I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
politische Leben in unzählige Ströme zertheilt dahinfloß, waltete auf dem Gebiete der geistigen Arbeit die Naturgewalt der nationalen Einheit so über- mächtig, daß eine landschaftliche Sonderbildung niemals auch nur ver- sucht wurde. Alle Helden unserer classischen Literatur, mit der einzigen Ausnahme Kants, sind gewandert und haben ihre reichste Wirksamkeit nicht auf dem Boden ihrer Heimath gefunden. In ihnen allen lebte das Bewußtsein der Einheit und Ursprünglichkeit des deutschen Wesens und das leidenschaftliche Verlangen, die Eigenart dieses Volksthums wieder in der Welt zu Ehren zu bringen; sie alle wußten, daß das ganze große Deutschland ihren Worten lauschte, und empfanden es als ein stolzes Vorrecht, daß allein der Dichter und der Denker zu der Nation reden, für sie schaffen durfte. Also wurde die neue Dichtung und Wissenschaft auf lange Jahrzehnte hinaus das mächtigste Band der Einheit für dies zer- splitterte Volk, und sie entschied zugleich den Sieg des Protestantismus im deutschen Leben. Die geistige Bewegung hatte ihre Heimath im evan- gelischen Deutschland, riß erst nach und nach die katholischen Gebiete des Reichs mit in ihre Bahnen hinein. Aus der Gedankenarbeit der Philo- sophen ging eine neue sittliche Weltanschauung, die Lehre der Humanität, hervor, die, aller confessionellen Härte baar, gleichwohl fest im Boden des Protestantismus wurzelte und schließlich allen denkenden Deutschen, den Katholiken wie den Protestanten, ein Gemeingut wurde; wer sie nicht kannte, lebte nicht mehr mit dem neuen Deutschland.
Jene mittleren Schichten der Gesellschaft aber, welche die neue Bildung trugen, rückten dermaßen in den Vordergrund des nationalen Lebens, daß Deutschland vor allen anderen Völkern ein Land des Mittelstandes wurde; ihr sittliches Urtheil und ihr Kunstgeschmack bestimmten die öffentliche Mei- nung. Der classische Unterricht, vordem nur ein Mittel für die Fachbildung der Juristen und Theologen, wurde die Grundlage der gesammten Volks- bildung; aus den zerfallenden alten Ständen erhob sich die neue Aristo- kratie der studirten Leute, die an hundert Jahre lang der führende Stand unseres Volkes geblieben ist. Nach allen Seiten hin wirkte die litera- rische Bewegung erweckend und befruchtend: sie veredelte die rohen Sitten, gab der Frau das gute Recht der Herrin im geselligen Verkehre zurück; sie schenkte einem gedrückten und verschüchterten Geschlechte wieder die helle Lust am Leben. Sie schuf, indem sie die Schriftsprache Martin Luthers ausbaute, eine gemeinsame Umgangssprache für alle deutschen Stämme; erst im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts begannen die gebildeten Klassen das reine Hochdeutsch auch im täglichen Leben in Ehren zu halten. Unberührt von dem Lärm und der Hast der großen Welt konnte sich die deutsche Dichtung wunderbar lange den unschuldigen Frohmuth, die gesammelte Andacht und die frische Werdelust der Jugend bewahren; das war es, was Frau von Stael noch in den Glanztagen der Weimarischen Kunst so mächtig bezauberte, sie meinte an der Ilm
I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
politiſche Leben in unzählige Ströme zertheilt dahinfloß, waltete auf dem Gebiete der geiſtigen Arbeit die Naturgewalt der nationalen Einheit ſo über- mächtig, daß eine landſchaftliche Sonderbildung niemals auch nur ver- ſucht wurde. Alle Helden unſerer claſſiſchen Literatur, mit der einzigen Ausnahme Kants, ſind gewandert und haben ihre reichſte Wirkſamkeit nicht auf dem Boden ihrer Heimath gefunden. In ihnen allen lebte das Bewußtſein der Einheit und Urſprünglichkeit des deutſchen Weſens und das leidenſchaftliche Verlangen, die Eigenart dieſes Volksthums wieder in der Welt zu Ehren zu bringen; ſie alle wußten, daß das ganze große Deutſchland ihren Worten lauſchte, und empfanden es als ein ſtolzes Vorrecht, daß allein der Dichter und der Denker zu der Nation reden, für ſie ſchaffen durfte. Alſo wurde die neue Dichtung und Wiſſenſchaft auf lange Jahrzehnte hinaus das mächtigſte Band der Einheit für dies zer- ſplitterte Volk, und ſie entſchied zugleich den Sieg des Proteſtantismus im deutſchen Leben. Die geiſtige Bewegung hatte ihre Heimath im evan- geliſchen Deutſchland, riß erſt nach und nach die katholiſchen Gebiete des Reichs mit in ihre Bahnen hinein. Aus der Gedankenarbeit der Philo- ſophen ging eine neue ſittliche Weltanſchauung, die Lehre der Humanität, hervor, die, aller confeſſionellen Härte baar, gleichwohl feſt im Boden des Proteſtantismus wurzelte und ſchließlich allen denkenden Deutſchen, den Katholiken wie den Proteſtanten, ein Gemeingut wurde; wer ſie nicht kannte, lebte nicht mehr mit dem neuen Deutſchland.
