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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Steins Charakter.

Es war der Schatten seiner Tugenden, daß er in den verschlungenen
Wegen der auswärtigen Politik sich nicht zurecht fand und die unentbehr-
lichen Künste diplomatischer Verschlagenheit als niederträchtiges Finassiren
verachtete. Ihm fehlte die List, die Behutsamkeit, die Gabe des Zauderns
und Hinhaltens. Auf dem Gebiete der Verwaltung bewegte er sich mit
vollendeter Sicherheit, jede seiner Verordnungen war ein Muster geschäft-
licher Klarheit und Bestimmtheit. Wenn aber eine Aussicht auf die Be-
freiung seines Vaterlandes sich zu eröffnen schien, so verließ ihn die
besonnene Ruhe, und fortgerissen von dem wilden Ungestüm seiner patrio-
tischen Begeisterung rechnete er dann leicht mit dem Unmöglichen.

Den Staat bedachtsam zwischen den Klippen hindurchzusteuern, bis der
rechte Augenblick der Erhebung erschien, war diesem Helden des heiligen
Zornes und der stürmischen Wahrhaftigkeit nicht gegeben. Doch Niemand
war wie er für die Aufgaben des politischen Reformators geboren. Der
zerrütteten Monarchie wieder die Richtung auf hohe sittliche Ziele zu
geben, ihre schlummernden herrlichen Kräfte durch den Weckruf eines
feurigen Willens zu beleben -- das vermochte nur Stein, denn Keiner
besaß wie er die fortreißende, überwältigende Macht der großen Persön-
lichkeit. Jedes unedle Wort verstummte, keine Beschönigung der Schwäche
und der Selbstsucht wagte sich mehr heraus, wenn er seine schwerwiegen-
den Gedanken in markigem, altväterischem Deutsch aussprach, ganz kunst-
los, volksthümlich derb, in jener wuchtigen Kürze, die dem Gedanken-
reichthum, der verhaltenen Leidenschaft des echten Germanen natürlich ist.
Die Gemeinheit zitterte vor der Unbarmherzigkeit seines stachligen Spottes,
vor den zermalmenden Schlägen seines Zornes. Wer aber ein Mann
war ging immer leuchtenden Blicks und gehobenen Muthes von dem
Glaubensstarken hinweg. Unauslöschlich prägte sich das Bild des Reichs-
freiherrn in die Herzen der besten Männer Deutschlands: die gedrungene
Gestalt mit dem breiten Nacken, den starken, wie für den Panzer ge-
schaffenen Schultern; tiefe, funkelnde braune Augen unter dem mächtigen
Gehäuse der Stirn, eine Eulennase über den schmalen, ausdrucksvoll be-
lebten Lippen; jede Bewegung der großen Hände jäh, eckig, gebieterisch:
ein Charakter wie aus dem hochgemuthen sechzehnten Jahrhundert, der
unwillkürlich an Dürers Bild vom Ritter Franz von Sickingen erinnerte
-- so geistvoll und so einfach, so tapfer unter den Menschen und so
demüthig vor Gott -- der ganze Mann eine wunderbare Verbindung von
Naturkraft und Bildung, Freisinn und Gerechtigkeit, von glühender Leiden-
schaft und billiger Erwägung -- eine Natur, die mit ihrer Unfähigkeit zu
jeder selbstischen Berechnung für Napoleon und die Genossen seines Glücks
immer ein unbegreifliches Räthsel blieb. Er war der Mann der Lage;
selbst seine Schwächen und einseitigen Ansichten entsprachen dem Bedürf-
niß des Augenblicks. Wenn er das Beamtenthum und den kleinen Adel
ungebührlich hart beurtheilte, die Oesterreicher schlechtweg als Preußens

18*
Steins Charakter.

