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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Anfänge der Romantik.
ein Deutschland gab als das deutsche Reich verschwunden war, daß die
Deutschen mitten in Noth und Knechtschaft noch an sich selber, an die
Unvergänglichkeit deutschen Wesens glauben durften. Aus der Durch-
bildung der freien Persönlichkeit ging unsere politische Freiheit, ging die
Unabhängigkeit des deutschen Staats hervor.

In dem Gedichte, das stolz und spröde wie kein zweites die Verachtung
der Idealisten gegen die schlechte Wirklichkeit aussprach, in Schillers Reich
der Schatten standen die Worte:

Nehmt die Gottheit auf in euren Willen,
Und sie steigt von ihrem Weltenthron!

Der Dichter ließ sie unverändert, obgleich Humboldt ihm treffend bemerkte,
sie gäben den ästhetischen Grundgedanken des Gedichtes nicht rein wieder.
Und er wußte was er that. Denn die Bildung, welche er mit seinen Freun-
den verkündigte, war nicht beschaulicher Genuß, sondern freudiges Handeln,
Hingabe des ganzen Menschen in den Dienst der Idee; sie schwächte nicht,
sie stählte ihren Jüngern die Kraft des Willens, erfüllte sie mit jener
Sicherheit der Seele, die "schlechterdings Alles was Schicksal heißt als
ganz gleichgiltig" ansah, wie Gentz von seinem Humboldt rühmte. Dieser
active Humanismus war weder weichmüthig noch staatsfeindlich, er hatte
nur das Wesen des Staates noch nicht verstanden und bedurfte nur der
Schule der Erfahrung um alle Tugenden des Bürgers und des Helden aus
sich heraus zu bilden. Wenn derselbe Humboldt, der jetzt die Flucht vor
dem Staate predigte, späterhin in fester Treue seinem Staate diente, so
widersprach er sich nicht selber, sondern schritt nur weiter auf dem einge-
schlagenen Wege: er hatte gelernt, daß der Adel freier Menschenbildung
in einem unterdrückten und entehrten Volke nicht bestehen kann.

Unterdessen begann bereits in der Literatur selbst eine neue Strö-
mung, welche die Deutschen zu einem tieferen Verständniß von Staat
und Vaterland führen sollte. Das erste Auftreten der jungen roman-
tischen Schule erschien zunächst als ein sittlicher und künstlerischer Verfall.
Waren die beiden letzten literarischen Generationen an edlen, liebens-
werthen Menschen überreich gewesen, so nahm jetzt die Zahl der Eitlen,
der Lüsternen, der Ueberbildeten bedenklich zu. Der Sturm und Drang,
dessen das aufsteigende Dichtergeschlecht sich rühmte, war nicht mehr naive
jugendliche Leidenschaft, sondern zeigte bereits den Charakter des Epigonen-
thums. Statt der einfältigen Lust am Schönen herrschte ein krankhafter
Ehrgeiz, der um jeden Preis das Niedagewesene leisten wollte, und treffend
sagte Goethe von seinen Nachfolgern: "sie kommen mir vor wie Ritter,
die, um ihre Vorgänger zu überbieten, den Dank außerhalb der Schranken
suchen."

Die dichterische Kraft der Romantiker blieb weit hinter ihren großen
Absichten zurück; schon den Zeitgenossen fiel es auf, daß ihre Phantasie
immer laut rauschend mit den Flügeln schlug ohne je in rechten Schwung

Anfänge der Romantik.
ein Deutſchland gab als das deutſche Reich verſchwunden war, daß die
Deutſchen mitten in Noth und Knechtſchaft noch an ſich ſelber, an die
Unvergänglichkeit deutſchen Weſens glauben durften. Aus der Durch-
bildung der freien Perſönlichkeit ging unſere politiſche Freiheit, ging die
Unabhängigkeit des deutſchen Staats hervor.

In dem Gedichte, das ſtolz und ſpröde wie kein zweites die Verachtung
der Idealiſten gegen die ſchlechte Wirklichkeit ausſprach, in Schillers Reich
der Schatten ſtanden die Worte:

Nehmt die Gottheit auf in euren Willen,
Und ſie ſteigt von ihrem Weltenthron!

Der Dichter ließ ſie unverändert, obgleich Humboldt ihm treffend bemerkte,
ſie gäben den äſthetiſchen Grundgedanken des Gedichtes nicht rein wieder.
Und er wußte was er that. Denn die Bildung, welche er mit ſeinen Freun-
den verkündigte, war nicht beſchaulicher Genuß, ſondern freudiges Handeln,
Hingabe des ganzen Menſchen in den Dienſt der Idee; ſie ſchwächte nicht,
ſie ſtählte ihren Jüngern die Kraft des Willens, erfüllte ſie mit jener
Sicherheit der Seele, die „ſchlechterdings Alles was Schickſal heißt als
ganz gleichgiltig“ anſah, wie Gentz von ſeinem Humboldt rühmte. Dieſer
active Humanismus war weder weichmüthig noch ſtaatsfeindlich, er hatte
nur das Weſen des Staates noch nicht verſtanden und bedurfte nur der
Schule der Erfahrung um alle Tugenden des Bürgers und des Helden aus
ſich heraus zu bilden. Wenn derſelbe Humboldt, der jetzt die Flucht vor
dem Staate predigte, ſpäterhin in feſter Treue ſeinem Staate diente, ſo
widerſprach er ſich nicht ſelber, ſondern ſchritt nur weiter auf dem einge-
ſchlagenen Wege: er hatte gelernt, daß der Adel freier Menſchenbildung
in einem unterdrückten und entehrten Volke nicht beſtehen kann.

