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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Auswärtige Politik Friedrich Wilhelms III.
collegien bei dem Drange der Geschäfte nicht selten zu Schulden kommen
lassen, und sie sind durch Eigenthum und Anhänglichkeit an das Vater-
land fest an das Interesse eines Landes gekettet, das den fremden öffent-
lichen Beamten gewöhnlich unbekannt, oft gleichgiltig und bisweilen selbst
verächtlich und verhaßt wird. Die Regenten haben von Ständen, die aus
Eigenthümern bestehen, nichts zu fürchten, mehr von der Neuerungssucht
jüngerer, der Lauigkeit und dem Miethlingsgeiste älterer öffentlicher Be-
amten und von der alle Sittlichkeit verschlingenden Weichlichkeit und dem
Egoismus, der alle Stände ergreift." Dem Könige blieben solche Ge-
danken noch ganz unverständlich. Er ließ sich zwar nicht zu so gehässigen
Urtheilen über die Revolution hinreißen, wie die übereifrigen Royalisten an
seinem Hofe, sondern erkannte die Berechtigung der französischen Bauern-
befreiung unbefangen an; aber was irgend an die constitutionelle Monarchie
erinnerte war ihm durch die Blutthaten der Franzosen verdächtig und un-
heimlich geworden. Wie sollte er auch bei der allgemeinen Zufriedenheit
des Volkes auf die Frage kommen, ob dieser pflichtgetreue Absolutismus,
der den Staat gebildet hatte, sich schon überlebt habe? Auch Stein selber
wußte noch keineswegs, wie morsch die alte Ordnung sei und wie dringend
geboten der Neubau. Es steht nicht anders, Hoch und Niedrig lebte be-
fangen in einer ungeheuren Selbsttäuschung. Das historische Urtheil ver-
mag nicht abzusehen, wie die Demüthigung von 1806 der alten Monarchie
hätte erspart werden sollen. Nur die durchschlagende Beweiskraft des
Krieges konnte dem verblendeten Geschlechte den inneren Verfall jener
fridericianischen Formen zeigen, welche durch den Zauber alten Ruhmes
alle Thatkraft lähmten. Nur eine Niederlage konnte die unnatürliche Epi-
sode der deutschen Herrschaft in Warschau beendigen, den Staat sich selber
und seinem deutschen Wesen zurückgeben. --

Für keine seiner königlichen Pflichten war Friedrich Wilhelm von
Haus aus so wenig vorbereitet wie für die Leitung der auswärtigen Politik;
langsam, bedächtig wie er war hat er einer sehr schweren Schule bedurft
bis sein weiches Gemüth sich an die Härte der großen politischen Macht-
fragen gewöhnte. Neigung und Pflichtgefühl stimmten ihn friedlich. Er
hätte es für einen Frevel gehalten, dies emsig arbeitende Norddeutschland,
dessen ruhiges Glück von Jedermann, selbst von Friedrich Gentz, gepriesen
wurde, ohne dringende Noth den Wechselfällen des Krieges, den verschul-
deten Staatshaushalt neuen Verwirrungen preiszugeben; nur zur Ab-
wehr eines unmittelbaren Angriffs wollte er sein Schwert ziehen. Die
allgemeine Friedensseligkeit der Norddeutschen fand nirgends eifrigere Ver-
treter als am preußischen Hofe; sie hatte sich hier sogar eine eigene staats-
rechtliche Doctrin erklügelt. "Ein König", sagte Oberst Köckeritz zu seinem
fürstlichen Freunde, "hat gar nicht das Recht das Dasein seines Staates
aufs Spiel zu setzen, das darf nur eine Republik." Ueber Frankreichs
gefährliche Absichten täuschte sich der gesunde Sinn des Königs nicht.

Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 11

Auswärtige Politik Friedrich Wilhelms III.
collegien bei dem Drange der Geſchäfte nicht ſelten zu Schulden kommen
laſſen, und ſie ſind durch Eigenthum und Anhänglichkeit an das Vater-
land feſt an das Intereſſe eines Landes gekettet, das den fremden öffent-
lichen Beamten gewöhnlich unbekannt, oft gleichgiltig und bisweilen ſelbſt
verächtlich und verhaßt wird. Die Regenten haben von Ständen, die aus
Eigenthümern beſtehen, nichts zu fürchten, mehr von der Neuerungsſucht
jüngerer, der Lauigkeit und dem Miethlingsgeiſte älterer öffentlicher Be-
amten und von der alle Sittlichkeit verſchlingenden Weichlichkeit und dem
Egoismus, der alle Stände ergreift.“ Dem Könige blieben ſolche Ge-
danken noch ganz unverſtändlich. Er ließ ſich zwar nicht zu ſo gehäſſigen
Urtheilen über die Revolution hinreißen, wie die übereifrigen Royaliſten an
ſeinem Hofe, ſondern erkannte die Berechtigung der franzöſiſchen Bauern-
befreiung unbefangen an; aber was irgend an die conſtitutionelle Monarchie
erinnerte war ihm durch die Blutthaten der Franzoſen verdächtig und un-
heimlich geworden. Wie ſollte er auch bei der allgemeinen Zufriedenheit
des Volkes auf die Frage kommen, ob dieſer pflichtgetreue Abſolutismus,
der den Staat gebildet hatte, ſich ſchon überlebt habe? Auch Stein ſelber
wußte noch keineswegs, wie morſch die alte Ordnung ſei und wie dringend
geboten der Neubau. Es ſteht nicht anders, Hoch und Niedrig lebte be-
fangen in einer ungeheuren Selbſttäuſchung. Das hiſtoriſche Urtheil ver-
mag nicht abzuſehen, wie die Demüthigung von 1806 der alten Monarchie
hätte erſpart werden ſollen. Nur die durchſchlagende Beweiskraft des
Krieges konnte dem verblendeten Geſchlechte den inneren Verfall jener
fridericianiſchen Formen zeigen, welche durch den Zauber alten Ruhmes
alle Thatkraft lähmten. Nur eine Niederlage konnte die unnatürliche Epi-
ſode der deutſchen Herrſchaft in Warſchau beendigen, den Staat ſich ſelber
und ſeinem deutſchen Weſen zurückgeben. —

Für keine ſeiner königlichen Pflichten war Friedrich Wilhelm von
Haus aus ſo wenig vorbereitet wie für die Leitung der auswärtigen Politik;
langſam, bedächtig wie er war hat er einer ſehr ſchweren Schule bedurft
bis ſein weiches Gemüth ſich an die Härte der großen politiſchen Macht-
fragen gewöhnte. Neigung und Pflichtgefühl ſtimmten ihn friedlich. Er
hätte es für einen Frevel gehalten, dies emſig arbeitende Norddeutſchland,
deſſen ruhiges Glück von Jedermann, ſelbſt von Friedrich Gentz, geprieſen
wurde, ohne dringende Noth den Wechſelfällen des Krieges, den verſchul-
deten Staatshaushalt neuen Verwirrungen preiszugeben; nur zur Ab-
wehr eines unmittelbaren Angriffs wollte er ſein Schwert ziehen. Die
allgemeine Friedensſeligkeit der Norddeutſchen fand nirgends eifrigere Ver-
treter als am preußiſchen Hofe; ſie hatte ſich hier ſogar eine eigene ſtaats-
rechtliche Doctrin erklügelt. „Ein König“, ſagte Oberſt Köckeritz zu ſeinem
fürſtlichen Freunde, „hat gar nicht das Recht das Daſein ſeines Staates
aufs Spiel zu ſetzen, das darf nur eine Republik.“ Ueber Frankreichs
gefährliche Abſichten täuſchte ſich der geſunde Sinn des Königs nicht.