Es war der Schatten ſeiner Tugenden, daß er in den verſchlungenen
Wegen der auswärtigen Politik ſich nicht zurecht fand und die unentbehr-
lichen Künſte diplomatiſcher Verſchlagenheit als niederträchtiges Finaſſiren
verachtete. Ihm fehlte die Liſt, die Behutſamkeit, die Gabe des Zauderns
und Hinhaltens. Auf dem Gebiete der Verwaltung bewegte er ſich mit
vollendeter Sicherheit, jede ſeiner Verordnungen war ein Muſter geſchäft-
licher Klarheit und Beſtimmtheit. Wenn aber eine Ausſicht auf die Be-
freiung ſeines Vaterlandes ſich zu eröffnen ſchien, ſo verließ ihn die
beſonnene Ruhe, und fortgeriſſen von dem wilden Ungeſtüm ſeiner patrio-
tiſchen Begeiſterung rechnete er dann leicht mit dem Unmöglichen.

Den Staat bedachtſam zwiſchen den Klippen hindurchzuſteuern, bis der
rechte Augenblick der Erhebung erſchien, war dieſem Helden des heiligen
Zornes und der ſtürmiſchen Wahrhaftigkeit nicht gegeben. Doch Niemand
war wie er für die Aufgaben des politiſchen Reformators geboren. Der
zerrütteten Monarchie wieder die Richtung auf hohe ſittliche Ziele zu
geben, ihre ſchlummernden herrlichen Kräfte durch den Weckruf eines
feurigen Willens zu beleben — das vermochte nur Stein, denn Keiner
beſaß wie er die fortreißende, überwältigende Macht der großen Perſön-
lichkeit. Jedes unedle Wort verſtummte, keine Beſchönigung der Schwäche
und der Selbſtſucht wagte ſich mehr heraus, wenn er ſeine ſchwerwiegen-
den Gedanken in markigem, altväteriſchem Deutſch ausſprach, ganz kunſt-
los, volksthümlich derb, in jener wuchtigen Kürze, die dem Gedanken-
reichthum, der verhaltenen Leidenſchaft des echten Germanen natürlich iſt.
Die Gemeinheit zitterte vor der Unbarmherzigkeit ſeines ſtachligen Spottes,
vor den zermalmenden Schlägen ſeines Zornes. Wer aber ein Mann
war ging immer leuchtenden Blicks und gehobenen Muthes von dem
Glaubensſtarken hinweg. Unauslöſchlich prägte ſich das Bild des Reichs-
freiherrn in die Herzen der beſten Männer Deutſchlands: die gedrungene
Geſtalt mit dem breiten Nacken, den ſtarken, wie für den Panzer ge-
ſchaffenen Schultern; tiefe, funkelnde braune Augen unter dem mächtigen
Gehäuſe der Stirn, eine Eulennaſe über den ſchmalen, ausdrucksvoll be-
lebten Lippen; jede Bewegung der großen Hände jäh, eckig, gebieteriſch:
ein Charakter wie aus dem hochgemuthen ſechzehnten Jahrhundert, der
unwillkürlich an Dürers Bild vom Ritter Franz von Sickingen erinnerte
— ſo geiſtvoll und ſo einfach, ſo tapfer unter den Menſchen und ſo
demüthig vor Gott — der ganze Mann eine wunderbare Verbindung von
Naturkraft und Bildung, Freiſinn und Gerechtigkeit, von glühender Leiden-
ſchaft und billiger Erwägung — eine Natur, die mit ihrer Unfähigkeit zu
jeder ſelbſtiſchen Berechnung für Napoleon und die Genoſſen ſeines Glücks
immer ein unbegreifliches Räthſel blieb. Er war der Mann der Lage;
ſelbſt ſeine Schwächen und einſeitigen Anſichten entſprachen dem Bedürf-
niß des Augenblicks. Wenn er das Beamtenthum und den kleinen Adel
ungebührlich hart beurtheilte, die Oeſterreicher ſchlechtweg als Preußens

