Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
dicht war ein Ereigniß, ward in ausführlichen Briefen und Kritiken be-
trachtet, zergliedert, bewundert. Alle die unvermeidlichen Unarten litera-
rischer Epochen, Klatsch und Parteigeist, Gefühlsschwelgerei, Paradoxie und
eitler Selbstbetrug hatten freies Spiel; doch selbst aus den Schwächen der
Zeit sprach die Lebenskraft und Lebenslust eines hochbegabten und hoch-
sinnigen Geschlechtes, dem die Welt der Ideen die allein wirkliche war.
Ganz unbefangen lobte Wilhelm Humboldt die göttliche Anarchie des päpst-
lichen Roms, weil sie den Denker im Sinnen und Schauen nicht störe:
-- was galten ihm die Römer von Fleisch und Blut neben den Geister-
stimmen, die aus den Marmorbildern des Vaticans redeten? Im selben
Sinne beklagte Schiller die Leere seines revolutionären Zeitalters, das
den Geist aufrege ohne ihm einen Gegenstand -- das will sagen: ein
ästhetisches Bild -- zu bieten.

Wer den tiefen heiligen Ernst dieses Idealismus und die Fülle geistiger
Kräfte, welche er zu seiner Durchbildung aufbrauchte, gerecht würdigt, der
wird die politische Unfähigkeit des Zeitalters nicht mehr räthselhaft finden.
Die Kargheit der Natur setzt der Schöpferkraft der Völker wie der Einzelnen
ein festes Maß, verhängt über jedes große menschliche Wirken den Fluch
der Einseitigkeit. Es war unmöglich, daß ein Geschlecht von solcher Energie
des geistigen Schaffens zugleich die kalte Berechnung, den listigen Welt-
sinn, den entschlossenen Einmuth und den harten Nationalhaß hätte be-
sitzen sollen, welche den unerhörten Gefahren der politischen Lage allein
Trotz bieten konnten. Wie Luther seines Gottes voll für die Bilderpracht
des leoninischen Roms kaum einen Blick übrig hatte, so wendeten die Helden
der neuen deutschen Bildung absichtlich ihre Augen hinweg von der Ver-
heerung, die über den deutschen Südwesten dahinfluthete, und dankten mit
Goethe dem Schicksal, "weil wir in der unbeweglichen nordischen Masse
stecken, gegen die man sich so leicht nicht wenden wird".

In der Freundschaft Schillers und Goethes fand die menschliche
Liebenswürdigkeit und die schöpferische Macht der neuen Bildung ihren
vollendeten Ausdruck. Die Deutschen rühmten sich von Altersher, kein
anderes Volk habe die Blüthe der Männerfreundschaft, das neidlose treue
Zusammenwirken großer Menschen zu großem Zwecke so oft gesehen; und
unter den vielen schönen Freundschaftsbünden ihrer Geschichte war dieser
der herrlichste. Zehn reiche Jahre hindurch überschütteten die beiden Freunde
ihr Volk unablässig mit neuen Geschenken und bewährten selbander den
Goethischen Spruch: Genie ist diejenige Kraft des Menschen, welche durch
Handeln und Thun Gesetz und Regel giebt. Und in solcher Fülle des
Schaffens gaben sie doch nur einen Theil ihres Wesens aus; sie wußten,
daß dauernder Nachruhm Keinem gebührt, der nicht größer war als seine
Werke.

Unvergeßlich prägte sich in die Herzen der Jugend dies einzige Bild
künstlerischer und menschlicher Größe: wie diese beiden durch Schicksal,

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
dicht war ein Ereigniß, ward in ausführlichen Briefen und Kritiken be-
trachtet, zergliedert, bewundert. Alle die unvermeidlichen Unarten litera-
riſcher Epochen, Klatſch und Parteigeiſt, Gefühlsſchwelgerei, Paradoxie und
eitler Selbſtbetrug hatten freies Spiel; doch ſelbſt aus den Schwächen der
Zeit ſprach die Lebenskraft und Lebensluſt eines hochbegabten und hoch-
ſinnigen Geſchlechtes, dem die Welt der Ideen die allein wirkliche war.
Ganz unbefangen lobte Wilhelm Humboldt die göttliche Anarchie des päpſt-
lichen Roms, weil ſie den Denker im Sinnen und Schauen nicht ſtöre:
— was galten ihm die Römer von Fleiſch und Blut neben den Geiſter-
ſtimmen, die aus den Marmorbildern des Vaticans redeten? Im ſelben
Sinne beklagte Schiller die Leere ſeines revolutionären Zeitalters, das
den Geiſt aufrege ohne ihm einen Gegenſtand — das will ſagen: ein
äſthetiſches Bild — zu bieten.

