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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
Alexander kaum, daß das napoleonische Weltreich und die Continental-
sperre ohne die Unterwerfung Rußlands nicht bestehen konnten, daß der
Imperator schon jetzt durch die Besetzung Danzigs und die Wiederaufrich-
tung eines polnischen Staates den Entscheidungskrieg gegen seinen neuen
Freund von langer Hand her vorbereitete.

Nachdem die beiden Kaiser über ein Schutz- und Trutzbündniß und
einen gemeinsamen Krieg gegen England sich geeinigt, wurde auch der ver-
lassene Bundesgenosse herbeigerufen. Der König hatte ritterlich ausge-
halten bis fast der letzte Fußbreit seines Landes verloren war; jetzt mußte
er sich beugen, denn was konnte ein Aufruf an die Deutschen, wie ihn
Hardenberg wünschte, in dieser Stunde noch nützen? Als Friedrich Wil-
helm auf dem Floße im Memelstrome dem Eroberer begegnete, vermochte
er nicht den tiefen Widerwillen seines ehrlichen Herzens zu verbergen, und
der Sieger hatte für den Geschlagenen nur schnöde Geringschätzung, grol-
lende Vorwürfe. Auch die Bitten der mißhandelten Königin, die ihrem
Lande selbst den weiblichen Stolz opferte und dem rohen Peiniger persön-
lich nahte, glitten von Napoleon ab -- so schrieb er schadenfroh -- wie
das Wasser vom Wachstuch.

Am 7. und 9. Juli 1807 wurde der Friede von Tilsit unterzeichnet,
der grausamste aller französischen Friedensschlüsse, unerhört nach Form
und Inhalt. Nicht der rechtmäßige König von Preußen trat dem Sieger
einige Landestheile ab, sondern der Eroberer bewilligte aus Achtung für
den Kaiser aller Reußen die Rückgabe der kleineren Hälfte des preu-
ßischen Staates an ihren Monarchen. Und dieser empörende Satz, den
die Zeitgenossen nur für eine Ungezogenheit napoleonischen Uebermuths
ansahen, sagte die nackte Wahrheit. Denn wirklich nur aus Rück-
sicht auf den Czaren führte Napoleon die fest beschlossene Vernichtung
Preußens vorläufig blos zur Hälfte aus. Er bedurfte der russischen
Allianz um zunächst seinen großen Anschlag gegen Spanien ungestört ins
Werk zu setzen; Alexander aber wollte den letzten schmalen Damm, der
das russische Reich noch von den französischen Vasallenlanden trennte,
nicht gänzlich niederreißen lassen und verhehlte sein Mißtrauen nicht, als
Napoleon vorschlug, auch Schlesien und Ostpreußen von der preußischen
Monarchie abzutrennen. Preußen behielt von den 5700 Geviertmeilen,
welche der Staat, Hannover ungerechnet, vor dem Kriege besaß, nur
etwa 2800, von seinen dreiundzwanzig Kriegs- und Domänenkammern
nur die acht größten, von 93/4 Millionen Einwohnern nur 41/2 Million.
Das Werk Friedrichs des Großen schien vernichtet. Der Staat war nur
noch wenig umfangreicher als im Jahre 1740 und weit ungünstiger ge-
stellt; zurückgedrängt auf das rechte Elbufer, aller seiner Außenposten im
Westen beraubt stand er unter der Spitze des französischen Schwertes.
Seine geretteten Provinzen, Schlesien, das verkleinerte Altpreußen, die
noch übrigen Stücke von Brandenburg und Pommern, lagen wie die

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Alexander kaum, daß das napoleoniſche Weltreich und die Continental-
ſperre ohne die Unterwerfung Rußlands nicht beſtehen konnten, daß der
Imperator ſchon jetzt durch die Beſetzung Danzigs und die Wiederaufrich-
tung eines polniſchen Staates den Entſcheidungskrieg gegen ſeinen neuen
Freund von langer Hand her vorbereitete.

Nachdem die beiden Kaiſer über ein Schutz- und Trutzbündniß und
einen gemeinſamen Krieg gegen England ſich geeinigt, wurde auch der ver-
laſſene Bundesgenoſſe herbeigerufen. Der König hatte ritterlich ausge-
halten bis faſt der letzte Fußbreit ſeines Landes verloren war; jetzt mußte
er ſich beugen, denn was konnte ein Aufruf an die Deutſchen, wie ihn
Hardenberg wünſchte, in dieſer Stunde noch nützen? Als Friedrich Wil-
helm auf dem Floße im Memelſtrome dem Eroberer begegnete, vermochte
er nicht den tiefen Widerwillen ſeines ehrlichen Herzens zu verbergen, und
der Sieger hatte für den Geſchlagenen nur ſchnöde Geringſchätzung, grol-
lende Vorwürfe. Auch die Bitten der mißhandelten Königin, die ihrem
Lande ſelbſt den weiblichen Stolz opferte und dem rohen Peiniger perſön-
lich nahte, glitten von Napoleon ab — ſo ſchrieb er ſchadenfroh — wie
das Waſſer vom Wachstuch.