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[161/0177] Auswärtige Politik Friedrich Wilhelms III. collegien bei dem Drange der Geſchäfte nicht ſelten zu Schulden kommen laſſen, und ſie ſind durch Eigenthum und Anhänglichkeit an das Vater- land feſt an das Intereſſe eines Landes gekettet, das den fremden öffent- lichen Beamten gewöhnlich unbekannt, oft gleichgiltig und bisweilen ſelbſt verächtlich und verhaßt wird. Die Regenten haben von Ständen, die aus Eigenthümern beſtehen, nichts zu fürchten, mehr von der Neuerungsſucht jüngerer, der Lauigkeit und dem Miethlingsgeiſte älterer öffentlicher Be- amten und von der alle Sittlichkeit verſchlingenden Weichlichkeit und dem Egoismus, der alle Stände ergreift.“ Dem Könige blieben ſolche Ge- danken noch ganz unverſtändlich. Er ließ ſich zwar nicht zu ſo gehäſſigen Urtheilen über die Revolution hinreißen, wie die übereifrigen Royaliſten an ſeinem Hofe, ſondern erkannte die Berechtigung der franzöſiſchen Bauern- befreiung unbefangen an; aber was irgend an die conſtitutionelle Monarchie erinnerte war ihm durch die Blutthaten der Franzoſen verdächtig und un- heimlich geworden. Wie ſollte er auch bei der allgemeinen Zufriedenheit des Volkes auf die Frage kommen, ob dieſer pflichtgetreue Abſolutismus, der den Staat gebildet hatte, ſich ſchon überlebt habe? Auch Stein ſelber wußte noch keineswegs, wie morſch die alte Ordnung ſei und wie dringend geboten der Neubau. Es ſteht nicht anders, Hoch und Niedrig lebte be- fangen in einer ungeheuren Selbſttäuſchung. Das hiſtoriſche Urtheil ver- mag nicht abzuſehen, wie die Demüthigung von 1806 der alten Monarchie hätte erſpart werden ſollen. Nur die durchſchlagende Beweiskraft des Krieges konnte dem verblendeten Geſchlechte den inneren Verfall jener fridericianiſchen Formen zeigen, welche durch den Zauber alten Ruhmes alle Thatkraft lähmten. Nur eine Niederlage konnte die unnatürliche Epi- ſode der deutſchen Herrſchaft in Warſchau beendigen, den Staat ſich ſelber und ſeinem deutſchen Weſen zurückgeben. — Für keine ſeiner königlichen Pflichten war Friedrich Wilhelm von Haus aus ſo wenig vorbereitet wie für die Leitung der auswärtigen Politik; langſam, bedächtig wie er war hat er einer ſehr ſchweren Schule bedurft bis ſein weiches Gemüth ſich an die Härte der großen politiſchen Macht- fragen gewöhnte. Neigung und Pflichtgefühl ſtimmten ihn friedlich. Er hätte es für einen Frevel gehalten, dies emſig arbeitende Norddeutſchland, deſſen ruhiges Glück von Jedermann, ſelbſt von Friedrich Gentz, geprieſen wurde, ohne dringende Noth den Wechſelfällen des Krieges, den verſchul- deten Staatshaushalt neuen Verwirrungen preiszugeben; nur zur Ab- wehr eines unmittelbaren Angriffs wollte er ſein Schwert ziehen. Die allgemeine Friedensſeligkeit der Norddeutſchen fand nirgends eifrigere Ver- treter als am preußiſchen Hofe; ſie hatte ſich hier ſogar eine eigene ſtaats- rechtliche Doctrin erklügelt. „Ein König“, ſagte Oberſt Köckeritz zu ſeinem fürſtlichen Freunde, „hat gar nicht das Recht das Daſein ſeines Staates aufs Spiel zu ſetzen, das darf nur eine Republik.“ Ueber Frankreichs gefährliche Abſichten täuſchte ſich der geſunde Sinn des Königs nicht. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 11

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/177>, abgerufen am 26.11.2024.