Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden. sich erhoben und die herrlichen Lieder unserer älteren classischen Dichtungin jedem Dorfe am Rhein und Main von den Bauern und Mägden verstanden wurden. Seitdem ist noch auf jeder Entwicklungsstufe der deutschen Cultur ein häßlicher Bodensatz ungebrochener Barbarei an den Tag getreten. Als die prächtige Renaissance-Facade des Otto-Heinrichs- baus zu Heidelberg entstand, lag die deutsche Dichtkunst tief darnieder, und das edle Bauwerk ward durch klägliche Knittelverse verunziert. Und wieder, als die frohe Zeit unserer zweiten classischen Dichtung anhob, wurden die bildenden Künste, die nur in der weichen Luft behäbigen Wohlstands gedeihen, von dem frischen Hauche der neuen Zeit kaum be- rührt, und Goethe verschwendete die Pracht seiner Verse an lächerliche Bauten, wie jenes römische Haus zu Weimar, das mit seinen antiki- sirenden Formen dem Volke fremd bleibt, den gebildeten Sinn durch kahle Nüchternheit beleidigt. Wohl ist es ein rührender Anblick, dies Heroengeschlecht des Idealismus, das inmitten der schmucklosen Arm- seligkeit kleinfürstlicher Residenzdörfer um die höchsten Güter der Mensch- heit warb: unnatürlich weit blieb doch der Abstand zwischen dem Reichthum der Ideen und der Armuth des Lebens, zwischen den verwegenen Ge- dankenflügen der Gebildeten und dem grundprosaischen Treiben der hart arbeitenden Massen. Der Adel einer harmonisch durchgebildeten Gesittung, wie sie die Italiener in den Tagen Leonardos beglückte, blieb den Deutschen noch immer versagt. Aber wie sie nun war mit allen ihren Mängeln und Gebrechen, diese I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden. ſich erhoben und die herrlichen Lieder unſerer älteren claſſiſchen Dichtungin jedem Dorfe am Rhein und Main von den Bauern und Mägden verſtanden wurden. Seitdem iſt noch auf jeder Entwicklungsſtufe der deutſchen Cultur ein häßlicher Bodenſatz ungebrochener Barbarei an den Tag getreten. Als die prächtige Renaiſſance-Façade des Otto-Heinrichs- baus zu Heidelberg entſtand, lag die deutſche Dichtkunſt tief darnieder, und das edle Bauwerk ward durch klägliche Knittelverſe verunziert. Und wieder, als die frohe Zeit unſerer zweiten claſſiſchen Dichtung anhob, wurden die bildenden Künſte, die nur in der weichen Luft behäbigen Wohlſtands gedeihen, von dem friſchen Hauche der neuen Zeit kaum be- rührt, und Goethe verſchwendete die Pracht ſeiner Verſe an lächerliche Bauten, wie jenes römiſche Haus zu Weimar, das mit ſeinen antiki- ſirenden Formen dem Volke fremd bleibt, den gebildeten Sinn durch kahle Nüchternheit beleidigt. Wohl iſt es ein rührender Anblick, dies Heroengeſchlecht des Idealismus, das inmitten der ſchmuckloſen Arm- ſeligkeit kleinfürſtlicher Reſidenzdörfer um die höchſten Güter der Menſch- heit warb: unnatürlich weit blieb doch der Abſtand zwiſchen dem Reichthum der Ideen und der Armuth des Lebens, zwiſchen den verwegenen Ge- dankenflügen der Gebildeten und dem grundproſaiſchen Treiben der hart arbeitenden Maſſen. Der Adel einer harmoniſch durchgebildeten Geſittung, wie ſie die Italiener in den Tagen Leonardos beglückte, blieb den Deutſchen noch immer verſagt. Aber wie ſie nun war mit allen ihren Mängeln und Gebrechen, dieſe <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0106" n="90"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.</fw><lb/> ſich erhoben und die herrlichen Lieder unſerer älteren claſſiſchen Dichtung<lb/> in jedem Dorfe am Rhein und Main von den Bauern und Mägden<lb/> verſtanden wurden. Seitdem iſt noch auf jeder Entwicklungsſtufe der<lb/> deutſchen Cultur ein häßlicher Bodenſatz ungebrochener Barbarei an den<lb/> Tag getreten. Als die prächtige Renaiſſance-Fa<hi rendition="#aq">ç</hi>ade des Otto-Heinrichs-<lb/> baus zu Heidelberg entſtand, lag die deutſche Dichtkunſt tief darnieder,<lb/> und das edle Bauwerk ward durch klägliche Knittelverſe verunziert. 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I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