Am 7. und 9. Juli 1807 wurde der Friede von Tilſit unterzeichnet,
der grauſamſte aller franzöſiſchen Friedensſchlüſſe, unerhört nach Form
und Inhalt. Nicht der rechtmäßige König von Preußen trat dem Sieger
einige Landestheile ab, ſondern der Eroberer bewilligte aus Achtung für
den Kaiſer aller Reußen die Rückgabe der kleineren Hälfte des preu-
ßiſchen Staates an ihren Monarchen. Und dieſer empörende Satz, den
die Zeitgenoſſen nur für eine Ungezogenheit napoleoniſchen Uebermuths
anſahen, ſagte die nackte Wahrheit. Denn wirklich nur aus Rück-
ſicht auf den Czaren führte Napoleon die feſt beſchloſſene Vernichtung
Preußens vorläufig blos zur Hälfte aus. Er bedurfte der ruſſiſchen
Allianz um zunächſt ſeinen großen Anſchlag gegen Spanien ungeſtört ins
Werk zu ſetzen; Alexander aber wollte den letzten ſchmalen Damm, der
das ruſſiſche Reich noch von den franzöſiſchen Vaſallenlanden trennte,
nicht gänzlich niederreißen laſſen und verhehlte ſein Mißtrauen nicht, als
Napoleon vorſchlug, auch Schleſien und Oſtpreußen von der preußiſchen
Monarchie abzutrennen. Preußen behielt von den 5700 Geviertmeilen,
welche der Staat, Hannover ungerechnet, vor dem Kriege beſaß, nur
etwa 2800, von ſeinen dreiundzwanzig Kriegs- und Domänenkammern
nur die acht größten, von 9¾ Millionen Einwohnern nur 4½ Million.
Das Werk Friedrichs des Großen ſchien vernichtet. Der Staat war nur
noch wenig umfangreicher als im Jahre 1740 und weit ungünſtiger ge-
ſtellt; zurückgedrängt auf das rechte Elbufer, aller ſeiner Außenpoſten im
Weſten beraubt ſtand er unter der Spitze des franzöſiſchen Schwertes.
Seine geretteten Provinzen, Schleſien, das verkleinerte Altpreußen, die
noch übrigen Stücke von Brandenburg und Pommern, lagen wie die

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[264/0280] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. Alexander kaum, daß das napoleoniſche Weltreich und die Continental- ſperre ohne die Unterwerfung Rußlands nicht beſtehen konnten, daß der Imperator ſchon jetzt durch die Beſetzung Danzigs und die Wiederaufrich- tung eines polniſchen Staates den Entſcheidungskrieg gegen ſeinen neuen Freund von langer Hand her vorbereitete. Nachdem die beiden Kaiſer über ein Schutz- und Trutzbündniß und einen gemeinſamen Krieg gegen England ſich geeinigt, wurde auch der ver- laſſene Bundesgenoſſe herbeigerufen. Der König hatte ritterlich ausge- halten bis faſt der letzte Fußbreit ſeines Landes verloren war; jetzt mußte er ſich beugen, denn was konnte ein Aufruf an die Deutſchen, wie ihn Hardenberg wünſchte, in dieſer Stunde noch nützen? Als Friedrich Wil- helm auf dem Floße im Memelſtrome dem Eroberer begegnete, vermochte er nicht den tiefen Widerwillen ſeines ehrlichen Herzens zu verbergen, und der Sieger hatte für den Geſchlagenen nur ſchnöde Geringſchätzung, grol- lende Vorwürfe. Auch die Bitten der mißhandelten Königin, die ihrem Lande ſelbſt den weiblichen Stolz opferte und dem rohen Peiniger perſön- lich nahte, glitten von Napoleon ab — ſo ſchrieb er ſchadenfroh — wie das Waſſer vom Wachstuch. Am 7. und 9. Juli 1807 wurde der Friede von Tilſit unterzeichnet, der grauſamſte aller franzöſiſchen Friedensſchlüſſe, unerhört nach Form und Inhalt. Nicht der rechtmäßige König von Preußen trat dem Sieger einige Landestheile ab, ſondern der Eroberer bewilligte aus Achtung für den Kaiſer aller Reußen die Rückgabe der kleineren Hälfte des preu- ßiſchen Staates an ihren Monarchen. Und dieſer empörende Satz, den die Zeitgenoſſen nur für eine Ungezogenheit napoleoniſchen Uebermuths anſahen, ſagte die nackte Wahrheit. Denn wirklich nur aus Rück- ſicht auf den Czaren führte Napoleon die feſt beſchloſſene Vernichtung Preußens vorläufig blos zur Hälfte aus. Er bedurfte der ruſſiſchen Allianz um zunächſt ſeinen großen Anſchlag gegen Spanien ungeſtört ins Werk zu ſetzen; Alexander aber wollte den letzten ſchmalen Damm, der das ruſſiſche Reich noch von den franzöſiſchen Vaſallenlanden trennte, nicht gänzlich niederreißen laſſen und verhehlte ſein Mißtrauen nicht, als Napoleon vorſchlug, auch Schleſien und Oſtpreußen von der preußiſchen Monarchie abzutrennen. Preußen behielt von den 5700 Geviertmeilen, welche der Staat, Hannover ungerechnet, vor dem Kriege beſaß, nur etwa 2800, von ſeinen dreiundzwanzig Kriegs- und Domänenkammern nur die acht größten, von 9¾ Millionen Einwohnern nur 4½ Million. Das Werk Friedrichs des Großen ſchien vernichtet. Der Staat war nur noch wenig umfangreicher als im Jahre 1740 und weit ungünſtiger ge- ſtellt; zurückgedrängt auf das rechte Elbufer, aller ſeiner Außenpoſten im Weſten beraubt ſtand er unter der Spitze des franzöſiſchen Schwertes. Seine geretteten Provinzen, Schleſien, das verkleinerte Altpreußen, die noch übrigen Stücke von Brandenburg und Pommern, lagen wie die

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/280>, abgerufen am 25.11.2024.