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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Feldzug von 1794.

Zur selben Zeit erprobte der König abermals die Zuverlässigkeit
britischer Freundschaft; England, erbittert über die selbständige Haltung
der preußischen Generale, verweigerte ihm die Zahlung der Hilfsgelder,
machte ihm die Fortsetzung des Kampfes unmöglich. So ging das beste
Heer der Coalition durch Englands eigensinnigen Hochmuth dem euro-
päischen Kriege verloren. Gegen Weihnachten drang dann Pichegru über
das Eis der großen Ströme in Holland ein, die Flotte des weiland see-
beherrschenden Staates strich ihre Flagge vor einer französischen Reiter-
schaar. Die batavische Republik ward ausgerufen, der große Freistaat
des Westens begann sich mit einem Walle von Tochterrepubliken zu um-
geben. Auch der dritte rheinische Feldzug war vergeblich geführt, und für
den nächsten Sommer mußten die westphälischen Lande einen Angriff der
Franzosen von Holland her erwarten. Preußen stand völlig vereinsamt;
man vernahm bald, daß die britische Treulosigkeit in Petersburg und
Wien mit lauter Schadenfreude begrüßt wurde. Im preußischen Volke
aber ahnte Niemand, wie tief die Macht des Staates durch eine Politik
der Halbheit und Unklarheit geschädigt war. Die Hauptstadt jubelte über
die drei Siege von Kaiserslautern; ein Rausch patriotischen Stolzes und
royalistischer Hingebung erfüllte die Gemüther. Damals zuerst, in den
Jahren 93 und 94, erklang zu Berlin das "Heil dir im Siegerkranz",
der neue preußische Text zu der alten Händelschen Melodie. Das prächtige
Siegesdenkmal der alten Monarchie, das Brandenburger Thor ward ein-
geweiht; frohlockend drängte sich das Volk herbei, als die liebliche Braut
des jungen Kronprinzen durch dies Triumphthor einzog. Preußische
Schriftsteller verglichen in ehrlicher Verblendung das ungetrübte Glück
ihrer treuen und siegreichen Nation mit der Zerrüttung und der Ohn-
macht des Staates der gallischen Königsmörder.

Inzwischen wurde die wankende Eintracht der Coalition gänzlich zerstört
durch die polnischen Händel. In der Osterwoche 1794 brach zu Warschau
ein blutiger Aufstand aus, die Russen wurden aus dem Lande vertrieben.
Von Paris her unterstützt griff der Aufruhr unaufhaltsam um sich, bis
tief in das preußische Polen. Auch diesmal, im letzten Verzweiflungs-
kampfe, ließ der polnische Adel nicht von den alten Sünden der Zwie-
tracht und Zuchtlosigkeit. Immerhin zeigte die unselige Nation mehr
Widerstandskraft als die Theilungsmächte ihr zugetraut, und ein gnädiges
Schicksal schenkte ihr das Glück sich noch einmal das Herz zu erheben an
dem Anblick eines wahrhaftigen Helden. Kosciuszko besaß weder das
Genie des großen Feldherrn noch den Weitblick des Staatsmannes, doch
seine reine Seele barg neben allen ritterlichen Tugenden seines Volkes
eine unerschütterliche Rechtschaffenheit, eine treue Hingebung an das Vater-
land, wie sie Polen seit Jahrhunderten nicht mehr kannte; gleich einem
Schutzengel erschien Vater Thaddäus den polnischen Bauern, wenn der
schwermüthige Held im weißen Bauernflausrock auf seinem Klepper durch

Feldzug von 1794.

Zur ſelben Zeit erprobte der König abermals die Zuverläſſigkeit
britiſcher Freundſchaft; England, erbittert über die ſelbſtändige Haltung
der preußiſchen Generale, verweigerte ihm die Zahlung der Hilfsgelder,
machte ihm die Fortſetzung des Kampfes unmöglich. So ging das beſte
Heer der Coalition durch Englands eigenſinnigen Hochmuth dem euro-
päiſchen Kriege verloren. Gegen Weihnachten drang dann Pichegru über
das Eis der großen Ströme in Holland ein, die Flotte des weiland ſee-
beherrſchenden Staates ſtrich ihre Flagge vor einer franzöſiſchen Reiter-
ſchaar. Die bataviſche Republik ward ausgerufen, der große Freiſtaat
des Weſtens begann ſich mit einem Walle von Tochterrepubliken zu um-
geben. Auch der dritte rheiniſche Feldzug war vergeblich geführt, und für
den nächſten Sommer mußten die weſtphäliſchen Lande einen Angriff der
Franzoſen von Holland her erwarten. Preußen ſtand völlig vereinſamt;
man vernahm bald, daß die britiſche Treuloſigkeit in Petersburg und
Wien mit lauter Schadenfreude begrüßt wurde. Im preußiſchen Volke
aber ahnte Niemand, wie tief die Macht des Staates durch eine Politik
der Halbheit und Unklarheit geſchädigt war. Die Hauptſtadt jubelte über
die drei Siege von Kaiſerslautern; ein Rauſch patriotiſchen Stolzes und
royaliſtiſcher Hingebung erfüllte die Gemüther. Damals zuerſt, in den
Jahren 93 und 94, erklang zu Berlin das „Heil dir im Siegerkranz“,
der neue preußiſche Text zu der alten Händelſchen Melodie. Das prächtige
Siegesdenkmal der alten Monarchie, das Brandenburger Thor ward ein-
geweiht; frohlockend drängte ſich das Volk herbei, als die liebliche Braut
des jungen Kronprinzen durch dies Triumphthor einzog. Preußiſche
Schriftſteller verglichen in ehrlicher Verblendung das ungetrübte Glück
ihrer treuen und ſiegreichen Nation mit der Zerrüttung und der Ohn-
macht des Staates der galliſchen Königsmörder.

