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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.

Für Oesterreich war die Fürstenrevolution eine schwere Niederlage.
Die alte kaiserliche Partei wurde zersprengt, die Kaiserwürde zu einem
leeren Namen, und selbst diesen Namen aufzugeben schien jetzt räthlich,
da der neue Kurfürstenrath schwerlich geneigt war im Falle der Neuwahl
abermals einen Erzherzog zu küren. Durch die Preisgabe ihrer west-
lichen Provinzen erlangte die Monarchie zwar eine treffliche Abrundung
im Südosten, und die Diplomaten der Hofburg wünschten sich Glück, daß
man endlich aus einem gefährlichen und gewaltsamen Zustande befreit
sei. Die Höfe von München und Stuttgart hatten jetzt wenig Grund
mehr vor der Wiener Eroberungslust zu zittern, und es schien möglich
dereinst wieder ein freundnachbarliches Verhältniß mit ihnen anzuknüpfen.
Aber die militärische Herrschaft im deutschen Südwesten war verloren, ja
Oesterreich schied in Wahrheit aus dem Reiche aus. Seine Politik mußte
ganz neue Wege einschlagen, wenn sie noch irgend einen Einfluß auf
Deutschland ausüben wollte; denn die Machtmittel des alten Kaiserthums
waren vernutzt.

Auch Preußens Macht hatte durch den Reichsdeputationshauptschluß
nicht gewonnen. Wohl war es ein Vortheil, daß die österreichische Partei ver-
schwand und im Reichstage ein leidliches Gleichgewicht zwischen dem Norden
und dem Süden sich herstellte; vormals hatten die Staaten des Südens
und Westens durch ihre Ueberzahl den Ausschlag gegeben, jetzt konnten
auch die Stimmen Norddeutschlands zu ihrem Rechte kommen. Trotzdem
war Preußens Ansehen im Reiche tief gesunken. Seine kraftlose Politik
hatte überall das Gegentheil ihrer guten Absichten erreicht: statt der Ver-
stärkung der deutschen Widerstandskraft vielmehr die Befestigung der fran-
zösischen Uebermacht, statt des Neubaues der Reichsverfassung vielmehr
eine wüste Anarchie, die der völligen Auflösung entgegentrieb. Selbst der
neue Ländergewinn schien glänzender als er war. Preußen verlor die
getreuen, für seine Macht wie für seine Cultur gleich werthvollen nieder-
rheinischen Gebiete und erwarb dafür, außer Hildesheim, Erfurt und
einigen kleineren Reichsstädten und Stiftslanden, die feste Burg des un-
zufriedenen katholischen Adels, das Münsterland. Hier zum ersten male
auf deutschem Boden begegnete dem preußischen Eroberer nicht blos eine
flüchtige particularistische Verstimmung, sondern ein tiefer nachhaltiger Haß,
wie in den slavischen Provinzen. Die schwerfällige neue Verwaltung ge-
wann wenig Ansehen in dem widerhaarigen Lande, sie brauchte drei Jahre
bis sie sich nur entschloß den Heerd aller staatsfeindlichen Umtriebe, das
Domcapitel zu beseitigen. Das Einkommen des Staates wurde durch die
Gebietserweiterung nicht vermehrt, da er wieder, wie früher in Franken
und in Polen, die Steuerkraft der neuen Unterthanen allzu ängstlich schonte;
auch die Armee erhielt nur eine geringe Verstärkung, um etwa drei Regi-
menter. Zudem hatte man durch die neuen Verträge nicht einmal eine
haltbare Grenze erlangt, sondern lediglich den preußischen Archipel im

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.

Für Oeſterreich war die Fürſtenrevolution eine ſchwere Niederlage.
Die alte kaiſerliche Partei wurde zerſprengt, die Kaiſerwürde zu einem
leeren Namen, und ſelbſt dieſen Namen aufzugeben ſchien jetzt räthlich,
da der neue Kurfürſtenrath ſchwerlich geneigt war im Falle der Neuwahl
abermals einen Erzherzog zu küren. Durch die Preisgabe ihrer weſt-
lichen Provinzen erlangte die Monarchie zwar eine treffliche Abrundung
im Südoſten, und die Diplomaten der Hofburg wünſchten ſich Glück, daß
man endlich aus einem gefährlichen und gewaltſamen Zuſtande befreit
ſei. Die Höfe von München und Stuttgart hatten jetzt wenig Grund
mehr vor der Wiener Eroberungsluſt zu zittern, und es ſchien möglich
dereinſt wieder ein freundnachbarliches Verhältniß mit ihnen anzuknüpfen.
Aber die militäriſche Herrſchaft im deutſchen Südweſten war verloren, ja
Oeſterreich ſchied in Wahrheit aus dem Reiche aus. Seine Politik mußte
ganz neue Wege einſchlagen, wenn ſie noch irgend einen Einfluß auf
Deutſchland ausüben wollte; denn die Machtmittel des alten Kaiſerthums
waren vernutzt.

