Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

Verständniss (consensus) begriffen werden soll. Es ist der
besondere sociale Trieb und Instinct, welcher Menschen als Glie-
der eines Ganzen zusammenhält. Und weil aller Instinct als
menschlicher mit Vernunft angethan ist und die Anlage der
Sprache voraussetzt, so kann es auch als der Sinn (Logos)
und die Vernunft eines solchen Verhältnisses begriffen wer-
den. Es ist daher z. B. zwischen dem Erzeuger und seinem
Kinde nur in dem Masse vorhanden, als das Kind mit
Sprache und vernünftigem Willen begabt gedacht wird. So
aber kann auch gesagt werden: Alles, was dem Sinne eines
gemeinschaftlichen Verhältnisses gemäss, was in ihm und
für es einen Sinn hat, das ist sein Recht; d. i. es
wird als der eigentliche und wesentliche Wille der mehreren
Verbundenen geachtet. Mithin: insoweit, als es ihrer wirk-
lichen Natur und ihren Kräften entspricht, dass Genuss und
Arbeit verschieden sind, und zumal, dass auf die eine Seite
die Leitung, auf die andere der Gehorsam fällt, so ist dies
ein natürliches Recht, als eine Ordnung des Zusammen-
lebens, welche jedem Willen sein Gebiet oder seine Function
zuweiset, einen Inbegriff von Pflichten und Gerechtsamen.
Verständniss also beruhet auf intimer Kenntniss von
einander, sofern diese durch unmittelbaren Antheil eines
Wesens an dem Leben des anderen, Neigung zur Mit-Freude
und zum Mit-Leide, bedingt ist und solche wiederum fördert.
Daher um so wahrscheinlicher, je grösser die Aehnlichkeit
der Constitution und Erfahrung oder je mehr Naturell,
Charakter, Denkungsart von gleicher oder zusammen-
stimmender Art sind. Das wahre Organ des Verständnisses,
worin es sein Wesen entwickelt und ausbildet, ist die
Sprache selber, in Geberden und Lauten sich mitthei-
lender und empfangener Ausdruck von Schmerz und Lust,
Furcht und Wunsch und aller übrigen Gefühle und Gemüths-
erregungen. Sprache ist -- wie Alle wissen -- nicht er-
funden und gleichsam verabredet worden als ein Mittel und
Werkzeug, sich verständlich zu machen, sondern sie selber
ist lebendiges Verständniss, zugleich sein Inhalt und seine
Form. Gleich allen übrigen bewussten Ausdrucks-Bewe-
gungen ist ihre Aeusserung die unwillkürliche Folge tiefer
Gefühle, vorherrschender Gedanken, und dient nicht der

Verständniss (consensus) begriffen werden soll. Es ist der
besondere sociale Trieb und Instinct, welcher Menschen als Glie-
der eines Ganzen zusammenhält. Und weil aller Instinct als
menschlicher mit Vernunft angethan ist und die Anlage der
Sprache voraussetzt, so kann es auch als der Sinn (Λογος)
und die Vernunft eines solchen Verhältnisses begriffen wer-
den. Es ist daher z. B. zwischen dem Erzeuger und seinem
Kinde nur in dem Masse vorhanden, als das Kind mit
Sprache und vernünftigem Willen begabt gedacht wird. So
aber kann auch gesagt werden: Alles, was dem Sinne eines
gemeinschaftlichen Verhältnisses gemäss, was in ihm und
für es einen Sinn hat, das ist sein Recht; d. i. es
wird als der eigentliche und wesentliche Wille der mehreren
Verbundenen geachtet. Mithin: insoweit, als es ihrer wirk-
lichen Natur und ihren Kräften entspricht, dass Genuss und
Arbeit verschieden sind, und zumal, dass auf die eine Seite
die Leitung, auf die andere der Gehorsam fällt, so ist dies
ein natürliches Recht, als eine Ordnung des Zusammen-
lebens, welche jedem Willen sein Gebiet oder seine Function
zuweiset, einen Inbegriff von Pflichten und Gerechtsamen.
Verständniss also beruhet auf intimer Kenntniss von
einander, sofern diese durch unmittelbaren Antheil eines
Wesens an dem Leben des anderen, Neigung zur Mit-Freude
und zum Mit-Leide, bedingt ist und solche wiederum fördert.
