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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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vergehen lassen. Aber unter gewissen Bedingungen, in
manchen Beziehungen, die uns hier merkwürdig sind, er-
scheint der Mensch in willkürlichen Thätigkeiten und Ver-
hältnissen als ein freier, und muss als Person begriffen
werden. Die Substanz des gemeinen Geistes ist so schwach,
oder das Band, welches ihn mit den Anderen verbindet, so
dünn geworden, dass es aus der Betrachtung ausscheidet.
Dies ist im Allgemeinen, in Vergleichung zu jedem familien-
haften, genossenschaftlichen Bunde, das Verhältniss zwischen
Ungenossen: wo -- in diesen Beziehungen, oder endlich
überhaupt -- kein gemeinsames Verständniss obwaltet, kein
Brauch, kein Glaube verbindet und versöhnt. Es ist der
Zustand des Krieges und der unbeschränkten Freiheit, ein-
ander zu vernichten, nach Willkür zu gebrauchen, zu
plündern und zu unterjochen, oder aber, aus Erkenntniss
besseren Vortheils, Verträge und Verbindungen anzuknüpfen.
So lange und so fern als ein solcher Zustand bestehen mag
zwischen geschlossenen Gruppen oder Gemeinschaften, und
zwischen den Menschen, wie sie durch dieselben bedingt
sind, oder auch zwischen Genossen und Ungenossen in
Bezug auf Gemeinschaft, so geht es diese Untersuchung
nicht an. Sondern: wir verstehen ein Zusammenleben und
einen socialen Zustand, in welchem die Individuen wider
einander in derselben Isolation und verhüllten Feindseligkeit
verharren, so dass sie nur aus Furcht oder aus Klugheit
sich der Angriffe gegen einander enthalten, und mithin
auch die wirklichen friedlich-freundlichen Beziehungen und
Wirkungen als auf dem Grunde dieses Kriegszustandes
beruhend gedacht werden müssen. Dieses ist, wie in Be-
griffen bestimmt worden, der Zustand der gesellschaftlichen
Civilisation, in welchem Friede und Verkehr durch
Convention und in ihr sich ausdrückende gegenseitige
Furcht erhalten wird, welchen der Staat beschützt, durch
Gesetzgebung und Politik ausbildet; welchen Wissenschaft
und öffentliche Meinung theils als nothwendig und ewig zu
begreifen suchen, theils als Fortschritt zur Vollkommenheit
verherrlichen. Vielmehr sind aber die gemeinschaftlichen
Lebensarten und Ordnungen diejenigen, in welchen das
Volksthum und seine Cultur sich erhält; welchen daher

