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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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Productionsweise ihn auszuprägen, deutlich zu machen ver-
mocht hat. Ich sehe darin einen Zusammenhang von That-
sachen, der so natürlich ist, wie Leben und Sterben. Mag
ich des Lebens mich freuen, das Sterben beklagen: Freude
und Traurigkeit vergehen über der Anschauung göttlicher Schick-
sale. Ganz und gar allein stehe ich mit Terminologie und De-
finitionen. Man versteht aber leicht: es gibt keinen Indivi-
dualismus
in Geschichte und Cultur, ausser wie er ausfliesst
aus Gemeinschaft und dadurch bedingt bleibt, oder wie er
Gesellschaft hervorbringt und trägt. Solches entgegengesetzte
Verhältniss des einzelnen Menschen zur Menschheit ist das
reine Problem.

Da ich dieses Gedankens als meines eigenen gewiss
bin, so brauche ich für die Hauptsache an diesem höchst un-
vollkommenen Werke keine Kritik zu fürchten. Meiner persön-
lichen Empfindung werden persönliche Mittheilungen bekannter
oder unbekannter Leser angelegener sein, welche etwa in
irgendwelchem sympathischen Sinne sich berührt oder gefördert
finden. Hieraus kann sich Vieles ergeben: für mich wenig-
stens Lohn und neue Anregung. Denn es bleibt dabei, so
sehr man um Wahrheit sich Mühe geben mag: "Alles, was
Meinungen über die Dinge sind, gehört dem Individuum an,
und wir wissen nur zu sehr, dass die Ueberzeugung nicht
von der Einsicht, sondern von dem Willen abhängt, dass nie-
mand etwas begreift, als was ihm gemäss ist und was er
deswegen zugeben mag. Im Wissen wie im Handeln ent-
scheidet das Vorurtheil Alles, und das Vorurtheil, wie sein
Name wohl bezeichnet, ist ein Urtheil vor der Untersuchung.
Es ist eine Bejahung oder Verneinung dessen, was unserer
Natur
entspricht oder ihr widerspricht; es ist ein freudiger
Trieb unseres lebendigen Wesens nach dem Wahren, wie nach
dem Falschen, nach Allem, was wir mit uns im Einklange
fühlen." (Goethe Farbenlehre, polem. Theil WW. 38, S. 16.)

In Betreff des Zweiten Buches muss ich anmerken, dass
dasselbe in systematischem Gange seine richtigere Stelle vor
dem Ersten haben würde. Mit Willen habe ich diese Ord-
nung vorgezogen. Beide ergänzen und erklären einander
wechselsweise. Sodann habe ich, einem Versprechen gemäss,

Productionsweise ihn auszuprägen, deutlich zu machen ver-
mocht hat. Ich sehe darin einen Zusammenhang von That-
sachen, der so natürlich ist, wie Leben und Sterben. Mag
ich des Lebens mich freuen, das Sterben beklagen: Freude
und Traurigkeit vergehen über der Anschauung göttlicher Schick-
sale. Ganz und gar allein stehe ich mit Terminologie und De-
finitionen. Man versteht aber leicht: es gibt keinen Indivi-
dualismus
in Geschichte und Cultur, ausser wie er ausfliesst
aus Gemeinschaft und dadurch bedingt bleibt, oder wie er
Gesellschaft hervorbringt und trägt. Solches entgegengesetzte
Verhältniss des einzelnen Menschen zur Menschheit ist das
reine Problem.

