Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Umschlag der Volksstimmung.
Zeit zu Ende. Nun da das Elend in jedem Hause wohnte, sah auch der
Bildungsstolz die gewaltige Hand des lebendigen Gottes; der Gelehrte
wie der Einfältige erkannte, was dies räthselvolle Leben ist ohne den
Glauben und was der armselige Mensch ohne sein Volk. Je länger die
Einquartierung währte, um so ernster, gesammelter, preußischer wurde die
Stimmung, und bald war die Stadt der frivolen Kritik kaum mehr
wiederzuerkennen. Alles lauschte in athemloser Spannung auf die Nach-
richten vom ostpreußischen Kriegsschauplatze. Die Invaliden spielten auf
ihren Drehorgeln das Klagelied um Prinz Louis Ferdinand, das einzige
Volkslied, das in dem dumpfen Jammer dieses Krieges entstanden war,
und am Geburtstage der geliebten Königin flammten, dem Verbote des fran-
zösischen Gouverneurs zum Trotz, in allen Berliner Häusern die Lichter
hinter den verhängten Fenstern. Auch auf dem Lande begann die Schlummer-
sucht der Friedenszeiten zu schwinden; mancher wetterfeste Bauersmann
blickte grimmig auf zu dem Bilde des großen Königs an der Wand.

So in Noth und Schmach lernte Barthold Niebuhr das preu-
ßische Volk zuerst kennen und schloß sich ihm an mit aller Leidenschaft
seines großen Herzens, denn er sah an ihm, daß edle Naturen im
Unglück größer erscheinen als im Glücke. Unmittelbar vor der Jenaer
Schlacht war er aus Dänemark in den preußischen Staatsdienst hinüber-
gekommen, und als er dann auf der Flucht nach Königsberg mit den
Pommern und Altpreußen verkehrte, da schrieb er zuversichtlich: "ich habe
in diesen Tagen nirgends mehr so viel Kraft, Ernst, Treue und Gut-
müthigkeit vereinigt zu finden erwartet; mit einem großen Sinne geleitet
wäre dies Volk der ganzen Welt unbezwinglich gewesen!" Doch die Menge
will immer erst fühlen bevor sie hört; früher und bewußter als in der
Masse, die erst durch die anhaltende Noth der kommenden Jahre ganz
für den Gedanken der Befreiung gewonnen wurde, erwachte der vater-
ländische Zorn unter dem Kriegsadel und unter den Gelehrten. Der
militärische Stolz des alten Preußenthums und der kühne Idealismus
der jungen deutschen Literatur begegneten sich plötzlich in einem Ge-
danken. Mitten im Niedergange der alten Monarchie bereitete sich schon
die große Wendung vor, welche den Gang unserer Geschichte im neun-
zehnten Jahrhundert bestimmt hat: die Versöhnung des preußischen Staates
mit der Freiheit deutscher Bildung. Während in den alten Soldaten-
geschlechtern ingrimmige Erbitterung gegen die Fremdherrschaft vorherrschte,
mancher tapfere Mann aus diesen Kreisen dem Könige freiwillig seine
Dienste anbot, ging auch Fichte von freien Stücken nach Königsberg,
weil er sein Haupt nicht unter das Joch des Treibers biegen wollte. Um
Schleiermacher aber sammelte sich schon in der Stille ein Kreis warm-
herziger Patrioten. Der treue Mann sah aus dem tiefen Falle die "Re-
generation Deutschlands" emporsteigen; er wollte dabei sein mit Wort und
Schrift und jetzt am wenigsten seinen König verlassen: "eine freie Rede

Umſchlag der Volksſtimmung.