vergehen lassen. Aber unter gewissen Bedingungen, in
manchen Beziehungen, die uns hier merkwürdig sind, er-
scheint der Mensch in willkürlichen Thätigkeiten und Ver-
hältnissen als ein freier, und muss als Person begriffen
werden. Die Substanz des gemeinen Geistes ist so schwach,
oder das Band, welches ihn mit den Anderen verbindet, so
dünn geworden, dass es aus der Betrachtung ausscheidet.
Dies ist im Allgemeinen, in Vergleichung zu jedem familien-
haften, genossenschaftlichen Bunde, das Verhältniss zwischen
Ungenossen: wo — in diesen Beziehungen, oder endlich
überhaupt — kein gemeinsames Verständniss obwaltet, kein
Brauch, kein Glaube verbindet und versöhnt. Es ist der
Zustand des Krieges und der unbeschränkten Freiheit, ein-
ander zu vernichten, nach Willkür zu gebrauchen, zu
plündern und zu unterjochen, oder aber, aus Erkenntniss
besseren Vortheils, Verträge und Verbindungen anzuknüpfen.
So lange und so fern als ein solcher Zustand bestehen mag
zwischen geschlossenen Gruppen oder Gemeinschaften, und
zwischen den Menschen, wie sie durch dieselben bedingt
sind, oder auch zwischen Genossen und Ungenossen in
Bezug auf Gemeinschaft, so geht es diese Untersuchung
nicht an. Sondern: wir verstehen ein Zusammenleben und
einen socialen Zustand, in welchem die Individuen wider
einander in derselben Isolation und verhüllten Feindseligkeit
verharren, so dass sie nur aus Furcht oder aus Klugheit
sich der Angriffe gegen einander enthalten, und mithin
auch die wirklichen friedlich-freundlichen Beziehungen und
Wirkungen als auf dem Grunde dieses Kriegszustandes
beruhend gedacht werden müssen. Dieses ist, wie in Be-
griffen bestimmt worden, der Zustand der gesellschaftlichen
Civilisation, in welchem Friede und Verkehr durch
Convention und in ihr sich ausdrückende gegenseitige
Furcht erhalten wird, welchen der Staat beschützt, durch
Gesetzgebung und Politik ausbildet; welchen Wissenschaft
und öffentliche Meinung theils als nothwendig und ewig zu
begreifen suchen, theils als Fortschritt zur Vollkommenheit
verherrlichen. Vielmehr sind aber die gemeinschaftlichen
Lebensarten und Ordnungen diejenigen, in welchen das
Volksthum und seine Cultur sich erhält; welchen daher

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[279/0315] vergehen lassen. Aber unter gewissen Bedingungen, in manchen Beziehungen, die uns hier merkwürdig sind, er- scheint der Mensch in willkürlichen Thätigkeiten und Ver- hältnissen als ein freier, und muss als Person begriffen werden. Die Substanz des gemeinen Geistes ist so schwach, oder das Band, welches ihn mit den Anderen verbindet, so dünn geworden, dass es aus der Betrachtung ausscheidet. Dies ist im Allgemeinen, in Vergleichung zu jedem familien- haften, genossenschaftlichen Bunde, das Verhältniss zwischen Ungenossen: wo — in diesen Beziehungen, oder endlich überhaupt — kein gemeinsames Verständniss obwaltet, kein Brauch, kein Glaube verbindet und versöhnt. Es ist der Zustand des Krieges und der unbeschränkten Freiheit, ein- ander zu vernichten, nach Willkür zu gebrauchen, zu plündern und zu unterjochen, oder aber, aus Erkenntniss besseren Vortheils, Verträge und Verbindungen anzuknüpfen. So lange und so fern als ein solcher Zustand bestehen mag zwischen geschlossenen Gruppen oder Gemeinschaften, und zwischen den Menschen, wie sie durch dieselben bedingt sind, oder auch zwischen Genossen und Ungenossen in Bezug auf Gemeinschaft, so geht es diese Untersuchung nicht an. Sondern: wir verstehen ein Zusammenleben und einen socialen Zustand, in welchem die Individuen wider einander in derselben Isolation und verhüllten Feindseligkeit verharren, so dass sie nur aus Furcht oder aus Klugheit sich der Angriffe gegen einander enthalten, und mithin auch die wirklichen friedlich-freundlichen Beziehungen und Wirkungen als auf dem Grunde dieses Kriegszustandes beruhend gedacht werden müssen. Dieses ist, wie in Be- griffen bestimmt worden, der Zustand der gesellschaftlichen Civilisation, in welchem Friede und Verkehr durch Convention und in ihr sich ausdrückende gegenseitige Furcht erhalten wird, welchen der Staat beschützt, durch Gesetzgebung und Politik ausbildet; welchen Wissenschaft und öffentliche Meinung theils als nothwendig und ewig zu begreifen suchen, theils als Fortschritt zur Vollkommenheit verherrlichen. Vielmehr sind aber die gemeinschaftlichen Lebensarten und Ordnungen diejenigen, in welchen das Volksthum und seine Cultur sich erhält; welchen daher

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/315>, abgerufen am 23.11.2024.