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[275/0291] Steins Charakter. Es war der Schatten ſeiner Tugenden, daß er in den verſchlungenen Wegen der auswärtigen Politik ſich nicht zurecht fand und die unentbehr- lichen Künſte diplomatiſcher Verſchlagenheit als niederträchtiges Finaſſiren verachtete. Ihm fehlte die Liſt, die Behutſamkeit, die Gabe des Zauderns und Hinhaltens. Auf dem Gebiete der Verwaltung bewegte er ſich mit vollendeter Sicherheit, jede ſeiner Verordnungen war ein Muſter geſchäft- licher Klarheit und Beſtimmtheit. Wenn aber eine Ausſicht auf die Be- freiung ſeines Vaterlandes ſich zu eröffnen ſchien, ſo verließ ihn die beſonnene Ruhe, und fortgeriſſen von dem wilden Ungeſtüm ſeiner patrio- tiſchen Begeiſterung rechnete er dann leicht mit dem Unmöglichen. Den Staat bedachtſam zwiſchen den Klippen hindurchzuſteuern, bis der rechte Augenblick der Erhebung erſchien, war dieſem Helden des heiligen Zornes und der ſtürmiſchen Wahrhaftigkeit nicht gegeben. Doch Niemand war wie er für die Aufgaben des politiſchen Reformators geboren. Der zerrütteten Monarchie wieder die Richtung auf hohe ſittliche Ziele zu geben, ihre ſchlummernden herrlichen Kräfte durch den Weckruf eines feurigen Willens zu beleben — das vermochte nur Stein, denn Keiner beſaß wie er die fortreißende, überwältigende Macht der großen Perſön- lichkeit. Jedes unedle Wort verſtummte, keine Beſchönigung der Schwäche und der Selbſtſucht wagte ſich mehr heraus, wenn er ſeine ſchwerwiegen- den Gedanken in markigem, altväteriſchem Deutſch ausſprach, ganz kunſt- los, volksthümlich derb, in jener wuchtigen Kürze, die dem Gedanken- reichthum, der verhaltenen Leidenſchaft des echten Germanen natürlich iſt. Die Gemeinheit zitterte vor der Unbarmherzigkeit ſeines ſtachligen Spottes, vor den zermalmenden Schlägen ſeines Zornes. Wer aber ein Mann war ging immer leuchtenden Blicks und gehobenen Muthes von dem Glaubensſtarken hinweg. Unauslöſchlich prägte ſich das Bild des Reichs- freiherrn in die Herzen der beſten Männer Deutſchlands: die gedrungene Geſtalt mit dem breiten Nacken, den ſtarken, wie für den Panzer ge- ſchaffenen Schultern; tiefe, funkelnde braune Augen unter dem mächtigen Gehäuſe der Stirn, eine Eulennaſe über den ſchmalen, ausdrucksvoll be- lebten Lippen; jede Bewegung der großen Hände jäh, eckig, gebieteriſch: ein Charakter wie aus dem hochgemuthen ſechzehnten Jahrhundert, der unwillkürlich an Dürers Bild vom Ritter Franz von Sickingen erinnerte — ſo geiſtvoll und ſo einfach, ſo tapfer unter den Menſchen und ſo demüthig vor Gott — der ganze Mann eine wunderbare Verbindung von Naturkraft und Bildung, Freiſinn und Gerechtigkeit, von glühender Leiden- ſchaft und billiger Erwägung — eine Natur, die mit ihrer Unfähigkeit zu jeder ſelbſtiſchen Berechnung für Napoleon und die Genoſſen ſeines Glücks immer ein unbegreifliches Räthſel blieb. Er war der Mann der Lage; ſelbſt ſeine Schwächen und einſeitigen Anſichten entſprachen dem Bedürf- niß des Augenblicks. Wenn er das Beamtenthum und den kleinen Adel ungebührlich hart beurtheilte, die Oeſterreicher ſchlechtweg als Preußens 18*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/291>, abgerufen am 22.11.2024.