Wer den tiefen heiligen Ernſt dieſes Idealismus und die Fülle geiſtiger
Kräfte, welche er zu ſeiner Durchbildung aufbrauchte, gerecht würdigt, der
wird die politiſche Unfähigkeit des Zeitalters nicht mehr räthſelhaft finden.
Die Kargheit der Natur ſetzt der Schöpferkraft der Völker wie der Einzelnen
ein feſtes Maß, verhängt über jedes große menſchliche Wirken den Fluch
der Einſeitigkeit. Es war unmöglich, daß ein Geſchlecht von ſolcher Energie
des geiſtigen Schaffens zugleich die kalte Berechnung, den liſtigen Welt-
ſinn, den entſchloſſenen Einmuth und den harten Nationalhaß hätte be-
ſitzen ſollen, welche den unerhörten Gefahren der politiſchen Lage allein
Trotz bieten konnten. Wie Luther ſeines Gottes voll für die Bilderpracht
des leoniniſchen Roms kaum einen Blick übrig hatte, ſo wendeten die Helden
der neuen deutſchen Bildung abſichtlich ihre Augen hinweg von der Ver-
heerung, die über den deutſchen Südweſten dahinfluthete, und dankten mit
Goethe dem Schickſal, „weil wir in der unbeweglichen nordiſchen Maſſe
ſtecken, gegen die man ſich ſo leicht nicht wenden wird“.

In der Freundſchaft Schillers und Goethes fand die menſchliche
Liebenswürdigkeit und die ſchöpferiſche Macht der neuen Bildung ihren
vollendeten Ausdruck. Die Deutſchen rühmten ſich von Altersher, kein
anderes Volk habe die Blüthe der Männerfreundſchaft, das neidloſe treue
Zuſammenwirken großer Menſchen zu großem Zwecke ſo oft geſehen; und
unter den vielen ſchönen Freundſchaftsbünden ihrer Geſchichte war dieſer
der herrlichſte. Zehn reiche Jahre hindurch überſchütteten die beiden Freunde
ihr Volk unabläſſig mit neuen Geſchenken und bewährten ſelbander den
Goethiſchen Spruch: Genie iſt diejenige Kraft des Menſchen, welche durch
Handeln und Thun Geſetz und Regel giebt. Und in ſolcher Fülle des
Schaffens gaben ſie doch nur einen Theil ihres Weſens aus; ſie wußten,
daß dauernder Nachruhm Keinem gebührt, der nicht größer war als ſeine
Werke.

