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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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nissen, dessen Anfang und Ende nur höchst unbestimmten
Vermuthungen offen liegt. Die Zukunft ist uns beinahe nicht
dunkler als die Vergangenheit. Was wir als Gegenwart
empfinden, müssen wir zuerst beobachten und zu verstehen
uns bemühen. Aber ein grosser Theil der ernsten und ach-
tungswerthen Arbeiten, welche in dieses Gebiet, welches so offen-
bar und so geheimnissvoll ist wie die Natur selber, sich hinein-
begeben haben, wird in seinem Werthe oft beeinträchtigt durch
die Schwierigkeiten eines unbefangenen und genauen theore-
tischen Verhaltens in solcher Beziehung. Das Subject steht
den Gegenständen seiner Betrachtung allzu nahe. Es gehört
viele Anstrengung und Uebung, vielleicht sogar eine natürliche
Kälte des Verstandes dazu, um solche Phänomene mit derselben
sachlichen Gleichgültigkeit ins Auge zu fassen, mit welcher
der Naturforscher die Processe des Lebens einer Pflanze oder
eines Thieres verfolgt. Und selbst das gelehrte und kritische
Publicum will in der Regel nicht erfahren, wie nach der An-
sicht eines Schriftstellers die Dinge sind, geworden sind und
werden, sondern lieber wie sie nach seiner Ansicht sein
sollen; denn man ist ja gewohnt, zu sehen, dass nach dieser
jene sich richtet, was bis zu einer gewissen Grenze unver-
meidlich sein mag, aber man gewahrt nicht, dass die ge-
flissentliche Vermeidung dieser Gefahr den wissenschaftlichen
Habitus bildet. Man erwartet und fordert beinahe den Stand-
punkt und die heftige Rhetorik einer Partei, anstatt der ge-
lassenen Logik und Ruhe des unparteiischen Zuschauers. So
wird denn in der heutigen und besonders in der deutschen
Social-Wissenschaft ein Kampf von Richtungen auf die
Fundamente der Theorie bezogen, welche man als entgegengesetzte
Tendenzen in den Verhandlungen über Praxis und Gesetz-
gebung sich wohl gefallen lässt, wo denn die Vertreter streiten-
der Interessen und Classen mit grösserer oder geringerer
bona fides als Vertreter entgegengesetzter Ueberzeugungen
und Doctrinen, gleichsam als technologischer Principien der
Politik sich bekennen mögen. Auch haben diese Differenzen
hier und da einen tieferen Grund in der Sphäre moralischer
Empfindungen und Neigungen des Subjectes, welche so wenig
als andere Leidenschaften den objectiven Anblick der Dinge
stören dürfen. Uebrigens aber erscheint mir die Wichtigkeit,

