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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
dem Geiste beurtheilt hat, der in der Leitung des Kirchen- und Unter-
richtswesens vorherrschte. Ganz Deutschland hallte wider von zornigem
Tadel, als der hochverdiente Zedlitz den Abschied erhielt und der geistlose
Heuchler Wöllner mit seinen Religions- und Censuredicten die freien
Gedanken des Jahrhunderts niederzuhalten versuchte. Mit Mühe gelang
es die Verkündigung des Allgemeinen Landrechts gegen den Widerstand
der höfischen Frömmler durchzusetzen. Der gesunde Kern des Beamten-
thums blieb freilich unzerstörbar, aber der schwerfällige Gang der Ver-
waltung konnte dem rascheren Zuge des bürgerlichen Verkehrs nicht mehr
folgen; die erschlaffte Zucht verrieth sich in manchen Unterschleifen und
Bestechungen, die unter den beiden letzten Königen unerhört gewesen.

Und nun, in ruhmlosen Tagen, zeigte sich doch, auf wie schwachen
Füßen noch jene Staatsgesinnung stand, welche Friedrich in seinem Volke
erweckt hatte. Der Nationalstolz der Preußen war wesentlich Verehrung
für den großen König, er ermattete mit dem Tode des Helden. Berlin
lag für die Masse der Ostpreußen und Schlesier ganz aus der Welt; in
Königsberg, Breslau, Magdeburg fand der stillvergnügte Particularismus
der Landschaften den Mittelpunkt seiner Interessen. Tiefe, verständniß-
volle Theilnahme an den Geschicken des Staates war nur in engen
Kreisen lebendig. Um so lauter lärmte die anmaßende Tadelsucht. Der
politische Trieb, der in dem Beamtenstaate keine Bühne für gemein-
nütziges Wirken fand, warf sich auf die Literatur. Eine Fluth von
Schmähschriften überschwemmte das Land, erzählte den urtheilslos gläu-
bigen Lesern ungeheuerliche Märchen von der asiatischen Schwelgerei
Sauls des Zweiten, Königs von Kanonenland: ein unsauberes Treiben,
hochgefährlich, weil in der absoluten Monarchie jeder Tadel seine Pfeile
gradeswegs gegen die Person des Königs richten mußte, gefährlicher noch
weil aus diesem Schwalle gehässiger Vorwürfe nirgends ein furchtbarer
Gedanke auftauchte, nirgends eine Ahnung von den wirklichen Gebrechen
des Gemeinwesens. Trauriger Wandel der Zeiten: noch erzählte die
Welt von den geistsprühenden Gesprächen der Tafelrunde von Sanssouci,
und jetzt trieb nahebei im Marmorpalais am Heiligen See der Kammer-
diener Rietz mit der Gräfin Lichtenau sein plattes Wesen, und der
Nachfolger Friedrichs bestaunte andachtsvoll die Geistererscheinungen im
Zauberspiegel des Obersten Bischoffswerder.

Friedrichs letztes Werk, der deutsche Fürstenbund, zerbrach dem
Erben unter den Händen. Der alte König war freilich über die Herzens-
gesinnungen seiner kleinen Bundesgenossen, über die Unzuverlässigkeit
der Freundschaft von Hannover und Sachsen nie im Zweifel gewesen,
man kannte seinen verächtlichen Ausspruch "mit diesen Herren ist nichts
zu machen"; aber nicht umsonst hatte er den Fürstenbund als ein Ver-
mächtniß an seine Nachkommen bezeichnet. So lange die außerordentliche
Gunst der Lage währte, so lange die Angst vor Oesterreichs Uebergriffen

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
dem Geiſte beurtheilt hat, der in der Leitung des Kirchen- und Unter-
richtsweſens vorherrſchte. Ganz Deutſchland hallte wider von zornigem
Tadel, als der hochverdiente Zedlitz den Abſchied erhielt und der geiſtloſe
Heuchler Wöllner mit ſeinen Religions- und Cenſuredicten die freien
Gedanken des Jahrhunderts niederzuhalten verſuchte. Mit Mühe gelang
es die Verkündigung des Allgemeinen Landrechts gegen den Widerſtand
der höfiſchen Frömmler durchzuſetzen. Der geſunde Kern des Beamten-
thums blieb freilich unzerſtörbar, aber der ſchwerfällige Gang der Ver-
waltung konnte dem raſcheren Zuge des bürgerlichen Verkehrs nicht mehr
folgen; die erſchlaffte Zucht verrieth ſich in manchen Unterſchleifen und
Beſtechungen, die unter den beiden letzten Königen unerhört geweſen.