Auch Preußens Macht hatte durch den Reichsdeputationshauptſchluß
nicht gewonnen. Wohl war es ein Vortheil, daß die öſterreichiſche Partei ver-
ſchwand und im Reichstage ein leidliches Gleichgewicht zwiſchen dem Norden
und dem Süden ſich herſtellte; vormals hatten die Staaten des Südens
und Weſtens durch ihre Ueberzahl den Ausſchlag gegeben, jetzt konnten
auch die Stimmen Norddeutſchlands zu ihrem Rechte kommen. Trotzdem
war Preußens Anſehen im Reiche tief geſunken. Seine kraftloſe Politik
hatte überall das Gegentheil ihrer guten Abſichten erreicht: ſtatt der Ver-
ſtärkung der deutſchen Widerſtandskraft vielmehr die Befeſtigung der fran-
zöſiſchen Uebermacht, ſtatt des Neubaues der Reichsverfaſſung vielmehr
eine wüſte Anarchie, die der völligen Auflöſung entgegentrieb. Selbſt der
neue Ländergewinn ſchien glänzender als er war. Preußen verlor die
getreuen, für ſeine Macht wie für ſeine Cultur gleich werthvollen nieder-
rheiniſchen Gebiete und erwarb dafür, außer Hildesheim, Erfurt und
einigen kleineren Reichsſtädten und Stiftslanden, die feſte Burg des un-
zufriedenen katholiſchen Adels, das Münſterland. Hier zum erſten male
auf deutſchem Boden begegnete dem preußiſchen Eroberer nicht blos eine
flüchtige particulariſtiſche Verſtimmung, ſondern ein tiefer nachhaltiger Haß,
wie in den ſlaviſchen Provinzen. Die ſchwerfällige neue Verwaltung ge-
wann wenig Anſehen in dem widerhaarigen Lande, ſie brauchte drei Jahre
bis ſie ſich nur entſchloß den Heerd aller ſtaatsfeindlichen Umtriebe, das
Domcapitel zu beſeitigen. Das Einkommen des Staates wurde durch die
Gebietserweiterung nicht vermehrt, da er wieder, wie früher in Franken
und in Polen, die Steuerkraft der neuen Unterthanen allzu ängſtlich ſchonte;
auch die Armee erhielt nur eine geringe Verſtärkung, um etwa drei Regi-
menter. Zudem hatte man durch die neuen Verträge nicht einmal eine
haltbare Grenze erlangt, ſondern lediglich den preußiſchen Archipel im

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[190/0206] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. Für Oeſterreich war die Fürſtenrevolution eine ſchwere Niederlage. Die alte kaiſerliche Partei wurde zerſprengt, die Kaiſerwürde zu einem leeren Namen, und ſelbſt dieſen Namen aufzugeben ſchien jetzt räthlich, da der neue Kurfürſtenrath ſchwerlich geneigt war im Falle der Neuwahl abermals einen Erzherzog zu küren. Durch die Preisgabe ihrer weſt- lichen Provinzen erlangte die Monarchie zwar eine treffliche Abrundung im Südoſten, und die Diplomaten der Hofburg wünſchten ſich Glück, daß man endlich aus einem gefährlichen und gewaltſamen Zuſtande befreit ſei. Die Höfe von München und Stuttgart hatten jetzt wenig Grund mehr vor der Wiener Eroberungsluſt zu zittern, und es ſchien möglich dereinſt wieder ein freundnachbarliches Verhältniß mit ihnen anzuknüpfen. Aber die militäriſche Herrſchaft im deutſchen Südweſten war verloren, ja Oeſterreich ſchied in Wahrheit aus dem Reiche aus. Seine Politik mußte ganz neue Wege einſchlagen, wenn ſie noch irgend einen Einfluß auf Deutſchland ausüben wollte; denn die Machtmittel des alten Kaiſerthums waren vernutzt. Auch Preußens Macht hatte durch den Reichsdeputationshauptſchluß nicht gewonnen. Wohl war es ein Vortheil, daß die öſterreichiſche Partei ver- ſchwand und im Reichstage ein leidliches Gleichgewicht zwiſchen dem Norden und dem Süden ſich herſtellte; vormals hatten die Staaten des Südens und Weſtens durch ihre Ueberzahl den Ausſchlag gegeben, jetzt konnten auch die Stimmen Norddeutſchlands zu ihrem Rechte kommen. Trotzdem war Preußens Anſehen im Reiche tief geſunken. Seine kraftloſe Politik hatte überall das Gegentheil ihrer guten Abſichten erreicht: ſtatt der Ver- ſtärkung der deutſchen Widerſtandskraft vielmehr die Befeſtigung der fran- zöſiſchen Uebermacht, ſtatt des Neubaues der Reichsverfaſſung vielmehr eine wüſte Anarchie, die der völligen Auflöſung entgegentrieb. Selbſt der neue Ländergewinn ſchien glänzender als er war. Preußen verlor die getreuen, für ſeine Macht wie für ſeine Cultur gleich werthvollen nieder- rheiniſchen Gebiete und erwarb dafür, außer Hildesheim, Erfurt und einigen kleineren Reichsſtädten und Stiftslanden, die feſte Burg des un- zufriedenen katholiſchen Adels, das Münſterland. Hier zum erſten male auf deutſchem Boden begegnete dem preußiſchen Eroberer nicht blos eine flüchtige particulariſtiſche Verſtimmung, ſondern ein tiefer nachhaltiger Haß, wie in den ſlaviſchen Provinzen. Die ſchwerfällige neue Verwaltung ge- wann wenig Anſehen in dem widerhaarigen Lande, ſie brauchte drei Jahre bis ſie ſich nur entſchloß den Heerd aller ſtaatsfeindlichen Umtriebe, das Domcapitel zu beſeitigen. Das Einkommen des Staates wurde durch die Gebietserweiterung nicht vermehrt, da er wieder, wie früher in Franken und in Polen, die Steuerkraft der neuen Unterthanen allzu ängſtlich ſchonte; auch die Armee erhielt nur eine geringe Verſtärkung, um etwa drei Regi- menter. Zudem hatte man durch die neuen Verträge nicht einmal eine haltbare Grenze erlangt, ſondern lediglich den preußiſchen Archipel im

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/206>, abgerufen am 24.11.2024.