Zeit zu Ende. Nun da das Elend in jedem Hauſe wohnte, ſah auch der
Bildungsſtolz die gewaltige Hand des lebendigen Gottes; der Gelehrte
wie der Einfältige erkannte, was dies räthſelvolle Leben iſt ohne den
Glauben und was der armſelige Menſch ohne ſein Volk. Je länger die
Einquartierung währte, um ſo ernſter, geſammelter, preußiſcher wurde die
Stimmung, und bald war die Stadt der frivolen Kritik kaum mehr
wiederzuerkennen. Alles lauſchte in athemloſer Spannung auf die Nach-
richten vom oſtpreußiſchen Kriegsſchauplatze. Die Invaliden ſpielten auf
ihren Drehorgeln das Klagelied um Prinz Louis Ferdinand, das einzige
Volkslied, das in dem dumpfen Jammer dieſes Krieges entſtanden war,
und am Geburtstage der geliebten Königin flammten, dem Verbote des fran-
zöſiſchen Gouverneurs zum Trotz, in allen Berliner Häuſern die Lichter
hinter den verhängten Fenſtern. Auch auf dem Lande begann die Schlummer-
ſucht der Friedenszeiten zu ſchwinden; mancher wetterfeſte Bauersmann
blickte grimmig auf zu dem Bilde des großen Königs an der Wand.

So in Noth und Schmach lernte Barthold Niebuhr das preu-
ßiſche Volk zuerſt kennen und ſchloß ſich ihm an mit aller Leidenſchaft
ſeines großen Herzens, denn er ſah an ihm, daß edle Naturen im
Unglück größer erſcheinen als im Glücke. Unmittelbar vor der Jenaer
Schlacht war er aus Dänemark in den preußiſchen Staatsdienſt hinüber-
gekommen, und als er dann auf der Flucht nach Königsberg mit den
Pommern und Altpreußen verkehrte, da ſchrieb er zuverſichtlich: „ich habe
in dieſen Tagen nirgends mehr ſo viel Kraft, Ernſt, Treue und Gut-
müthigkeit vereinigt zu finden erwartet; mit einem großen Sinne geleitet
wäre dies Volk der ganzen Welt unbezwinglich geweſen!“ Doch die Menge
will immer erſt fühlen bevor ſie hört; früher und bewußter als in der
Maſſe, die erſt durch die anhaltende Noth der kommenden Jahre ganz
für den Gedanken der Befreiung gewonnen wurde, erwachte der vater-
ländiſche Zorn unter dem Kriegsadel und unter den Gelehrten. Der
militäriſche Stolz des alten Preußenthums und der kühne Idealismus
der jungen deutſchen Literatur begegneten ſich plötzlich in einem Ge-
danken. Mitten im Niedergange der alten Monarchie bereitete ſich ſchon
die große Wendung vor, welche den Gang unſerer Geſchichte im neun-
zehnten Jahrhundert beſtimmt hat: die Verſöhnung des preußiſchen Staates
mit der Freiheit deutſcher Bildung. Während in den alten Soldaten-
geſchlechtern ingrimmige Erbitterung gegen die Fremdherrſchaft vorherrſchte,
mancher tapfere Mann aus dieſen Kreiſen dem Könige freiwillig ſeine
Dienſte anbot, ging auch Fichte von freien Stücken nach Königsberg,
weil er ſein Haupt nicht unter das Joch des Treibers biegen wollte. Um
Schleiermacher aber ſammelte ſich ſchon in der Stille ein Kreis warm-
herziger Patrioten. Der treue Mann ſah aus dem tiefen Falle die „Re-
generation Deutſchlands“ emporſteigen; er wollte dabei ſein mit Wort und
Schrift und jetzt am wenigſten ſeinen König verlaſſen: „eine freie Rede

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0269" n="253"/><fw place="top" type="header">Um&#x017F;chlag der Volks&#x017F;timmung.</fw><lb/>
Zeit zu Ende. Nun da das Elend in jedem Hau&#x017F;e wohnte, &#x017F;ah auch der<lb/>
Bildungs&#x017F;tolz die gewaltige Hand des lebendigen Gottes; der Gelehrte<lb/>
wie der Einfältige erkannte, was dies räth&#x017F;elvolle Leben i&#x017F;t ohne den<lb/>