Unvergeßlich prägte ſich in die Herzen der Jugend dies einzige Bild
künſtleriſcher und menſchlicher Größe: wie dieſe beiden durch Schickſal,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0212" n="196"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> 2. Revolution und Fremdherr&#x017F;chaft.</fw><lb/>
dicht war ein Ereigniß, ward in ausführlichen Briefen und Kritiken be-<lb/>
trachtet, zergliedert, bewundert. Alle die unvermeidlichen Unarten litera-<lb/>
ri&#x017F;cher Epochen, Klat&#x017F;ch und Parteigei&#x017F;t, Gefühls&#x017F;chwelgerei, Paradoxie und<lb/>
eitler Selb&#x017F;tbetrug hatten freies Spiel; doch &#x017F;elb&#x017F;t aus den Schwächen der<lb/>
Zeit &#x017F;prach die Lebenskraft und Lebenslu&#x017F;t eines hochbegabten und hoch-<lb/>
&#x017F;innigen Ge&#x017F;chlechtes, dem die Welt der Ideen die allein wirkliche war.<lb/>
Ganz unbefangen lobte Wilhelm Humboldt die göttliche Anarchie des päp&#x017F;t-<lb/>
lichen Roms, weil &#x017F;ie den Denker im Sinnen und Schauen nicht &#x017F;töre:<lb/>
&#x2014; was galten ihm die Römer von Flei&#x017F;ch und Blut neben den Gei&#x017F;ter-<lb/>
&#x017F;timmen, die aus den Marmorbildern des Vaticans redeten? Im &#x017F;elben<lb/>
Sinne beklagte Schiller die Leere &#x017F;eines revolutionären Zeitalters, das<lb/>
den Gei&#x017F;t aufrege ohne ihm einen Gegen&#x017F;tand &#x2014; das will &#x017F;agen: ein<lb/>
ä&#x017F;theti&#x017F;ches Bild &#x2014; zu bieten.</p><lb/>
            <p>Wer den tiefen heiligen Ern&#x017F;t die&#x017F;es Idealismus und die Fülle gei&#x017F;tiger<lb/>
Kräfte, welche er zu &#x017F;einer Durchbildung aufbrauchte, gerecht würdigt, der<lb/>
wird die politi&#x017F;che Unfähigkeit des Zeitalters nicht mehr räth&#x017F;elhaft finden.<lb/>
Die Kargheit der Natur &#x017F;etzt der Schöpferkraft der Völker wie der Einzelnen<lb/>
ein fe&#x017F;tes Maß, verhängt über jedes große men&#x017F;chliche Wirken den Fluch<lb/>
der Ein&#x017F;eitigkeit. Es war unmöglich, daß ein Ge&#x017F;chlecht von &#x017F;olcher Energie<lb/>
des gei&#x017F;tigen Schaffens zugleich die kalte Berechnung, den li&#x017F;tigen Welt-<lb/>
&#x017F;inn, den ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Einmuth und den harten Nationalhaß hätte be-<lb/>
&#x017F;itzen &#x017F;ollen, welche den unerhörten Gefahren der politi&#x017F;chen Lage allein<lb/>
Trotz bieten konnten. Wie Luther &#x017F;eines Gottes voll für die Bilderpracht<lb/>
des leonini&#x017F;chen Roms kaum einen Blick übrig hatte, &#x017F;o wendeten die Helden<lb/>
der neuen deut&#x017F;chen Bildung ab&#x017F;ichtlich ihre Augen hinweg von der Ver-<lb/>
heerung, die über den deut&#x017F;chen Südwe&#x017F;ten dahinfluthete, und dankten mit<lb/>
Goethe dem Schick&#x017F;al, &#x201E;weil wir in der unbeweglichen nordi&#x017F;chen Ma&#x017F;&#x017F;e<lb/>
&#x017F;tecken, gegen die man &#x017F;ich &#x017F;o leicht nicht wenden wird&#x201C;.</p><lb/>
            <p>In der Freund&#x017F;chaft Schillers und Goethes fand die men&#x017F;chliche<lb/>
Liebenswürdigkeit und die &#x017F;chöpferi&#x017F;che Macht der neuen Bildung ihren<lb/>
vollendeten Ausdruck. Die Deut&#x017F;chen rühmten &#x017F;ich von Altersher, kein<lb/>
anderes Volk habe die Blüthe der Männerfreund&#x017F;chaft, das neidlo&#x017F;e treue<lb/>
Zu&#x017F;ammenwirken großer Men&#x017F;chen zu großem Zwecke &#x017F;o oft ge&#x017F;ehen; und<lb/>
unter den vielen &#x017F;chönen Freund&#x017F;chaftsbünden ihrer Ge&#x017F;chichte war die&#x017F;er<lb/>
der herrlich&#x017F;te. Zehn reiche Jahre hindurch über&#x017F;chütteten die beiden Freunde<lb/>
ihr Volk unablä&#x017F;&#x017F;ig mit neuen Ge&#x017F;chenken und bewährten &#x017F;elbander den<lb/>
Goethi&#x017F;chen Spruch: Genie i&#x017F;t diejenige Kraft des Men&#x017F;chen, welche durch<lb/>