nissen, dessen Anfang und Ende nur höchst unbestimmten
Vermuthungen offen liegt. Die Zukunft ist uns beinahe nicht
dunkler als die Vergangenheit. Was wir als Gegenwart
empfinden, müssen wir zuerst beobachten und zu verstehen
uns bemühen. Aber ein grosser Theil der ernsten und ach-
tungswerthen Arbeiten, welche in dieses Gebiet, welches so offen-
bar und so geheimnissvoll ist wie die Natur selber, sich hinein-
begeben haben, wird in seinem Werthe oft beeinträchtigt durch
die Schwierigkeiten eines unbefangenen und genauen theore-
tischen Verhaltens in solcher Beziehung. Das Subject steht
den Gegenständen seiner Betrachtung allzu nahe. Es gehört
viele Anstrengung und Uebung, vielleicht sogar eine natürliche
Kälte des Verstandes dazu, um solche Phänomene mit derselben
sachlichen Gleichgültigkeit ins Auge zu fassen, mit welcher
der Naturforscher die Processe des Lebens einer Pflanze oder
eines Thieres verfolgt. Und selbst das gelehrte und kritische
Publicum will in der Regel nicht erfahren, wie nach der An-
sicht eines Schriftstellers die Dinge sind, geworden sind und
werden, sondern lieber wie sie nach seiner Ansicht sein
sollen; denn man ist ja gewohnt, zu sehen, dass nach dieser
jene sich richtet, was bis zu einer gewissen Grenze unver-
meidlich sein mag, aber man gewahrt nicht, dass die ge-
flissentliche Vermeidung dieser Gefahr den wissenschaftlichen
Habitus bildet. Man erwartet und fordert beinahe den Stand-
punkt und die heftige Rhetorik einer Partei, anstatt der ge-
lassenen Logik und Ruhe des unparteiischen Zuschauers. So
wird denn in der heutigen und besonders in der deutschen
Social-Wissenschaft ein Kampf von Richtungen auf die
Fundamente der Theorie bezogen, welche man als entgegengesetzte
Tendenzen in den Verhandlungen über Praxis und Gesetz-
gebung sich wohl gefallen lässt, wo denn die Vertreter streiten-
der Interessen und Classen mit grösserer oder geringerer
bona fides als Vertreter entgegengesetzter Ueberzeugungen
und Doctrinen, gleichsam als technologischer Principien der
Politik sich bekennen mögen. Auch haben diese Differenzen
hier und da einen tieferen Grund in der Sphäre moralischer
Empfindungen und Neigungen des Subjectes, welche so wenig
als andere Leidenschaften den objectiven Anblick der Dinge
stören dürfen. Uebrigens aber erscheint mir die Wichtigkeit,

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[XXV/0031] nissen, dessen Anfang und Ende nur höchst unbestimmten Vermuthungen offen liegt. Die Zukunft ist uns beinahe nicht dunkler als die Vergangenheit. Was wir als Gegenwart empfinden, müssen wir zuerst beobachten und zu verstehen uns bemühen. Aber ein grosser Theil der ernsten und ach- tungswerthen Arbeiten, welche in dieses Gebiet, welches so offen- bar und so geheimnissvoll ist wie die Natur selber, sich hinein- begeben haben, wird in seinem Werthe oft beeinträchtigt durch die Schwierigkeiten eines unbefangenen und genauen theore- tischen Verhaltens in solcher Beziehung. Das Subject steht den Gegenständen seiner Betrachtung allzu nahe. Es gehört viele Anstrengung und Uebung, vielleicht sogar eine natürliche Kälte des Verstandes dazu, um solche Phänomene mit derselben sachlichen Gleichgültigkeit ins Auge zu fassen, mit welcher der Naturforscher die Processe des Lebens einer Pflanze oder eines Thieres verfolgt. Und selbst das gelehrte und kritische Publicum will in der Regel nicht erfahren, wie nach der An- sicht eines Schriftstellers die Dinge sind, geworden sind und werden, sondern lieber wie sie nach seiner Ansicht sein sollen; denn man ist ja gewohnt, zu sehen, dass nach dieser jene sich richtet, was bis zu einer gewissen Grenze unver- meidlich sein mag, aber man gewahrt nicht, dass die ge- flissentliche Vermeidung dieser Gefahr den wissenschaftlichen Habitus bildet. Man erwartet und fordert beinahe den Stand- punkt und die heftige Rhetorik einer Partei, anstatt der ge- lassenen Logik und Ruhe des unparteiischen Zuschauers. So wird denn in der heutigen und besonders in der deutschen Social-Wissenschaft ein Kampf von Richtungen auf die Fundamente der Theorie bezogen, welche man als entgegengesetzte Tendenzen in den Verhandlungen über Praxis und Gesetz- gebung sich wohl gefallen lässt, wo denn die Vertreter streiten- der Interessen und Classen mit grösserer oder geringerer bona fides als Vertreter entgegengesetzter Ueberzeugungen und Doctrinen, gleichsam als technologischer Principien der Politik sich bekennen mögen. Auch haben diese Differenzen hier und da einen tieferen Grund in der Sphäre moralischer Empfindungen und Neigungen des Subjectes, welche so wenig als andere Leidenschaften den objectiven Anblick der Dinge stören dürfen. Uebrigens aber erscheint mir die Wichtigkeit,

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. XXV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/31>, abgerufen am 18.04.2024.