Da ich dieses Gedankens als meines eigenen gewiss
bin, so brauche ich für die Hauptsache an diesem höchst un-
vollkommenen Werke keine Kritik zu fürchten. Meiner persön-
lichen Empfindung werden persönliche Mittheilungen bekannter
oder unbekannter Leser angelegener sein, welche etwa in
irgendwelchem sympathischen Sinne sich berührt oder gefördert
finden. Hieraus kann sich Vieles ergeben: für mich wenig-
stens Lohn und neue Anregung. Denn es bleibt dabei, so
sehr man um Wahrheit sich Mühe geben mag: »Alles, was
Meinungen über die Dinge sind, gehört dem Individuum an,
und wir wissen nur zu sehr, dass die Ueberzeugung nicht
von der Einsicht, sondern von dem Willen abhängt, dass nie-
mand etwas begreift, als was ihm gemäss ist und was er
deswegen zugeben mag. Im Wissen wie im Handeln ent-
scheidet das Vorurtheil Alles, und das Vorurtheil, wie sein
Name wohl bezeichnet, ist ein Urtheil vor der Untersuchung.
Es ist eine Bejahung oder Verneinung dessen, was unserer
Natur
entspricht oder ihr widerspricht; es ist ein freudiger
Trieb unseres lebendigen Wesens nach dem Wahren, wie nach
dem Falschen, nach Allem, was wir mit uns im Einklange
fühlen.« (Goethe Farbenlehre, polem. Theil WW. 38, S. 16.)

In Betreff des Zweiten Buches muss ich anmerken, dass
dasselbe in systematischem Gange seine richtigere Stelle vor
dem Ersten haben würde. Mit Willen habe ich diese Ord-
nung vorgezogen. Beide ergänzen und erklären einander
wechselsweise. Sodann habe ich, einem Versprechen gemäss,

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[XXIX/0035] Productionsweise ihn auszuprägen, deutlich zu machen ver- mocht hat. Ich sehe darin einen Zusammenhang von That- sachen, der so natürlich ist, wie Leben und Sterben. Mag ich des Lebens mich freuen, das Sterben beklagen: Freude und Traurigkeit vergehen über der Anschauung göttlicher Schick- sale. Ganz und gar allein stehe ich mit Terminologie und De- finitionen. Man versteht aber leicht: es gibt keinen Indivi- dualismus in Geschichte und Cultur, ausser wie er ausfliesst aus Gemeinschaft und dadurch bedingt bleibt, oder wie er Gesellschaft hervorbringt und trägt. Solches entgegengesetzte Verhältniss des einzelnen Menschen zur Menschheit ist das reine Problem. Da ich dieses Gedankens als meines eigenen gewiss bin, so brauche ich für die Hauptsache an diesem höchst un- vollkommenen Werke keine Kritik zu fürchten. Meiner persön- lichen Empfindung werden persönliche Mittheilungen bekannter oder unbekannter Leser angelegener sein, welche etwa in irgendwelchem sympathischen Sinne sich berührt oder gefördert finden. Hieraus kann sich Vieles ergeben: für mich wenig- stens Lohn und neue Anregung. Denn es bleibt dabei, so sehr man um Wahrheit sich Mühe geben mag: »Alles, was Meinungen über die Dinge sind, gehört dem Individuum an, und wir wissen nur zu sehr, dass die Ueberzeugung nicht von der Einsicht, sondern von dem Willen abhängt, dass nie- mand etwas begreift, als was ihm gemäss ist und was er deswegen zugeben mag. Im Wissen wie im Handeln ent- scheidet das Vorurtheil Alles, und das Vorurtheil, wie sein Name wohl bezeichnet, ist ein Urtheil vor der Untersuchung. Es ist eine Bejahung oder Verneinung dessen, was unserer Natur entspricht oder ihr widerspricht; es ist ein freudiger Trieb unseres lebendigen Wesens nach dem Wahren, wie nach dem Falschen, nach Allem, was wir mit uns im Einklange fühlen.« (Goethe Farbenlehre, polem. Theil WW. 38, S. 16.) In Betreff des Zweiten Buches muss ich anmerken, dass dasselbe in systematischem Gange seine richtigere Stelle vor dem Ersten haben würde. Mit Willen habe ich diese Ord- nung vorgezogen. Beide ergänzen und erklären einander wechselsweise. Sodann habe ich, einem Versprechen gemäss,

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. XXIX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/35>, abgerufen am 29.03.2024.