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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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zum wenigsten als Sprossen desselben mütterlichen Leibes
sich Kennenden. Wenn in jedem Verhältnisse von Stamm-
verwandten zu einander der Keim oder die in den Willen
begründete Tendenz und Kraft zu einer Gemeinschaft vor-
gestellt werden mag, so sind jene drei die stärksten oder am
meisten der Entwicklung fähigen Keime von solcher Be-
deutung. Jedes aber auf besondere Weise: A) das mütter-
liche
ist am tiefsten in reinem Instincte oder Gefallen
begründet; auch ist hier der Uebergang von einer zugleich
leiblichen zu einer blos geistigen Verbundenheit gleichsam
handgreiflich; und diese weist um so mehr auf jene zurück,
je näher sie ihrem Ursprunge ist; das Verhältniss bedingt
eine lange Dauer, indem der Mutter die Ernährung, Be-
schützung, Leitung des Geborenen obliegt, bis es sich allein
zu ernähren, zu beschützen, zu leiten fähig ist; zugleich
aber verliert es in diesem Fortschreiten an Nothwendigkeit,
und macht Trennung wahrscheinlicher; diese Tendenz kann
aber wiederum durch andere aufgehoben oder doch gehemmt
werden, nämlich durch die Gewöhnung an einander und
durch Gedächtniss der Freuden, die sie einander gewährt
haben, zumal durch die Dankbarkeit des Kindes für mütter-
liche Sorgen und Mühen; zu diesen unmittelbaren gegen-
seitigen Beziehungen treten aber gemeinsame und indirect
verbindende zu Gegenständen ausser ihnen hinzu: Lust,
Gewohnheit, Erinnerung an Dinge der Umgebung, die ur-
sprünglich angenehm oder angenehm geworden sind; so
auch an bekannte, hülfreiche, liebende Menschen; als der
Vater sein mag, wenn er mit dem Weibe zusammenlebt,
oder Brüder und Schwestern, der Mutter oder des Kindes
u. s. w. B) Der Sexual-Instinct macht nicht ein irgend-
wie dauerndes Zusammenleben nothwendig; auch führt
er zunächst nicht so leicht zu einem gegenseitigen Verhält-
nisse, als zu einseitiger Unterjochung des Weibes, welches,
von Natur schwächer, zum Gegenstande des blossen Be-
sitzes oder zur Unfreiheit herabgedrückt werden kann.
Daher muss das Verhältniss zwischen Gatten, wenn es
unabhängig von der es etwa involvirenden Stammes-Ver-
wandtschaft und von allen darin beruhenden socialen Kräften
betrachtet wird, hauptsächlich durch Gewöhnung an ein-

