haltenen Bräuchen ihre Stütze suchen. -- Freundschaft wird von Verwandtschaft und Nachbarschaft unabhängig als Bedingung und Wirkung einmüthiger Arbeit und Denkungs- art; daher durch Gleichheit und Aehnlichkeit des Berufes oder der Kunst am ehesten gegeben. Solches Band muss aber doch durch leichte und häufige Vereinigung geknüpft und erhalten werden, wie solche innerhalb einer Stadt am meisten Wahrscheinlichkeit hat; und die so durch Gemein- geist gestiftete, gefeierte Gottheit hat hier eine ganz un- mittelbare Bedeutung für die Erhaltung desselben, da sie allein oder doch vorzugsweise ihm eine lebendige und blei- bende Gestalt gibt. Solcher guter Geist haftet darum auch nicht an einer Stelle, sondern wohnet im Gewissen seiner Verehrer und begleitet ihre Wanderung in fremde Lande. So empfinden sich, gleich Kunst- und Standesgenossen, ein- ander kennenden, auch die in Wahrheit Glaubensgenossen sind, überall als durch ein geistiges Band verbunden, und an einem gemeinsamen Werke arbeitend. Daher: wenn das städtische Zusammenwohnen auch unter dem Begriff der Nachbarschaft gefasst werden kann; wie auch das häus- liche, sofern nicht-verwandte oder dienende Glieder daran Theil nehmen: so bildet hingegen die geistige Freundschaft eine Art von unsichtbarer Ortschaft, eine mystische Stadt und Versammlung, welche nur durch so etwas als eine künstlerische Intuition, durch einen schöpferischen Willen lebendig ist. Die Verhältnisse zwischen den Menschen selber als Freunden und Genossen haben hier am wenigsten einen organischen und insofern nothwendigen Charakter: sie sind am wenigsten instinctiv und weniger durch Gewohnheit bedingt als die nachbarlichen; sie sind mentaler Natur und scheinen daher, im Vergleiche mit den früheren, entweder auf Zufall oder auf freier Wahl zu beruhen. Aber eine analoge Abstufung wurde schon innerhalb der reinen Ver- wandtschaft hervorgehoben und führt zur Aufstellung fol- gender Sätze.
§ 7.
Nachbarschaft verhält sich zu Verwandtschaft wie das Verhältniss zwischen Gatten -- daher Affinität überhaupt --
haltenen Bräuchen ihre Stütze suchen. — Freundschaft wird von Verwandtschaft und Nachbarschaft unabhängig als Bedingung und Wirkung einmüthiger Arbeit und Denkungs- art; daher durch Gleichheit und Aehnlichkeit des Berufes oder der Kunst am ehesten gegeben. Solches Band muss aber doch durch leichte und häufige Vereinigung geknüpft und erhalten werden, wie solche innerhalb einer Stadt am meisten Wahrscheinlichkeit hat; und die so durch Gemein- geist gestiftete, gefeierte Gottheit hat hier eine ganz un- mittelbare Bedeutung für die Erhaltung desselben, da sie allein oder doch vorzugsweise ihm eine lebendige und blei- bende Gestalt gibt. Solcher guter Geist haftet darum auch nicht an einer Stelle, sondern wohnet im Gewissen seiner Verehrer und begleitet ihre Wanderung in fremde Lande. So empfinden sich, gleich Kunst- und Standesgenossen, ein- ander kennenden, auch die in Wahrheit Glaubensgenossen sind, überall als durch ein geistiges Band verbunden, und an einem gemeinsamen Werke arbeitend. Daher: wenn das städtische Zusammenwohnen auch unter dem Begriff der Nachbarschaft gefasst werden kann; wie auch das häus- liche, sofern nicht-verwandte oder dienende Glieder daran Theil nehmen: so bildet hingegen die geistige Freundschaft eine Art von unsichtbarer Ortschaft, eine mystische Stadt und Versammlung, welche nur durch so etwas als eine künstlerische Intuition, durch einen schöpferischen Willen lebendig ist. Die Verhältnisse zwischen den Menschen selber als Freunden und Genossen haben hier am wenigsten einen organischen und insofern nothwendigen Charakter: sie sind am wenigsten instinctiv und weniger durch Gewohnheit bedingt als die nachbarlichen; sie sind mentaler Natur und scheinen daher, im Vergleiche mit den früheren, entweder auf Zufall oder auf freier Wahl zu beruhen. Aber eine analoge Abstufung wurde schon innerhalb der reinen Ver- wandtschaft hervorgehoben und führt zur Aufstellung fol- gender Sätze.
§ 7.
Nachbarschaft verhält sich zu Verwandtschaft wie das Verhältniss zwischen Gatten — daher Affinität überhaupt —
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haltenen Bräuchen ihre Stütze suchen. — Freundschaft
wird von Verwandtschaft und Nachbarschaft unabhängig als
Bedingung und Wirkung einmüthiger Arbeit und Denkungs-
art; daher durch Gleichheit und Aehnlichkeit des Berufes
oder der Kunst am ehesten gegeben. Solches Band muss
aber doch durch leichte und häufige Vereinigung geknüpft
und erhalten werden, wie solche innerhalb einer Stadt am
meisten Wahrscheinlichkeit hat; und die so durch Gemein-
geist gestiftete, gefeierte Gottheit hat hier eine ganz un-
mittelbare Bedeutung für die Erhaltung desselben, da sie
allein oder doch vorzugsweise ihm eine lebendige und blei-
bende Gestalt gibt. Solcher guter Geist haftet darum auch
nicht an einer Stelle, sondern wohnet im Gewissen seiner
Verehrer und begleitet ihre Wanderung in fremde Lande.
So empfinden sich, gleich Kunst- und Standesgenossen, ein-
ander kennenden, auch die in Wahrheit Glaubensgenossen
sind, überall als durch ein geistiges Band verbunden, und
an einem gemeinsamen Werke arbeitend. Daher: wenn
das städtische Zusammenwohnen auch unter dem Begriff
der Nachbarschaft gefasst werden kann; wie auch das häus-
liche, sofern nicht-verwandte oder dienende Glieder daran
Theil nehmen: so bildet hingegen die geistige Freundschaft
eine Art von unsichtbarer Ortschaft, eine mystische Stadt
und Versammlung, welche nur durch so etwas als eine
künstlerische Intuition, durch einen schöpferischen Willen
lebendig ist. Die Verhältnisse zwischen den Menschen selber
als Freunden und Genossen haben hier am wenigsten einen
organischen und insofern nothwendigen Charakter: sie sind
am wenigsten instinctiv und weniger durch Gewohnheit
bedingt als die nachbarlichen; sie sind mentaler Natur und
scheinen daher, im Vergleiche mit den früheren, entweder
auf Zufall oder auf freier Wahl zu beruhen. Aber eine
analoge Abstufung wurde schon innerhalb der reinen Ver-
wandtschaft hervorgehoben und führt zur Aufstellung fol-
gender Sätze.
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Nachbarschaft verhält sich zu Verwandtschaft wie das
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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/54>, abgerufen am 24.11.2024.
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