Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

oder Erhaltung einer Gemeinschaft; daher der Wille, hier-
auf bezogene Gefühle, als Liebe, Ehrfurcht, Pietät des Ge-
dächtnisses, zu pflegen und heilig zu halten; oder ist ein
Versuch, Gutes zu bewirken, Uebles abzuwehren, in einer
Form, die dem herrschenden Glauben an Zusammenhänge
von Ursachen und Wirkungen entspricht, mithin in ur-
sprünglichem, phantastischem Volksthum zumeist als Com-
munication mit guten und bösen Geistern.

§ 22.

Die wahre Substanz des gemeinschaftlichen Willens
in einem sesshaften Volke, worin daher zahlreiche ein-
zelne Bräuche beruhen, ist seine Sitte. Wir haben be-
merkt, wie zu der Gemeinschaft des Blutes die Gemeinschaft
des Landes, der Heimath, mit neuen Wirkungen auf die
Gemüther der Menschen, daher theils als Ersatz, theils als
Ergänzung hinzutritt. Der Grund und Boden hat seinen
eigenen Willen, wodurch die Wildheit unstäter Familien ge-
bunden wird. Wie das gebärende Weib den zeitlichen Zu-
sammenhang der menschlichen Leiber sinnlich darstellt, der
Kette des Lebens einen neuen Ring einfügend; so bedeutet
das Land die Zusammengehörigkeit einer zu gleicher Zeit
lebenden Menge, welche nach den in ihm gleichsam verkör-
perten Regeln sich richten muss.

Schon die bewohnte Erde umgiebt das Volk, wie
das Kind von der Mutter Gestalt umhegt wird; und süsse
Nahrung entquillt als freie Gabe ihrer breiten Brust; so scheint
sie auch wie Bäume und Kräuter und Gethier im Anfange
der Dinge die Menschen selber aus ihrem Schoosse hervorge-
bracht zu haben, die sich als Erdgeborene und als Urein-
wohner dieses Landes fühlen. Das Land trägt ihre Zelte
und Häuser; und je fester und dauernder das Gebäude wird,
desto mehr verwachsen die Menschen mit dieser seiner be-
grenzten Scholle. Ein stärkeres und tieferes Verhältniss
aber bildet sich erst zum bebauten Acker: wenn das
Eisen in sein Fleisch schneidet und die Scholle umwälzt,
so wird die wilde Natur bezwungen und gezähmt, wie auch
die Thiere des Waldes gebändigt und zu Haus-Thieren ver-

oder Erhaltung einer Gemeinschaft; daher der Wille, hier-
auf bezogene Gefühle, als Liebe, Ehrfurcht, Pietät des Ge-
dächtnisses, zu pflegen und heilig zu halten; oder ist ein
Versuch, Gutes zu bewirken, Uebles abzuwehren, in einer
Form, die dem herrschenden Glauben an Zusammenhänge
von Ursachen und Wirkungen entspricht, mithin in ur-
sprünglichem, phantastischem Volksthum zumeist als Com-
munication mit guten und bösen Geistern.

§ 22.

Die wahre Substanz des gemeinschaftlichen Willens
in einem sesshaften Volke, worin daher zahlreiche ein-
zelne Bräuche beruhen, ist seine Sitte. Wir haben be-
merkt, wie zu der Gemeinschaft des Blutes die Gemeinschaft
des Landes, der Heimath, mit neuen Wirkungen auf die
Gemüther der Menschen, daher theils als Ersatz, theils als
Ergänzung hinzutritt. Der Grund und Boden hat seinen
eigenen Willen, wodurch die Wildheit unstäter Familien ge-
bunden wird. Wie das gebärende Weib den zeitlichen Zu-
sammenhang der menschlichen Leiber sinnlich darstellt, der
Kette des Lebens einen neuen Ring einfügend; so bedeutet
das Land die Zusammengehörigkeit einer zu gleicher Zeit
lebenden Menge, welche nach den in ihm gleichsam verkör-
perten Regeln sich richten muss.

