die gesammte individuelle Willkür nur ideell von den Im- pulsen des Lebens und Wesenwillens getrennt werden kann und unter dem objectiven Aspect vielmehr als ein Product des Gedächtnisses erscheint, so verhält es sich auch mit der socialen Willkür. Alle ihre Satzungen und Normen be- halten eine gewisse Aehnlichkeit mit den Geboten der Re- ligion, indem sie, wie diese, dem intellectuellen oder men- talen Ausdrucke des Gesammtgeistes entspringen und die nunmehr vorausgesetzte Isolation und Selbständigkeit des- selben vielleicht niemals als eine vollkommene und allge- meine in der Wirklichkeit angetroffen wird. So ist der Eid ursprüngliche Gewähr des Vertrages, und von Treue und Glauben löst sich nicht leicht die "bindende Kraft" der Verträge in der Bewusstheit der Menschen ab, wenn auch in Wirklichkeit dergleichen keineswegs erfordert wird sondern eine einfache Reflexion auf das eigene Interesse genügt, um die Nothwendigkeit, diese Grundbedingung des gesellschaftlichen Lebens zu erfüllen, dem vernünftigen Sub- jecte vorzustellen. -- Diesen Punkt deutlich zu machen, ist nicht leicht, noch ihn zu verstehen. Aber in der Einsicht und Durchdringung desselben wird der Schlüssel entdeckt werden zur Lösung der bedeutendsten Probleme des Werdens und Vergehens menschlicher Cultur.
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 18
die gesammte individuelle Willkür nur ideell von den Im- pulsen des Lebens und Wesenwillens getrennt werden kann und unter dem objectiven Aspect vielmehr als ein Product des Gedächtnisses erscheint, so verhält es sich auch mit der socialen Willkür. Alle ihre Satzungen und Normen be- halten eine gewisse Aehnlichkeit mit den Geboten der Re- ligion, indem sie, wie diese, dem intellectuellen oder men- talen Ausdrucke des Gesammtgeistes entspringen und die nunmehr vorausgesetzte Isolation und Selbständigkeit des- selben vielleicht niemals als eine vollkommene und allge- meine in der Wirklichkeit angetroffen wird. So ist der Eid ursprüngliche Gewähr des Vertrages, und von Treue und Glauben löst sich nicht leicht die »bindende Kraft« der Verträge in der Bewusstheit der Menschen ab, wenn auch in Wirklichkeit dergleichen keineswegs erfordert wird sondern eine einfache Reflexion auf das eigene Interesse genügt, um die Nothwendigkeit, diese Grundbedingung des gesellschaftlichen Lebens zu erfüllen, dem vernünftigen Sub- jecte vorzustellen. — Diesen Punkt deutlich zu machen, ist nicht leicht, noch ihn zu verstehen. Aber in der Einsicht und Durchdringung desselben wird der Schlüssel entdeckt werden zur Lösung der bedeutendsten Probleme des Werdens und Vergehens menschlicher Cultur.
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 18
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die gesammte individuelle Willkür nur ideell von den Im-
pulsen des Lebens und Wesenwillens getrennt werden kann
und unter dem objectiven Aspect vielmehr als ein Product
des Gedächtnisses erscheint, so verhält es sich auch mit
der socialen Willkür. Alle ihre Satzungen und Normen be-
halten eine gewisse Aehnlichkeit mit den Geboten der Re-
ligion, indem sie, wie diese, dem intellectuellen oder men-
talen Ausdrucke des Gesammtgeistes entspringen und die
nunmehr vorausgesetzte Isolation und Selbständigkeit des-
selben vielleicht niemals als eine vollkommene und allge-
meine in der Wirklichkeit angetroffen wird. So ist der
Eid ursprüngliche Gewähr des Vertrages, und von Treue
und Glauben löst sich nicht leicht die »bindende Kraft« der
Verträge in der Bewusstheit der Menschen ab, wenn
auch in Wirklichkeit dergleichen keineswegs erfordert wird
sondern eine einfache Reflexion auf das eigene Interesse
genügt, um die Nothwendigkeit, diese Grundbedingung des
gesellschaftlichen Lebens zu erfüllen, dem vernünftigen Sub-
jecte vorzustellen. — Diesen Punkt deutlich zu machen, ist
nicht leicht, noch ihn zu verstehen. Aber in der Einsicht
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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/309>, abgerufen am 04.05.2024.
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