Jene mittleren Schichten der Geſellſchaft aber, welche die neue Bildung trugen, rückten dermaßen in den Vordergrund des nationalen Lebens, daß Deutſchland vor allen anderen Völkern ein Land des Mittelſtandes wurde; ihr ſittliches Urtheil und ihr Kunſtgeſchmack beſtimmten die öffentliche Mei- nung. Der claſſiſche Unterricht, vordem nur ein Mittel für die Fachbildung der Juriſten und Theologen, wurde die Grundlage der geſammten Volks- bildung; aus den zerfallenden alten Ständen erhob ſich die neue Ariſto- kratie der ſtudirten Leute, die an hundert Jahre lang der führende Stand unſeres Volkes geblieben iſt. Nach allen Seiten hin wirkte die litera- riſche Bewegung erweckend und befruchtend: ſie veredelte die rohen Sitten, gab der Frau das gute Recht der Herrin im geſelligen Verkehre zurück; ſie ſchenkte einem gedrückten und verſchüchterten Geſchlechte wieder die helle Luſt am Leben. Sie ſchuf, indem ſie die Schriftſprache Martin Luthers ausbaute, eine gemeinſame Umgangsſprache für alle deutſchen Stämme; erſt im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts begannen die gebildeten Klaſſen das reine Hochdeutſch auch im täglichen Leben in Ehren zu halten. Unberührt von dem Lärm und der Haſt der großen Welt konnte ſich die deutſche Dichtung wunderbar lange den unſchuldigen Frohmuth, die geſammelte Andacht und die friſche Werdeluſt der Jugend bewahren; das war es, was Frau von Staël noch in den Glanztagen der Weimariſchen Kunſt ſo mächtig bezauberte, ſie meinte an der Ilm
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I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
politiſche Leben in unzählige Ströme zertheilt dahinfloß, waltete auf dem
Gebiete der geiſtigen Arbeit die Naturgewalt der nationalen Einheit ſo über-
mächtig, daß eine landſchaftliche Sonderbildung niemals auch nur ver-
ſucht wurde. Alle Helden unſerer claſſiſchen Literatur, mit der einzigen
Ausnahme Kants, ſind gewandert und haben ihre reichſte Wirkſamkeit
nicht auf dem Boden ihrer Heimath gefunden. In ihnen allen lebte das
Bewußtſein der Einheit und Urſprünglichkeit des deutſchen Weſens und
das leidenſchaftliche Verlangen, die Eigenart dieſes Volksthums wieder in
der Welt zu Ehren zu bringen; ſie alle wußten, daß das ganze große
Deutſchland ihren Worten lauſchte, und empfanden es als ein ſtolzes
Vorrecht, daß allein der Dichter und der Denker zu der Nation reden, für
ſie ſchaffen durfte. Alſo wurde die neue Dichtung und Wiſſenſchaft auf
lange Jahrzehnte hinaus das mächtigſte Band der Einheit für dies zer-
ſplitterte Volk, und ſie entſchied zugleich den Sieg des Proteſtantismus
im deutſchen Leben. Die geiſtige Bewegung hatte ihre Heimath im evan-
geliſchen Deutſchland, riß erſt nach und nach die katholiſchen Gebiete des
Reichs mit in ihre Bahnen hinein. Aus der Gedankenarbeit der Philo-
ſophen ging eine neue ſittliche Weltanſchauung, die Lehre der Humanität,
hervor, die, aller confeſſionellen Härte baar, gleichwohl feſt im Boden
des Proteſtantismus wurzelte und ſchließlich allen denkenden Deutſchen,
den Katholiken wie den Proteſtanten, ein Gemeingut wurde; wer ſie nicht
kannte, lebte nicht mehr mit dem neuen Deutſchland.
Jene mittleren Schichten der Geſellſchaft aber, welche die neue Bildung
trugen, rückten dermaßen in den Vordergrund des nationalen Lebens, daß
Deutſchland vor allen anderen Völkern ein Land des Mittelſtandes wurde;
ihr ſittliches Urtheil und ihr Kunſtgeſchmack beſtimmten die öffentliche Mei-
nung. Der claſſiſche Unterricht, vordem nur ein Mittel für die Fachbildung
der Juriſten und Theologen, wurde die Grundlage der geſammten Volks-
bildung; aus den zerfallenden alten Ständen erhob ſich die neue Ariſto-
kratie der ſtudirten Leute, die an hundert Jahre lang der führende Stand
unſeres Volkes geblieben iſt. Nach allen Seiten hin wirkte die litera-
riſche Bewegung erweckend und befruchtend: ſie veredelte die rohen Sitten,
gab der Frau das gute Recht der Herrin im geſelligen Verkehre zurück;
ſie ſchenkte einem gedrückten und verſchüchterten Geſchlechte wieder die
helle Luſt am Leben. Sie ſchuf, indem ſie die Schriftſprache Martin
Luthers ausbaute, eine gemeinſame Umgangsſprache für alle deutſchen
Stämme; erſt im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts begannen
die gebildeten Klaſſen das reine Hochdeutſch auch im täglichen Leben in
Ehren zu halten. Unberührt von dem Lärm und der Haſt der großen
Welt konnte ſich die deutſche Dichtung wunderbar lange den unſchuldigen
Frohmuth, die geſammelte Andacht und die friſche Werdeluſt der Jugend
bewahren; das war es, was Frau von Staël noch in den Glanztagen
der Weimariſchen Kunſt ſo mächtig bezauberte, ſie meinte an der Ilm
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/104>, abgerufen am 23.07.2024.
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