Unterdeſſen begann bereits in der Literatur ſelbſt eine neue Strö-
mung, welche die Deutſchen zu einem tieferen Verſtändniß von Staat
und Vaterland führen ſollte. Das erſte Auftreten der jungen roman-
tiſchen Schule erſchien zunächſt als ein ſittlicher und künſtleriſcher Verfall.
Waren die beiden letzten literariſchen Generationen an edlen, liebens-
werthen Menſchen überreich geweſen, ſo nahm jetzt die Zahl der Eitlen,
der Lüſternen, der Ueberbildeten bedenklich zu. Der Sturm und Drang,
deſſen das aufſteigende Dichtergeſchlecht ſich rühmte, war nicht mehr naive
jugendliche Leidenſchaft, ſondern zeigte bereits den Charakter des Epigonen-
thums. Statt der einfältigen Luſt am Schönen herrſchte ein krankhafter
Ehrgeiz, der um jeden Preis das Niedageweſene leiſten wollte, und treffend
ſagte Goethe von ſeinen Nachfolgern: „ſie kommen mir vor wie Ritter,
die, um ihre Vorgänger zu überbieten, den Dank außerhalb der Schranken
ſuchen.“

Die dichteriſche Kraft der Romantiker blieb weit hinter ihren großen
Abſichten zurück; ſchon den Zeitgenoſſen fiel es auf, daß ihre Phantaſie
immer laut rauſchend mit den Flügeln ſchlug ohne je in rechten Schwung

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[205/0221] Anfänge der Romantik. ein Deutſchland gab als das deutſche Reich verſchwunden war, daß die Deutſchen mitten in Noth und Knechtſchaft noch an ſich ſelber, an die Unvergänglichkeit deutſchen Weſens glauben durften. Aus der Durch- bildung der freien Perſönlichkeit ging unſere politiſche Freiheit, ging die Unabhängigkeit des deutſchen Staats hervor. In dem Gedichte, das ſtolz und ſpröde wie kein zweites die Verachtung der Idealiſten gegen die ſchlechte Wirklichkeit ausſprach, in Schillers Reich der Schatten ſtanden die Worte: Nehmt die Gottheit auf in euren Willen, Und ſie ſteigt von ihrem Weltenthron! Der Dichter ließ ſie unverändert, obgleich Humboldt ihm treffend bemerkte, ſie gäben den äſthetiſchen Grundgedanken des Gedichtes nicht rein wieder. Und er wußte was er that. Denn die Bildung, welche er mit ſeinen Freun- den verkündigte, war nicht beſchaulicher Genuß, ſondern freudiges Handeln, Hingabe des ganzen Menſchen in den Dienſt der Idee; ſie ſchwächte nicht, ſie ſtählte ihren Jüngern die Kraft des Willens, erfüllte ſie mit jener Sicherheit der Seele, die „ſchlechterdings Alles was Schickſal heißt als ganz gleichgiltig“ anſah, wie Gentz von ſeinem Humboldt rühmte. Dieſer active Humanismus war weder weichmüthig noch ſtaatsfeindlich, er hatte nur das Weſen des Staates noch nicht verſtanden und bedurfte nur der Schule der Erfahrung um alle Tugenden des Bürgers und des Helden aus ſich heraus zu bilden. Wenn derſelbe Humboldt, der jetzt die Flucht vor dem Staate predigte, ſpäterhin in feſter Treue ſeinem Staate diente, ſo widerſprach er ſich nicht ſelber, ſondern ſchritt nur weiter auf dem einge- ſchlagenen Wege: er hatte gelernt, daß der Adel freier Menſchenbildung in einem unterdrückten und entehrten Volke nicht beſtehen kann. Unterdeſſen begann bereits in der Literatur ſelbſt eine neue Strö- mung, welche die Deutſchen zu einem tieferen Verſtändniß von Staat und Vaterland führen ſollte. Das erſte Auftreten der jungen roman- tiſchen Schule erſchien zunächſt als ein ſittlicher und künſtleriſcher Verfall. Waren die beiden letzten literariſchen Generationen an edlen, liebens- werthen Menſchen überreich geweſen, ſo nahm jetzt die Zahl der Eitlen, der Lüſternen, der Ueberbildeten bedenklich zu. Der Sturm und Drang, deſſen das aufſteigende Dichtergeſchlecht ſich rühmte, war nicht mehr naive jugendliche Leidenſchaft, ſondern zeigte bereits den Charakter des Epigonen- thums. Statt der einfältigen Luſt am Schönen herrſchte ein krankhafter Ehrgeiz, der um jeden Preis das Niedageweſene leiſten wollte, und treffend ſagte Goethe von ſeinen Nachfolgern: „ſie kommen mir vor wie Ritter, die, um ihre Vorgänger zu überbieten, den Dank außerhalb der Schranken ſuchen.“ Die dichteriſche Kraft der Romantiker blieb weit hinter ihren großen Abſichten zurück; ſchon den Zeitgenoſſen fiel es auf, daß ihre Phantaſie immer laut rauſchend mit den Flügeln ſchlug ohne je in rechten Schwung

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/221>, abgerufen am 27.11.2024.