Schon mehrmals hatte Preußen durch das plötzliche Hervorbrechen seiner verborgenen sittlichen Kräfte die deutsche Welt in Erstaunen gesetzt: so einst, da Kurfürst Friedrich Wilhelm seinen kleinen Staat hineindrängte in die Reihe der alten Mächte; so wieder, als König Friedrich den Kampf um Schlesien wagte. Aber keine von den großen Ueberraschungen der preußischen Geschichte kam den Deutschen so unerwartet, wie die rasche und stolze Erhebung der halbzertrümmerten Großmacht nach dem tiefen Falle von Jena. Während die gefeierten Namen der alten Zeit sammt und sonders verächtlich zu den Todten geworfen wurden und in Preußen selbst Jedermann den gänzlichen Mangel an fähigem jungem Nachwuchs beklagte, schaarte sich mit einem male ein neues Geschlecht um den Thron: mächtige Charaktere, begeisterte Herzen, helle Köpfe in unabsehbarer Reihe, eine dichte Schaar von Talenten des Rathes und des Lagers, die den litera- rischen Größen der Nation ebenbürtig an die Seite traten. Und wie einst Friedrich auf den Schlachtfeldern Böhmens nur erntete was sein Vater in mühereichen Friedenszeiten still gesät hatte, so war auch dies schnelle Wiedererstarken der gebeugten Monarchie nur die reife Frucht der schweren Arbeit langer Jahre. Indem der Staat sich innerlich zusammenraffte, machte er sich Alles zu eigen, was Deutschlands Dichter und Denker während der letzten Jahrzehnte über Menschenwürde und Menschenfreiheit, über des Lebens sittliche Zwecke gedacht hatten. Er vertraute auf die be- freiende Macht des Geistes, ließ den vollen Strom der Ideen des neuen Deutschlands über sich hereinfluthen.
Jetzt erst wurde Preußen in Wahrheit der deutsche Staat; die Besten und Kühnsten aus allen Stämmen des Vaterlandes, die letzten Deutschen sammelten sich unter den schwarzundweißen Fahnen. Der schwung- volle Idealismus einer lauteren Bildung wies der alten preußischen Tapferkeit und Treue neue Pflichten und Ziele, erstarkte selber in der Zucht des politischen Lebens zu opferfreudiger Thatkraft. Der Staat gab
Dritter Abſchnitt. Preußens Erhebung.
Schon mehrmals hatte Preußen durch das plötzliche Hervorbrechen ſeiner verborgenen ſittlichen Kräfte die deutſche Welt in Erſtaunen geſetzt: ſo einſt, da Kurfürſt Friedrich Wilhelm ſeinen kleinen Staat hineindrängte in die Reihe der alten Mächte; ſo wieder, als König Friedrich den Kampf um Schleſien wagte. Aber keine von den großen Ueberraſchungen der preußiſchen Geſchichte kam den Deutſchen ſo unerwartet, wie die raſche und ſtolze Erhebung der halbzertrümmerten Großmacht nach dem tiefen Falle von Jena. Während die gefeierten Namen der alten Zeit ſammt und ſonders verächtlich zu den Todten geworfen wurden und in Preußen ſelbſt Jedermann den gänzlichen Mangel an fähigem jungem Nachwuchs beklagte, ſchaarte ſich mit einem male ein neues Geſchlecht um den Thron: mächtige Charaktere, begeiſterte Herzen, helle Köpfe in unabſehbarer Reihe, eine dichte Schaar von Talenten des Rathes und des Lagers, die den litera- riſchen Größen der Nation ebenbürtig an die Seite traten. Und wie einſt Friedrich auf den Schlachtfeldern Böhmens nur erntete was ſein Vater in mühereichen Friedenszeiten ſtill geſät hatte, ſo war auch dies ſchnelle Wiedererſtarken der gebeugten Monarchie nur die reife Frucht der ſchweren Arbeit langer Jahre. Indem der Staat ſich innerlich zuſammenraffte, machte er ſich Alles zu eigen, was Deutſchlands Dichter und Denker während der letzten Jahrzehnte über Menſchenwürde und Menſchenfreiheit, über des Lebens ſittliche Zwecke gedacht hatten. Er vertraute auf die be- freiende Macht des Geiſtes, ließ den vollen Strom der Ideen des neuen Deutſchlands über ſich hereinfluthen.
Jetzt erſt wurde Preußen in Wahrheit der deutſche Staat; die Beſten und Kühnſten aus allen Stämmen des Vaterlandes, die letzten Deutſchen ſammelten ſich unter den ſchwarzundweißen Fahnen. Der ſchwung- volle Idealismus einer lauteren Bildung wies der alten preußiſchen Tapferkeit und Treue neue Pflichten und Ziele, erſtarkte ſelber in der Zucht des politiſchen Lebens zu opferfreudiger Thatkraft. Der Staat gab
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Dritter Abſchnitt.
Preußens Erhebung.
Schon mehrmals hatte Preußen durch das plötzliche Hervorbrechen
ſeiner verborgenen ſittlichen Kräfte die deutſche Welt in Erſtaunen geſetzt:
ſo einſt, da Kurfürſt Friedrich Wilhelm ſeinen kleinen Staat hineindrängte
in die Reihe der alten Mächte; ſo wieder, als König Friedrich den Kampf
um Schleſien wagte. Aber keine von den großen Ueberraſchungen der
preußiſchen Geſchichte kam den Deutſchen ſo unerwartet, wie die raſche
und ſtolze Erhebung der halbzertrümmerten Großmacht nach dem tiefen
Falle von Jena. Während die gefeierten Namen der alten Zeit ſammt
und ſonders verächtlich zu den Todten geworfen wurden und in Preußen
ſelbſt Jedermann den gänzlichen Mangel an fähigem jungem Nachwuchs
beklagte, ſchaarte ſich mit einem male ein neues Geſchlecht um den Thron:
mächtige Charaktere, begeiſterte Herzen, helle Köpfe in unabſehbarer Reihe,
eine dichte Schaar von Talenten des Rathes und des Lagers, die den litera-
riſchen Größen der Nation ebenbürtig an die Seite traten. Und wie einſt
Friedrich auf den Schlachtfeldern Böhmens nur erntete was ſein Vater
in mühereichen Friedenszeiten ſtill geſät hatte, ſo war auch dies ſchnelle
Wiedererſtarken der gebeugten Monarchie nur die reife Frucht der ſchweren
Arbeit langer Jahre. Indem der Staat ſich innerlich zuſammenraffte,
machte er ſich Alles zu eigen, was Deutſchlands Dichter und Denker
während der letzten Jahrzehnte über Menſchenwürde und Menſchenfreiheit,
über des Lebens ſittliche Zwecke gedacht hatten. Er vertraute auf die be-
freiende Macht des Geiſtes, ließ den vollen Strom der Ideen des neuen
Deutſchlands über ſich hereinfluthen.
Jetzt erſt wurde Preußen in Wahrheit der deutſche Staat; die
Beſten und Kühnſten aus allen Stämmen des Vaterlandes, die letzten
Deutſchen ſammelten ſich unter den ſchwarzundweißen Fahnen. Der ſchwung-
volle Idealismus einer lauteren Bildung wies der alten preußiſchen
Tapferkeit und Treue neue Pflichten und Ziele, erſtarkte ſelber in der
Zucht des politiſchen Lebens zu opferfreudiger Thatkraft. Der Staat gab
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. [269]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/285>, abgerufen am 22.11.2024.
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