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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Lessing. Herder.
freien Schriftstellers zu Ehren brachte und zu allen Gebildeten der Nation
wirksam zu reden verstand. Die dunkelsten Probleme der Theologie, der
Aesthetik, der Archäologie erschienen durchsichtig klar, wenn er sie behandelte
in dem leichten Tone des lebhaften obersächsischen Gesprächs, in jener kunst-
voll einfachen Prosa, die überall sein innerstes Wesen, die Heiterkeit im
Verstande, widerspiegelte.

Und hier, schon in den Jugendjahren der classischen deutschen Prosa,
zeigte sichs, daß unsere freie Sprache jeden individuellen Stil ertrug,
jeden schöpferischen Kopf nach seiner Weise gewähren ließ: der offenbar an
französischen Mustern gebildete Stil Lessings war ebenso deutsch wie die
majestätischen Perioden Winkelmanns, denn Beide schrieben wie sie mußten.
Die rechte Sicherheit des literarischen Selbstgefühles kam den Deutschen
aber erst da der große Kritiker sich auch als ein Künstler zeigte und
unserer Bühne die ersten Werke schenkte, die nicht beschämt wurden durch
die reiche Wirklichkeit des fridericianischen Zeitalters und mit der Dramatik
des Auslandes in die Schranken treten durften -- Werke des schärfsten
Kunstverstandes und doch voll leidenschaftlicher dramatischer Bewegung,
bühnengerecht und doch in voller Freiheit erfunden, Gestalten von unver-
gänglichem menschlichen Gehalt, und doch mit kecker Hand aus dem be-
wegten Leben der nächsten Gegenwart herausgegriffen. So stieg er hoch
und höher, nach allen Seiten hin den Samen einer freien Bildung
streuend: durch seine Emilia weckte er der jungen Literatur den Muth,
ihre Stimme zu erheben gegen die Unfreiheit in Staat und Gesellschaft;
seine theologischen Streitschriften legten den Grund für eine neue Epoche
unserer theologischen Wissenschaft, für die Evangelienkritik des neunzehnten
Jahrhunderts; seine letzte Dichtung schuf die Form für das Drama hohen
Stils, das nachher durch Schiller seine Ausbildung erhalten sollte, und
verkündete zugleich jenes Glaubensbekenntniß deutscher Aufklärung, dessen
heitere Milde anderen Völkern erst nach den Stürmen der Revolution
verständlich wurde.

In den siebziger Jahren trat eine neue, noch reichere Generation
auf den Plan. Herders universaler Geist vereinte in sich die Verstandes-
kühnheit Lessings und die Gemüthsfülle Klopstocks. Er fand die in langen
Jahrhunderten barbarischer Ueberbildung verlorene Wahrheit wieder, daß
die Dichtung nicht das Besitzthum Einzelner, sondern eine gemeine Gabe
aller Völker und Zeiten ist, und führte die deutsche Lyrik zu unseren
alten volksthümlichen Formen und Stoffen zurück: der seelenvolle Klang
des deutschen Reims trat von Neuem in sein Recht, in Liedern und
Balladen gewann das erregte Gefühl einen warmen, tiefen und natür-
lichen Ausdruck. Einem durchaus unhistorischen Zeitalter, das im Zer-
stören einer verrotteten Welt historischer Trümmer seinen Ruhm fand,
erweckte Herder das Verständniß des geschichtlichen Lebens. Sein freier
Sinn verachtete die Armseligkeit jenes selbstzufriedenen Wahnes, der

Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 7

Leſſing. Herder.
freien Schriftſtellers zu Ehren brachte und zu allen Gebildeten der Nation
wirkſam zu reden verſtand. Die dunkelſten Probleme der Theologie, der
Aeſthetik, der Archäologie erſchienen durchſichtig klar, wenn er ſie behandelte
in dem leichten Tone des lebhaften oberſächſiſchen Geſprächs, in jener kunſt-
voll einfachen Proſa, die überall ſein innerſtes Weſen, die Heiterkeit im
Verſtande, widerſpiegelte.

Und hier, ſchon in den Jugendjahren der claſſiſchen deutſchen Proſa,
zeigte ſichs, daß unſere freie Sprache jeden individuellen Stil ertrug,
jeden ſchöpferiſchen Kopf nach ſeiner Weiſe gewähren ließ: der offenbar an
franzöſiſchen Muſtern gebildete Stil Leſſings war ebenſo deutſch wie die
majeſtätiſchen Perioden Winkelmanns, denn Beide ſchrieben wie ſie mußten.
Die rechte Sicherheit des literariſchen Selbſtgefühles kam den Deutſchen
aber erſt da der große Kritiker ſich auch als ein Künſtler zeigte und
unſerer Bühne die erſten Werke ſchenkte, die nicht beſchämt wurden durch
die reiche Wirklichkeit des fridericianiſchen Zeitalters und mit der Dramatik
des Auslandes in die Schranken treten durften — Werke des ſchärfſten
Kunſtverſtandes und doch voll leidenſchaftlicher dramatiſcher Bewegung,
bühnengerecht und doch in voller Freiheit erfunden, Geſtalten von unver-
gänglichem menſchlichen Gehalt, und doch mit kecker Hand aus dem be-
wegten Leben der nächſten Gegenwart herausgegriffen. So ſtieg er hoch
und höher, nach allen Seiten hin den Samen einer freien Bildung
ſtreuend: durch ſeine Emilia weckte er der jungen Literatur den Muth,
ihre Stimme zu erheben gegen die Unfreiheit in Staat und Geſellſchaft;
ſeine theologiſchen Streitſchriften legten den Grund für eine neue Epoche
unſerer theologiſchen Wiſſenſchaft, für die Evangelienkritik des neunzehnten
Jahrhunderts; ſeine letzte Dichtung ſchuf die Form für das Drama hohen
Stils, das nachher durch Schiller ſeine Ausbildung erhalten ſollte, und
verkündete zugleich jenes Glaubensbekenntniß deutſcher Aufklärung, deſſen
heitere Milde anderen Völkern erſt nach den Stürmen der Revolution
verſtändlich wurde.