Glauben und was der arm&#x017F;elige Men&#x017F;ch ohne &#x017F;ein Volk. Je länger die<lb/>
Einquartierung währte, um &#x017F;o ern&#x017F;ter, ge&#x017F;ammelter, preußi&#x017F;cher wurde die<lb/>
Stimmung, und bald war die Stadt der frivolen Kritik kaum mehr<lb/>
wiederzuerkennen. Alles lau&#x017F;chte in athemlo&#x017F;er Spannung auf die Nach-<lb/>
richten vom o&#x017F;tpreußi&#x017F;chen Kriegs&#x017F;chauplatze. Die Invaliden &#x017F;pielten auf<lb/>
ihren Drehorgeln das Klagelied um Prinz Louis Ferdinand, das einzige<lb/>
Volkslied, das in dem dumpfen Jammer die&#x017F;es Krieges ent&#x017F;tanden war,<lb/>
und am Geburtstage der geliebten Königin flammten, dem Verbote des fran-<lb/>&#x017F;i&#x017F;chen Gouverneurs zum Trotz, in allen Berliner Häu&#x017F;ern die Lichter<lb/>
hinter den verhängten Fen&#x017F;tern. Auch auf dem Lande begann die Schlummer-<lb/>
&#x017F;ucht der Friedenszeiten zu &#x017F;chwinden; mancher wetterfe&#x017F;te Bauersmann<lb/>
blickte grimmig auf zu dem Bilde des großen Königs an der Wand.</p><lb/>
            <p>So in Noth und Schmach lernte Barthold Niebuhr das preu-<lb/>
ßi&#x017F;che Volk zuer&#x017F;t kennen und &#x017F;chloß &#x017F;ich ihm an mit aller Leiden&#x017F;chaft<lb/>
&#x017F;eines großen Herzens, denn er &#x017F;ah an ihm, daß edle Naturen im<lb/>
Unglück größer er&#x017F;cheinen als im Glücke. Unmittelbar vor der Jenaer<lb/>
Schlacht war er aus Dänemark in den preußi&#x017F;chen Staatsdien&#x017F;t hinüber-<lb/>
gekommen, und als er dann auf der Flucht nach Königsberg mit den<lb/>
Pommern und Altpreußen verkehrte, da &#x017F;chrieb er zuver&#x017F;ichtlich: &#x201E;ich habe<lb/>
in die&#x017F;en Tagen nirgends mehr &#x017F;o viel Kraft, Ern&#x017F;t, Treue und Gut-<lb/>
müthigkeit vereinigt zu finden erwartet; mit einem großen Sinne geleitet<lb/>
wäre dies Volk der ganzen Welt unbezwinglich gewe&#x017F;en!&#x201C; Doch die Menge<lb/>
will immer er&#x017F;t fühlen bevor &#x017F;ie hört; früher und bewußter als in der<lb/>
Ma&#x017F;&#x017F;e, die er&#x017F;t durch die anhaltende Noth der kommenden Jahre ganz<lb/>
für den Gedanken der Befreiung gewonnen wurde, erwachte der vater-<lb/>
ländi&#x017F;che Zorn unter dem Kriegsadel und unter den Gelehrten. Der<lb/>
militäri&#x017F;che Stolz des alten Preußenthums und der kühne Idealismus<lb/>
der jungen deut&#x017F;chen Literatur begegneten &#x017F;ich plötzlich in einem Ge-<lb/>
danken. Mitten im Niedergange der alten Monarchie bereitete &#x017F;ich &#x017F;chon<lb/>
die große Wendung vor, welche den Gang un&#x017F;erer Ge&#x017F;chichte im neun-<lb/>
zehnten Jahrhundert be&#x017F;timmt hat: die Ver&#x017F;öhnung des preußi&#x017F;chen Staates<lb/>
mit der Freiheit deut&#x017F;cher Bildung. Während in den alten Soldaten-<lb/>
ge&#x017F;chlechtern ingrimmige Erbitterung gegen die Fremdherr&#x017F;chaft vorherr&#x017F;chte,<lb/>
mancher tapfere Mann aus die&#x017F;en Krei&#x017F;en dem Könige freiwillig &#x017F;eine<lb/>
Dien&#x017F;te anbot, ging auch Fichte von freien Stücken nach Königsberg,<lb/>
weil er &#x017F;ein Haupt nicht unter das Joch des Treibers biegen wollte. Um<lb/>
Schleiermacher aber &#x017F;ammelte &#x017F;ich &#x017F;chon in der Stille ein Kreis warm-<lb/>
herziger Patrioten. Der treue Mann &#x017F;ah aus dem tiefen Falle die &#x201E;Re-<lb/>