Daher um so wahrscheinlicher, je grösser die Aehnlichkeit
der Constitution und Erfahrung oder je mehr Naturell,
Charakter, Denkungsart von gleicher oder zusammen-
stimmender Art sind. Das wahre Organ des Verständnisses,
worin es sein Wesen entwickelt und ausbildet, ist die
Sprache selber, in Geberden und Lauten sich mitthei-
lender und empfangener Ausdruck von Schmerz und Lust,
Furcht und Wunsch und aller übrigen Gefühle und Gemüths-
erregungen. Sprache ist — wie Alle wissen — nicht er-
funden und gleichsam verabredet worden als ein Mittel und
Werkzeug, sich verständlich zu machen, sondern sie selber
ist lebendiges Verständniss, zugleich sein Inhalt und seine
Form. Gleich allen übrigen bewussten Ausdrucks-Bewe-
gungen ist ihre Aeusserung die unwillkürliche Folge tiefer
Gefühle, vorherrschender Gedanken, und dient nicht der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0059" n="23"/><hi rendition="#g">Verständniss</hi><hi rendition="#i">(consensus)</hi> begriffen werden soll. Es ist der<lb/>
besondere sociale Trieb und Instinct, welcher Menschen als Glie-<lb/>
der eines Ganzen zusammenhält. Und weil aller Instinct als<lb/>
menschlicher mit Vernunft angethan ist und die Anlage der<lb/>
Sprache voraussetzt, so kann es auch als der Sinn (&#x039B;&#x03BF;&#x03B3;&#x03BF;&#x03C2;)<lb/>
und die Vernunft eines solchen Verhältnisses begriffen wer-<lb/>
den. Es ist daher z. B. zwischen dem Erzeuger und seinem<lb/>
Kinde nur in dem Masse vorhanden, als das Kind mit<lb/>
Sprache und vernünftigem Willen begabt gedacht wird. So<lb/>
aber kann auch gesagt werden: Alles, was dem <hi rendition="#g">Sinne</hi> eines<lb/>
gemeinschaftlichen Verhältnisses gemäss, was in ihm und<lb/>
für es <hi rendition="#g">einen Sinn hat</hi>, das ist sein <hi rendition="#g">Recht</hi>; d. i. es<lb/>
wird als der eigentliche und wesentliche Wille der mehreren<lb/>
Verbundenen geachtet. Mithin: insoweit, als es ihrer wirk-<lb/>
lichen Natur und ihren Kräften entspricht, dass Genuss und<lb/>
Arbeit verschieden sind, und zumal, dass auf die eine Seite<lb/>
die Leitung, auf die andere der Gehorsam fällt, so ist dies<lb/>
ein <hi rendition="#g">natürliches Recht</hi>, als eine Ordnung des Zusammen-<lb/>
lebens, welche jedem Willen sein Gebiet oder seine Function<lb/>
zuweiset, einen Inbegriff von Pflichten und Gerechtsamen.<lb/>
Verständniss also beruhet auf intimer <hi rendition="#g">Kenntniss</hi> von<lb/>
einander, sofern diese durch unmittelbaren Antheil eines<lb/>
Wesens an dem Leben des anderen, Neigung zur Mit-Freude<lb/>
und zum Mit-Leide, bedingt ist und solche wiederum fördert.<lb/>
Daher um so wahrscheinlicher, je grösser die Aehnlichkeit<lb/>
der Constitution und Erfahrung oder je mehr Naturell,<lb/>
Charakter, Denkungsart von gleicher oder zusammen-<lb/>
stimmender Art sind. Das wahre Organ des Verständnisses,<lb/>
worin es sein Wesen entwickelt und ausbildet, ist die<lb/><hi rendition="#g">Sprache</hi> selber, in Geberden und Lauten sich mitthei-<lb/>
lender und empfangener Ausdruck von Schmerz und Lust,<lb/>
Furcht und Wunsch und aller übrigen Gefühle und Gemüths-<lb/>
erregungen. Sprache ist &#x2014; wie Alle wissen &#x2014; nicht er-<lb/>
funden und gleichsam verabredet worden als ein Mittel und<lb/>
Werkzeug, sich verständlich zu <hi rendition="#g">machen</hi>, sondern sie selber<lb/>
ist lebendiges Verständniss, zugleich sein Inhalt und seine<lb/>
Form. Gleich allen übrigen bewussten Ausdrucks-Bewe-<lb/>
gungen ist <hi rendition="#g">ihre</hi> Aeusserung die unwillkürliche Folge tiefer<lb/>
Gefühle, vorherrschender Gedanken, und dient nicht der<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[23/0059] Verständniss (consensus) begriffen werden soll. Es ist der besondere sociale Trieb und Instinct, welcher Menschen als Glie- der eines Ganzen zusammenhält. Und weil aller Instinct als menschlicher mit Vernunft angethan ist und die Anlage der Sprache voraussetzt, so kann es auch als der Sinn (Λογος) und die Vernunft eines solchen Verhältnisses begriffen wer- den. Es ist daher z. B. zwischen dem Erzeuger und seinem Kinde nur in dem Masse vorhanden, als das Kind mit Sprache und vernünftigem Willen begabt gedacht wird. So aber kann auch gesagt werden: Alles, was dem Sinne eines gemeinschaftlichen Verhältnisses gemäss, was in ihm und für es einen Sinn hat, das ist sein Recht; d. i. es wird als der eigentliche und wesentliche Wille der mehreren Verbundenen geachtet. Mithin: insoweit, als es ihrer wirk- lichen Natur und ihren Kräften entspricht, dass Genuss und Arbeit verschieden sind, und zumal, dass auf die eine Seite die Leitung, auf die andere der Gehorsam fällt, so ist dies ein natürliches Recht, als eine Ordnung des Zusammen- lebens, welche jedem Willen sein Gebiet oder seine Function zuweiset, einen Inbegriff von Pflichten und Gerechtsamen. Verständniss also beruhet auf intimer Kenntniss von einander, sofern diese durch unmittelbaren Antheil eines Wesens an dem Leben des anderen, Neigung zur Mit-Freude und zum Mit-Leide, bedingt ist und solche wiederum fördert. Daher um so wahrscheinlicher, je grösser die Aehnlichkeit der Constitution und Erfahrung oder je mehr Naturell, Charakter, Denkungsart von gleicher oder zusammen- stimmender Art sind. Das wahre Organ des Verständnisses, worin es sein Wesen entwickelt und ausbildet, ist die Sprache selber, in Geberden und Lauten sich mitthei- lender und empfangener Ausdruck von Schmerz und Lust, Furcht und Wunsch und aller übrigen Gefühle und Gemüths- erregungen. Sprache ist — wie Alle wissen — nicht er- funden und gleichsam verabredet worden als ein Mittel und Werkzeug, sich verständlich zu machen, sondern sie selber ist lebendiges Verständniss, zugleich sein Inhalt und seine Form. Gleich allen übrigen bewussten Ausdrucks-Bewe- gungen ist ihre Aeusserung die unwillkürliche Folge tiefer Gefühle, vorherrschender Gedanken, und dient nicht der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/59
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/59>, abgerufen am 22.11.2024.