Handeln und Thun Ge&#x017F;etz und Regel giebt. Und in &#x017F;olcher Fülle des<lb/>
Schaffens gaben &#x017F;ie doch nur einen Theil ihres We&#x017F;ens aus; &#x017F;ie wußten,<lb/>
daß dauernder Nachruhm Keinem gebührt, der nicht größer war als &#x017F;eine<lb/>
Werke.</p><lb/>
            <p>Unvergeßlich prägte &#x017F;ich in die Herzen der Jugend dies einzige Bild<lb/>
kün&#x017F;tleri&#x017F;cher und men&#x017F;chlicher Größe: wie die&#x017F;e beiden durch Schick&#x017F;al,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[196/0212] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. dicht war ein Ereigniß, ward in ausführlichen Briefen und Kritiken be- trachtet, zergliedert, bewundert. Alle die unvermeidlichen Unarten litera- riſcher Epochen, Klatſch und Parteigeiſt, Gefühlsſchwelgerei, Paradoxie und eitler Selbſtbetrug hatten freies Spiel; doch ſelbſt aus den Schwächen der Zeit ſprach die Lebenskraft und Lebensluſt eines hochbegabten und hoch- ſinnigen Geſchlechtes, dem die Welt der Ideen die allein wirkliche war. Ganz unbefangen lobte Wilhelm Humboldt die göttliche Anarchie des päpſt- lichen Roms, weil ſie den Denker im Sinnen und Schauen nicht ſtöre: — was galten ihm die Römer von Fleiſch und Blut neben den Geiſter- ſtimmen, die aus den Marmorbildern des Vaticans redeten? Im ſelben Sinne beklagte Schiller die Leere ſeines revolutionären Zeitalters, das den Geiſt aufrege ohne ihm einen Gegenſtand — das will ſagen: ein äſthetiſches Bild — zu bieten. Wer den tiefen heiligen Ernſt dieſes Idealismus und die Fülle geiſtiger Kräfte, welche er zu ſeiner Durchbildung aufbrauchte, gerecht würdigt, der wird die politiſche Unfähigkeit des Zeitalters nicht mehr räthſelhaft finden. Die Kargheit der Natur ſetzt der Schöpferkraft der Völker wie der Einzelnen ein feſtes Maß, verhängt über jedes große menſchliche Wirken den Fluch der Einſeitigkeit. Es war unmöglich, daß ein Geſchlecht von ſolcher Energie des geiſtigen Schaffens zugleich die kalte Berechnung, den liſtigen Welt- ſinn, den entſchloſſenen Einmuth und den harten Nationalhaß hätte be- ſitzen ſollen, welche den unerhörten Gefahren der politiſchen Lage allein Trotz bieten konnten. Wie Luther ſeines Gottes voll für die Bilderpracht des leoniniſchen Roms kaum einen Blick übrig hatte, ſo wendeten die Helden der neuen deutſchen Bildung abſichtlich ihre Augen hinweg von der Ver- heerung, die über den deutſchen Südweſten dahinfluthete, und dankten mit Goethe dem Schickſal, „weil wir in der unbeweglichen nordiſchen Maſſe ſtecken, gegen die man ſich ſo leicht nicht wenden wird“. In der Freundſchaft Schillers und Goethes fand die menſchliche Liebenswürdigkeit und die ſchöpferiſche Macht der neuen Bildung ihren vollendeten Ausdruck. Die Deutſchen rühmten ſich von Altersher, kein anderes Volk habe die Blüthe der Männerfreundſchaft, das neidloſe treue Zuſammenwirken großer Menſchen zu großem Zwecke ſo oft geſehen; und unter den vielen ſchönen Freundſchaftsbünden ihrer Geſchichte war dieſer der herrlichſte. Zehn reiche Jahre hindurch überſchütteten die beiden Freunde ihr Volk unabläſſig mit neuen Geſchenken und bewährten ſelbander den Goethiſchen Spruch: Genie iſt diejenige Kraft des Menſchen, welche durch Handeln und Thun Geſetz und Regel giebt. Und in ſolcher Fülle des Schaffens gaben ſie doch nur einen Theil ihres Weſens aus; ſie wußten, daß dauernder Nachruhm Keinem gebührt, der nicht größer war als ſeine Werke. Unvergeßlich prägte ſich in die Herzen der Jugend dies einzige Bild künſtleriſcher und menſchlicher Größe: wie dieſe beiden durch Schickſal,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/212
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/212>, abgerufen am 24.11.2024.