In den ſiebziger Jahren trat eine neue, noch reichere Generation
auf den Plan. Herders univerſaler Geiſt vereinte in ſich die Verſtandes-
kühnheit Leſſings und die Gemüthsfülle Klopſtocks. Er fand die in langen
Jahrhunderten barbariſcher Ueberbildung verlorene Wahrheit wieder, daß
die Dichtung nicht das Beſitzthum Einzelner, ſondern eine gemeine Gabe
aller Völker und Zeiten iſt, und führte die deutſche Lyrik zu unſeren
alten volksthümlichen Formen und Stoffen zurück: der ſeelenvolle Klang
des deutſchen Reims trat von Neuem in ſein Recht, in Liedern und
Balladen gewann das erregte Gefühl einen warmen, tiefen und natür-
lichen Ausdruck. Einem durchaus unhiſtoriſchen Zeitalter, das im Zer-
ſtören einer verrotteten Welt hiſtoriſcher Trümmer ſeinen Ruhm fand,
erweckte Herder das Verſtändniß des geſchichtlichen Lebens. Sein freier
Sinn verachtete die Armſeligkeit jenes ſelbſtzufriedenen Wahnes, der

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[97/0113] Leſſing. Herder. freien Schriftſtellers zu Ehren brachte und zu allen Gebildeten der Nation wirkſam zu reden verſtand. Die dunkelſten Probleme der Theologie, der Aeſthetik, der Archäologie erſchienen durchſichtig klar, wenn er ſie behandelte in dem leichten Tone des lebhaften oberſächſiſchen Geſprächs, in jener kunſt- voll einfachen Proſa, die überall ſein innerſtes Weſen, die Heiterkeit im Verſtande, widerſpiegelte. Und hier, ſchon in den Jugendjahren der claſſiſchen deutſchen Proſa, zeigte ſichs, daß unſere freie Sprache jeden individuellen Stil ertrug, jeden ſchöpferiſchen Kopf nach ſeiner Weiſe gewähren ließ: der offenbar an franzöſiſchen Muſtern gebildete Stil Leſſings war ebenſo deutſch wie die majeſtätiſchen Perioden Winkelmanns, denn Beide ſchrieben wie ſie mußten. Die rechte Sicherheit des literariſchen Selbſtgefühles kam den Deutſchen aber erſt da der große Kritiker ſich auch als ein Künſtler zeigte und unſerer Bühne die erſten Werke ſchenkte, die nicht beſchämt wurden durch die reiche Wirklichkeit des fridericianiſchen Zeitalters und mit der Dramatik des Auslandes in die Schranken treten durften — Werke des ſchärfſten Kunſtverſtandes und doch voll leidenſchaftlicher dramatiſcher Bewegung, bühnengerecht und doch in voller Freiheit erfunden, Geſtalten von unver- gänglichem menſchlichen Gehalt, und doch mit kecker Hand aus dem be- wegten Leben der nächſten Gegenwart herausgegriffen. So ſtieg er hoch und höher, nach allen Seiten hin den Samen einer freien Bildung ſtreuend: durch ſeine Emilia weckte er der jungen Literatur den Muth, ihre Stimme zu erheben gegen die Unfreiheit in Staat und Geſellſchaft; ſeine theologiſchen Streitſchriften legten den Grund für eine neue Epoche unſerer theologiſchen Wiſſenſchaft, für die Evangelienkritik des neunzehnten Jahrhunderts; ſeine letzte Dichtung ſchuf die Form für das Drama hohen Stils, das nachher durch Schiller ſeine Ausbildung erhalten ſollte, und verkündete zugleich jenes Glaubensbekenntniß deutſcher Aufklärung, deſſen heitere Milde anderen Völkern erſt nach den Stürmen der Revolution verſtändlich wurde. In den ſiebziger Jahren trat eine neue, noch reichere Generation auf den Plan. Herders univerſaler Geiſt vereinte in ſich die Verſtandes- kühnheit Leſſings und die Gemüthsfülle Klopſtocks. Er fand die in langen Jahrhunderten barbariſcher Ueberbildung verlorene Wahrheit wieder, daß die Dichtung nicht das Beſitzthum Einzelner, ſondern eine gemeine Gabe aller Völker und Zeiten iſt, und führte die deutſche Lyrik zu unſeren alten volksthümlichen Formen und Stoffen zurück: der ſeelenvolle Klang des deutſchen Reims trat von Neuem in ſein Recht, in Liedern und Balladen gewann das erregte Gefühl einen warmen, tiefen und natür- lichen Ausdruck. Einem durchaus unhiſtoriſchen Zeitalter, das im Zer- ſtören einer verrotteten Welt hiſtoriſcher Trümmer ſeinen Ruhm fand, erweckte Herder das Verſtändniß des geſchichtlichen Lebens. Sein freier Sinn verachtete die Armſeligkeit jenes ſelbſtzufriedenen Wahnes, der Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 7

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/113>, abgerufen am 24.11.2024.