Und nun, in ruhmloſen Tagen, zeigte ſich doch, auf wie ſchwachen
Füßen noch jene Staatsgeſinnung ſtand, welche Friedrich in ſeinem Volke
erweckt hatte. Der Nationalſtolz der Preußen war weſentlich Verehrung
für den großen König, er ermattete mit dem Tode des Helden. Berlin
lag für die Maſſe der Oſtpreußen und Schleſier ganz aus der Welt; in
Königsberg, Breslau, Magdeburg fand der ſtillvergnügte Particularismus
der Landſchaften den Mittelpunkt ſeiner Intereſſen. Tiefe, verſtändniß-
volle Theilnahme an den Geſchicken des Staates war nur in engen
Kreiſen lebendig. Um ſo lauter lärmte die anmaßende Tadelſucht. Der
politiſche Trieb, der in dem Beamtenſtaate keine Bühne für gemein-
nütziges Wirken fand, warf ſich auf die Literatur. Eine Fluth von
Schmähſchriften überſchwemmte das Land, erzählte den urtheilslos gläu-
bigen Leſern ungeheuerliche Märchen von der aſiatiſchen Schwelgerei
Sauls des Zweiten, Königs von Kanonenland: ein unſauberes Treiben,
hochgefährlich, weil in der abſoluten Monarchie jeder Tadel ſeine Pfeile
gradeswegs gegen die Perſon des Königs richten mußte, gefährlicher noch
weil aus dieſem Schwalle gehäſſiger Vorwürfe nirgends ein furchtbarer
Gedanke auftauchte, nirgends eine Ahnung von den wirklichen Gebrechen
des Gemeinweſens. Trauriger Wandel der Zeiten: noch erzählte die
Welt von den geiſtſprühenden Geſprächen der Tafelrunde von Sansſouci,
und jetzt trieb nahebei im Marmorpalais am Heiligen See der Kammer-
diener Rietz mit der Gräfin Lichtenau ſein plattes Weſen, und der
Nachfolger Friedrichs beſtaunte andachtsvoll die Geiſtererſcheinungen im
Zauberſpiegel des Oberſten Biſchoffswerder.

Friedrichs letztes Werk, der deutſche Fürſtenbund, zerbrach dem
Erben unter den Händen. Der alte König war freilich über die Herzens-
geſinnungen ſeiner kleinen Bundesgenoſſen, über die Unzuverläſſigkeit
der Freundſchaft von Hannover und Sachſen nie im Zweifel geweſen,
man kannte ſeinen verächtlichen Ausſpruch „mit dieſen Herren iſt nichts
zu machen“; aber nicht umſonſt hatte er den Fürſtenbund als ein Ver-
mächtniß an ſeine Nachkommen bezeichnet. So lange die außerordentliche
Gunſt der Lage währte, ſo lange die Angſt vor Oeſterreichs Uebergriffen

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[106/0122] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. dem Geiſte beurtheilt hat, der in der Leitung des Kirchen- und Unter- richtsweſens vorherrſchte. Ganz Deutſchland hallte wider von zornigem Tadel, als der hochverdiente Zedlitz den Abſchied erhielt und der geiſtloſe Heuchler Wöllner mit ſeinen Religions- und Cenſuredicten die freien Gedanken des Jahrhunderts niederzuhalten verſuchte. Mit Mühe gelang es die Verkündigung des Allgemeinen Landrechts gegen den Widerſtand der höfiſchen Frömmler durchzuſetzen. Der geſunde Kern des Beamten- thums blieb freilich unzerſtörbar, aber der ſchwerfällige Gang der Ver- waltung konnte dem raſcheren Zuge des bürgerlichen Verkehrs nicht mehr folgen; die erſchlaffte Zucht verrieth ſich in manchen Unterſchleifen und Beſtechungen, die unter den beiden letzten Königen unerhört geweſen. Und nun, in ruhmloſen Tagen, zeigte ſich doch, auf wie ſchwachen Füßen noch jene Staatsgeſinnung ſtand, welche Friedrich in ſeinem Volke erweckt hatte. Der Nationalſtolz der Preußen war weſentlich Verehrung für den großen König, er ermattete mit dem Tode des Helden. Berlin lag für die Maſſe der Oſtpreußen und Schleſier ganz aus der Welt; in Königsberg, Breslau, Magdeburg fand der ſtillvergnügte Particularismus der Landſchaften den Mittelpunkt ſeiner Intereſſen. Tiefe, verſtändniß- volle Theilnahme an den Geſchicken des Staates war nur in engen Kreiſen lebendig. Um ſo lauter lärmte die anmaßende Tadelſucht. Der politiſche Trieb, der in dem Beamtenſtaate keine Bühne für gemein- nütziges Wirken fand, warf ſich auf die Literatur. Eine Fluth von Schmähſchriften überſchwemmte das Land, erzählte den urtheilslos gläu- bigen Leſern ungeheuerliche Märchen von der aſiatiſchen Schwelgerei Sauls des Zweiten, Königs von Kanonenland: ein unſauberes Treiben, hochgefährlich, weil in der abſoluten Monarchie jeder Tadel ſeine Pfeile gradeswegs gegen die Perſon des Königs richten mußte, gefährlicher noch weil aus dieſem Schwalle gehäſſiger Vorwürfe nirgends ein furchtbarer Gedanke auftauchte, nirgends eine Ahnung von den wirklichen Gebrechen des Gemeinweſens. Trauriger Wandel der Zeiten: noch erzählte die Welt von den geiſtſprühenden Geſprächen der Tafelrunde von Sansſouci, und jetzt trieb nahebei im Marmorpalais am Heiligen See der Kammer- diener Rietz mit der Gräfin Lichtenau ſein plattes Weſen, und der Nachfolger Friedrichs beſtaunte andachtsvoll die Geiſtererſcheinungen im Zauberſpiegel des Oberſten Biſchoffswerder. Friedrichs letztes Werk, der deutſche Fürſtenbund, zerbrach dem Erben unter den Händen. Der alte König war freilich über die Herzens- geſinnungen ſeiner kleinen Bundesgenoſſen, über die Unzuverläſſigkeit der Freundſchaft von Hannover und Sachſen nie im Zweifel geweſen, man kannte ſeinen verächtlichen Ausſpruch „mit dieſen Herren iſt nichts zu machen“; aber nicht umſonſt hatte er den Fürſtenbund als ein Ver- mächtniß an ſeine Nachkommen bezeichnet. So lange die außerordentliche Gunſt der Lage währte, ſo lange die Angſt vor Oeſterreichs Uebergriffen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/122>, abgerufen am 27.04.2024.