ſich erhoben und die herrlichen Lieder unſerer älteren claſſiſchen Dichtung
in jedem Dorfe am Rhein und Main von den Bauern und Mägden
verſtanden wurden. Seitdem iſt noch auf jeder Entwicklungsſtufe der
deutſchen Cultur ein häßlicher Bodenſatz ungebrochener Barbarei an den
Tag getreten. Als die prächtige Renaiſſance-Façade des Otto-Heinrichs-
baus zu Heidelberg entſtand, lag die deutſche Dichtkunſt tief darnieder,
und das edle Bauwerk ward durch klägliche Knittelverſe verunziert. Und
wieder, als die frohe Zeit unſerer zweiten claſſiſchen Dichtung anhob,
wurden die bildenden Künſte, die nur in der weichen Luft behäbigen
Wohlſtands gedeihen, von dem friſchen Hauche der neuen Zeit kaum be-
rührt, und Goethe verſchwendete die Pracht ſeiner Verſe an lächerliche
Bauten, wie jenes römiſche Haus zu Weimar, das mit ſeinen antiki-
ſirenden Formen dem Volke fremd bleibt, den gebildeten Sinn durch
kahle Nüchternheit beleidigt. Wohl iſt es ein rührender Anblick, dies
Heroengeſchlecht des Idealismus, das inmitten der ſchmuckloſen Arm-
ſeligkeit kleinfürſtlicher Reſidenzdörfer um die höchſten Güter der Menſch-
heit warb: unnatürlich weit blieb doch der Abſtand zwiſchen dem Reichthum
der Ideen und der Armuth des Lebens, zwiſchen den verwegenen Ge-
dankenflügen der Gebildeten und dem grundproſaiſchen Treiben der hart
arbeitenden Maſſen. Der Adel einer harmoniſch durchgebildeten Geſittung,
wie ſie die Italiener in den Tagen Leonardos beglückte, blieb den
Deutſchen noch immer verſagt.
Aber wie ſie nun war mit allen ihren Mängeln und Gebrechen, dieſe
literariſche Revolution hat den Charakter der neuen deutſchen Cultur
beſtimmt. Sie erhob dies Land wieder zum Kernlande der Ketzerei, indem
ſie den Grundgedanken der Reformation bis zu dem Rechte der voraus-
ſetzungslos freien Forſchung weiterbildete. Sie erweckte mit den Idealen
reiner Menſchenbildung auch den vaterländiſchen Stolz in unſerem Volke;
denn wie unreif auch die politiſche Bildung der Zeit erſcheint, wie ver-
ſchwommen ihre weltbürgerlichen Träume, in allen ihren Führern lebte
doch der edle Ehrgeiz, der Welt zu zeigen, daß, wie Herder ſagt, „der
deutſche Name in ſich ſelbſt ſtark, feſt und groß ſei“. Nicht im Kampfe
mit den Ideen der Humanität, ſondern recht eigentlich auf ihrem Boden
iſt die vaterländiſche Begeiſterung der Befreiungskriege erwachſen. Als
grauſame Schickſalsſchläge den in den Wolken fliegenden deutſchen Genius
wieder an die endlichen Bedingungen des Daſeins erinnert hatten, da
gelangte die Nation durch einen nothwendigen letzten Schritt zu der Er-
kenntniß, daß ihre neue geiſtige Freiheit nur dauern konnte in einem
geachteten, unabhängigen Staate; der Idealismus, der aus Kants Ge-
danken und Schillers Dramen ſprach, gewann eine neue Geſtalt in dem
Heldenzorne des Jahres 1813. Alſo hat unſere claſſiſche Literatur von
ganz verſchiedenen Ausgangspunkten her dem nämlichen Ziele zugeſtrebt
wie die politiſche Arbeit der preußiſchen Monarchie. Dieſen beiden bildenden
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