zum wenigsten als Sprossen desselben mütterlichen Leibes
sich Kennenden. Wenn in jedem Verhältnisse von Stamm-
verwandten zu einander der Keim oder die in den Willen
begründete Tendenz und Kraft zu einer Gemeinschaft vor-
gestellt werden mag, so sind jene drei die stärksten oder am
meisten der Entwicklung fähigen Keime von solcher Be-
deutung. Jedes aber auf besondere Weise: A) das mütter-
liche
ist am tiefsten in reinem Instincte oder Gefallen
begründet; auch ist hier der Uebergang von einer zugleich
leiblichen zu einer blos geistigen Verbundenheit gleichsam
handgreiflich; und diese weist um so mehr auf jene zurück,
je näher sie ihrem Ursprunge ist; das Verhältniss bedingt
eine lange Dauer, indem der Mutter die Ernährung, Be-
schützung, Leitung des Geborenen obliegt, bis es sich allein
zu ernähren, zu beschützen, zu leiten fähig ist; zugleich
aber verliert es in diesem Fortschreiten an Nothwendigkeit,
und macht Trennung wahrscheinlicher; diese Tendenz kann
aber wiederum durch andere aufgehoben oder doch gehemmt
werden, nämlich durch die Gewöhnung an einander und
durch Gedächtniss der Freuden, die sie einander gewährt
haben, zumal durch die Dankbarkeit des Kindes für mütter-
liche Sorgen und Mühen; zu diesen unmittelbaren gegen-
seitigen Beziehungen treten aber gemeinsame und indirect
verbindende zu Gegenständen ausser ihnen hinzu: Lust,
Gewohnheit, Erinnerung an Dinge der Umgebung, die ur-
sprünglich angenehm oder angenehm geworden sind; so
auch an bekannte, hülfreiche, liebende Menschen; als der
Vater sein mag, wenn er mit dem Weibe zusammenlebt,
oder Brüder und Schwestern, der Mutter oder des Kindes
u. s. w. B) Der Sexual-Instinct macht nicht ein irgend-
wie dauerndes Zusammenleben nothwendig; auch führt
er zunächst nicht so leicht zu einem gegenseitigen Verhält-
nisse, als zu einseitiger Unterjochung des Weibes, welches,
von Natur schwächer, zum Gegenstande des blossen Be-
sitzes oder zur Unfreiheit herabgedrückt werden kann.
Daher muss das Verhältniss zwischen Gatten, wenn es
unabhängig von der es etwa involvirenden Stammes-Ver-
wandtschaft und von allen darin beruhenden socialen Kräften
betrachtet wird, hauptsächlich durch Gewöhnung an ein-

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[10/0046] zum wenigsten als Sprossen desselben mütterlichen Leibes sich Kennenden. Wenn in jedem Verhältnisse von Stamm- verwandten zu einander der Keim oder die in den Willen begründete Tendenz und Kraft zu einer Gemeinschaft vor- gestellt werden mag, so sind jene drei die stärksten oder am meisten der Entwicklung fähigen Keime von solcher Be- deutung. Jedes aber auf besondere Weise: A) das mütter- liche ist am tiefsten in reinem Instincte oder Gefallen begründet; auch ist hier der Uebergang von einer zugleich leiblichen zu einer blos geistigen Verbundenheit gleichsam handgreiflich; und diese weist um so mehr auf jene zurück, je näher sie ihrem Ursprunge ist; das Verhältniss bedingt eine lange Dauer, indem der Mutter die Ernährung, Be- schützung, Leitung des Geborenen obliegt, bis es sich allein zu ernähren, zu beschützen, zu leiten fähig ist; zugleich aber verliert es in diesem Fortschreiten an Nothwendigkeit, und macht Trennung wahrscheinlicher; diese Tendenz kann aber wiederum durch andere aufgehoben oder doch gehemmt werden, nämlich durch die Gewöhnung an einander und durch Gedächtniss der Freuden, die sie einander gewährt haben, zumal durch die Dankbarkeit des Kindes für mütter- liche Sorgen und Mühen; zu diesen unmittelbaren gegen- seitigen Beziehungen treten aber gemeinsame und indirect verbindende zu Gegenständen ausser ihnen hinzu: Lust, Gewohnheit, Erinnerung an Dinge der Umgebung, die ur- sprünglich angenehm oder angenehm geworden sind; so auch an bekannte, hülfreiche, liebende Menschen; als der Vater sein mag, wenn er mit dem Weibe zusammenlebt, oder Brüder und Schwestern, der Mutter oder des Kindes u. s. w. B) Der Sexual-Instinct macht nicht ein irgend- wie dauerndes Zusammenleben nothwendig; auch führt er zunächst nicht so leicht zu einem gegenseitigen Verhält- nisse, als zu einseitiger Unterjochung des Weibes, welches, von Natur schwächer, zum Gegenstande des blossen Be- sitzes oder zur Unfreiheit herabgedrückt werden kann. Daher muss das Verhältniss zwischen Gatten, wenn es unabhängig von der es etwa involvirenden Stammes-Ver- wandtschaft und von allen darin beruhenden socialen Kräften betrachtet wird, hauptsächlich durch Gewöhnung an ein-

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/46>, abgerufen am 25.04.2024.