ſich eine wahre ſtehende Armee, eine ſolche, die man jederzeit in gleicher Größe erhalten könne. Faſt genau mit den Worten des alten Soldatenkönigs begann Scharnhorſt ſeinen Entwurf für die Bildung einer Reſerve-Armee alſo: §. 1. Alle Bewohner des Staates ſind geborene Vertheidiger deſſelben. Die preußiſchen Offiziere faßten den Gedanken der allgemeinen Dienſt- pflicht von Haus aus in einem freieren und gerechteren Sinne auf als vormals die Bourgeois der franzöſiſchen Directorialregierung. Die Be- ſiegten dachten zu ſtolz um die Inſtitutionen des Siegers einfach nach- zuahmen. Man hatte es ertragen, daß der Befehl des Königs einzelne Volksklaſſen kraft ihrer Standesprivilegien oder aus volkswirthſchaftlichen Rückſichten von der Cantonspflicht befreite. Aber die Vorſtellung, daß der

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/310>, abgerufen am 04.05.2024.