Inzwiſchen wurde die wankende Eintracht der Coalition gänzlich zerſtört
durch die polniſchen Händel. In der Oſterwoche 1794 brach zu Warſchau
ein blutiger Aufſtand aus, die Ruſſen wurden aus dem Lande vertrieben.
Von Paris her unterſtützt griff der Aufruhr unaufhaltſam um ſich, bis
tief in das preußiſche Polen. Auch diesmal, im letzten Verzweiflungs-
kampfe, ließ der polniſche Adel nicht von den alten Sünden der Zwie-
tracht und Zuchtloſigkeit. Immerhin zeigte die unſelige Nation mehr
Widerſtandskraft als die Theilungsmächte ihr zugetraut, und ein gnädiges
Schickſal ſchenkte ihr das Glück ſich noch einmal das Herz zu erheben an
dem Anblick eines wahrhaftigen Helden. Kosciuszko beſaß weder das
Genie des großen Feldherrn noch den Weitblick des Staatsmannes, doch
ſeine reine Seele barg neben allen ritterlichen Tugenden ſeines Volkes
eine unerſchütterliche Rechtſchaffenheit, eine treue Hingebung an das Vater-
land, wie ſie Polen ſeit Jahrhunderten nicht mehr kannte; gleich einem
Schutzengel erſchien Vater Thaddäus den polniſchen Bauern, wenn der
ſchwermüthige Held im weißen Bauernflausrock auf ſeinem Klepper durch

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[135/0151] Feldzug von 1794. Zur ſelben Zeit erprobte der König abermals die Zuverläſſigkeit britiſcher Freundſchaft; England, erbittert über die ſelbſtändige Haltung der preußiſchen Generale, verweigerte ihm die Zahlung der Hilfsgelder, machte ihm die Fortſetzung des Kampfes unmöglich. So ging das beſte Heer der Coalition durch Englands eigenſinnigen Hochmuth dem euro- päiſchen Kriege verloren. Gegen Weihnachten drang dann Pichegru über das Eis der großen Ströme in Holland ein, die Flotte des weiland ſee- beherrſchenden Staates ſtrich ihre Flagge vor einer franzöſiſchen Reiter- ſchaar. Die bataviſche Republik ward ausgerufen, der große Freiſtaat des Weſtens begann ſich mit einem Walle von Tochterrepubliken zu um- geben. Auch der dritte rheiniſche Feldzug war vergeblich geführt, und für den nächſten Sommer mußten die weſtphäliſchen Lande einen Angriff der Franzoſen von Holland her erwarten. Preußen ſtand völlig vereinſamt; man vernahm bald, daß die britiſche Treuloſigkeit in Petersburg und Wien mit lauter Schadenfreude begrüßt wurde. Im preußiſchen Volke aber ahnte Niemand, wie tief die Macht des Staates durch eine Politik der Halbheit und Unklarheit geſchädigt war. Die Hauptſtadt jubelte über die drei Siege von Kaiſerslautern; ein Rauſch patriotiſchen Stolzes und royaliſtiſcher Hingebung erfüllte die Gemüther. Damals zuerſt, in den Jahren 93 und 94, erklang zu Berlin das „Heil dir im Siegerkranz“, der neue preußiſche Text zu der alten Händelſchen Melodie. Das prächtige Siegesdenkmal der alten Monarchie, das Brandenburger Thor ward ein- geweiht; frohlockend drängte ſich das Volk herbei, als die liebliche Braut des jungen Kronprinzen durch dies Triumphthor einzog. Preußiſche Schriftſteller verglichen in ehrlicher Verblendung das ungetrübte Glück ihrer treuen und ſiegreichen Nation mit der Zerrüttung und der Ohn- macht des Staates der galliſchen Königsmörder. Inzwiſchen wurde die wankende Eintracht der Coalition gänzlich zerſtört durch die polniſchen Händel. In der Oſterwoche 1794 brach zu Warſchau ein blutiger Aufſtand aus, die Ruſſen wurden aus dem Lande vertrieben. Von Paris her unterſtützt griff der Aufruhr unaufhaltſam um ſich, bis tief in das preußiſche Polen. Auch diesmal, im letzten Verzweiflungs- kampfe, ließ der polniſche Adel nicht von den alten Sünden der Zwie- tracht und Zuchtloſigkeit. Immerhin zeigte die unſelige Nation mehr Widerſtandskraft als die Theilungsmächte ihr zugetraut, und ein gnädiges Schickſal ſchenkte ihr das Glück ſich noch einmal das Herz zu erheben an dem Anblick eines wahrhaftigen Helden. Kosciuszko beſaß weder das Genie des großen Feldherrn noch den Weitblick des Staatsmannes, doch ſeine reine Seele barg neben allen ritterlichen Tugenden ſeines Volkes eine unerſchütterliche Rechtſchaffenheit, eine treue Hingebung an das Vater- land, wie ſie Polen ſeit Jahrhunderten nicht mehr kannte; gleich einem Schutzengel erſchien Vater Thaddäus den polniſchen Bauern, wenn der ſchwermüthige Held im weißen Bauernflausrock auf ſeinem Klepper durch

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/151>, abgerufen am 02.05.2024.