generation Deut&#x017F;chlands&#x201C; empor&#x017F;teigen; er wollte dabei &#x017F;ein mit Wort und<lb/>
Schrift und jetzt am wenig&#x017F;ten &#x017F;einen König verla&#x017F;&#x017F;en: &#x201E;eine freie Rede<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[253/0269] Umſchlag der Volksſtimmung. Zeit zu Ende. Nun da das Elend in jedem Hauſe wohnte, ſah auch der Bildungsſtolz die gewaltige Hand des lebendigen Gottes; der Gelehrte wie der Einfältige erkannte, was dies räthſelvolle Leben iſt ohne den Glauben und was der armſelige Menſch ohne ſein Volk. Je länger die Einquartierung währte, um ſo ernſter, geſammelter, preußiſcher wurde die Stimmung, und bald war die Stadt der frivolen Kritik kaum mehr wiederzuerkennen. Alles lauſchte in athemloſer Spannung auf die Nach- richten vom oſtpreußiſchen Kriegsſchauplatze. Die Invaliden ſpielten auf ihren Drehorgeln das Klagelied um Prinz Louis Ferdinand, das einzige Volkslied, das in dem dumpfen Jammer dieſes Krieges entſtanden war, und am Geburtstage der geliebten Königin flammten, dem Verbote des fran- zöſiſchen Gouverneurs zum Trotz, in allen Berliner Häuſern die Lichter hinter den verhängten Fenſtern. Auch auf dem Lande begann die Schlummer- ſucht der Friedenszeiten zu ſchwinden; mancher wetterfeſte Bauersmann blickte grimmig auf zu dem Bilde des großen Königs an der Wand. So in Noth und Schmach lernte Barthold Niebuhr das preu- ßiſche Volk zuerſt kennen und ſchloß ſich ihm an mit aller Leidenſchaft ſeines großen Herzens, denn er ſah an ihm, daß edle Naturen im Unglück größer erſcheinen als im Glücke. Unmittelbar vor der Jenaer Schlacht war er aus Dänemark in den preußiſchen Staatsdienſt hinüber- gekommen, und als er dann auf der Flucht nach Königsberg mit den Pommern und Altpreußen verkehrte, da ſchrieb er zuverſichtlich: „ich habe in dieſen Tagen nirgends mehr ſo viel Kraft, Ernſt, Treue und Gut- müthigkeit vereinigt zu finden erwartet; mit einem großen Sinne geleitet wäre dies Volk der ganzen Welt unbezwinglich geweſen!“ Doch die Menge will immer erſt fühlen bevor ſie hört; früher und bewußter als in der Maſſe, die erſt durch die anhaltende Noth der kommenden Jahre ganz für den Gedanken der Befreiung gewonnen wurde, erwachte der vater- ländiſche Zorn unter dem Kriegsadel und unter den Gelehrten. Der militäriſche Stolz des alten Preußenthums und der kühne Idealismus der jungen deutſchen Literatur begegneten ſich plötzlich in einem Ge- danken. Mitten im Niedergange der alten Monarchie bereitete ſich ſchon die große Wendung vor, welche den Gang unſerer Geſchichte im neun- zehnten Jahrhundert beſtimmt hat: die Verſöhnung des preußiſchen Staates mit der Freiheit deutſcher Bildung. Während in den alten Soldaten- geſchlechtern ingrimmige Erbitterung gegen die Fremdherrſchaft vorherrſchte, mancher tapfere Mann aus dieſen Kreiſen dem Könige freiwillig ſeine Dienſte anbot, ging auch Fichte von freien Stücken nach Königsberg, weil er ſein Haupt nicht unter das Joch des Treibers biegen wollte. Um Schleiermacher aber ſammelte ſich ſchon in der Stille ein Kreis warm- herziger Patrioten. Der treue Mann ſah aus dem tiefen Falle die „Re- generation Deutſchlands“ emporſteigen; er wollte dabei ſein mit Wort und Schrift und jetzt am wenigſten ſeinen König verlaſſen: „eine freie Rede

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/269
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/269>, abgerufen am 09.05.2024.