Schon die bewohnte Erde umgiebt das Volk, wie
das Kind von der Mutter Gestalt umhegt wird; und süsse
Nahrung entquillt als freie Gabe ihrer breiten Brust; so scheint
sie auch wie Bäume und Kräuter und Gethier im Anfange
der Dinge die Menschen selber aus ihrem Schoosse hervorge-
bracht zu haben, die sich als Erdgeborene und als Urein-
wohner dieses Landes fühlen. Das Land trägt ihre Zelte
und Häuser; und je fester und dauernder das Gebäude wird,
desto mehr verwachsen die Menschen mit dieser seiner be-
grenzten Scholle. Ein stärkeres und tieferes Verhältniss
aber bildet sich erst zum bebauten Acker: wenn das
Eisen in sein Fleisch schneidet und die Scholle umwälzt,
so wird die wilde Natur bezwungen und gezähmt, wie auch
die Thiere des Waldes gebändigt und zu Haus-Thieren ver-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0285" n="249"/>
oder Erhaltung einer Gemeinschaft; daher der Wille, hier-<lb/>
auf bezogene Gefühle, als Liebe, Ehrfurcht, Pietät des Ge-<lb/>
dächtnisses, zu pflegen und heilig zu halten; oder ist ein<lb/>
Versuch, Gutes zu bewirken, Uebles abzuwehren, in einer<lb/>
Form, die dem herrschenden Glauben an Zusammenhänge<lb/>
von Ursachen und Wirkungen entspricht, mithin in ur-<lb/>
sprünglichem, phantastischem Volksthum zumeist als Com-<lb/>
munication mit guten und bösen Geistern.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§ 22.</head><lb/>
            <p>Die wahre Substanz des gemeinschaftlichen Willens<lb/>
in einem <hi rendition="#g">sesshaften</hi> Volke, worin daher zahlreiche ein-<lb/>
zelne Bräuche beruhen, ist seine <hi rendition="#g">Sitte</hi>. Wir haben be-<lb/>
merkt, wie zu der Gemeinschaft des Blutes die Gemeinschaft<lb/>
des Landes, der <hi rendition="#g">Heimath</hi>, mit neuen Wirkungen auf die<lb/>
Gemüther der Menschen, daher theils als Ersatz, theils als<lb/>
Ergänzung hinzutritt. Der Grund und Boden hat seinen<lb/>
eigenen Willen, wodurch die Wildheit unstäter Familien ge-<lb/>
bunden wird. Wie das gebärende Weib den zeitlichen Zu-<lb/>
sammenhang der menschlichen Leiber sinnlich darstellt, der<lb/>
Kette des Lebens einen neuen Ring einfügend; so bedeutet<lb/>
das Land die Zusammengehörigkeit einer zu gleicher Zeit<lb/>
lebenden Menge, welche nach den in ihm gleichsam verkör-<lb/>
perten Regeln sich richten muss.</p><lb/>
            <p>Schon die <hi rendition="#g">bewohnte</hi> Erde umgiebt das Volk, wie<lb/>
das Kind von der Mutter Gestalt umhegt wird; und süsse<lb/>
Nahrung entquillt als freie Gabe ihrer breiten Brust; so scheint<lb/>
sie auch wie Bäume und Kräuter und Gethier im Anfange<lb/>
der Dinge die Menschen selber aus ihrem Schoosse hervorge-<lb/>
bracht zu haben, die sich als Erdgeborene und als Urein-<lb/>
wohner dieses Landes fühlen. Das Land trägt ihre Zelte<lb/>
und Häuser; und je fester und dauernder das Gebäude wird,<lb/>
desto mehr verwachsen die Menschen mit dieser seiner be-<lb/>
grenzten Scholle. Ein stärkeres und tieferes Verhältniss<lb/>
aber bildet sich erst zum <hi rendition="#g">bebauten</hi> Acker: wenn das<lb/>
Eisen in sein Fleisch schneidet und die Scholle umwälzt,<lb/>
so wird die wilde Natur bezwungen und gezähmt, wie auch<lb/>
die Thiere des Waldes gebändigt und zu Haus-Thieren ver-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[249/0285] oder Erhaltung einer Gemeinschaft; daher der Wille, hier- auf bezogene Gefühle, als Liebe, Ehrfurcht, Pietät des Ge- dächtnisses, zu pflegen und heilig zu halten; oder ist ein Versuch, Gutes zu bewirken, Uebles abzuwehren, in einer Form, die dem herrschenden Glauben an Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen entspricht, mithin in ur- sprünglichem, phantastischem Volksthum zumeist als Com- munication mit guten und bösen Geistern. § 22. Die wahre Substanz des gemeinschaftlichen Willens in einem sesshaften Volke, worin daher zahlreiche ein- zelne Bräuche beruhen, ist seine Sitte. Wir haben be- merkt, wie zu der Gemeinschaft des Blutes die Gemeinschaft des Landes, der Heimath, mit neuen Wirkungen auf die Gemüther der Menschen, daher theils als Ersatz, theils als Ergänzung hinzutritt. Der Grund und Boden hat seinen eigenen Willen, wodurch die Wildheit unstäter Familien ge- bunden wird. Wie das gebärende Weib den zeitlichen Zu- sammenhang der menschlichen Leiber sinnlich darstellt, der Kette des Lebens einen neuen Ring einfügend; so bedeutet das Land die Zusammengehörigkeit einer zu gleicher Zeit lebenden Menge, welche nach den in ihm gleichsam verkör- perten Regeln sich richten muss. Schon die bewohnte Erde umgiebt das Volk, wie das Kind von der Mutter Gestalt umhegt wird; und süsse Nahrung entquillt als freie Gabe ihrer breiten Brust; so scheint sie auch wie Bäume und Kräuter und Gethier im Anfange der Dinge die Menschen selber aus ihrem Schoosse hervorge- bracht zu haben, die sich als Erdgeborene und als Urein- wohner dieses Landes fühlen. Das Land trägt ihre Zelte und Häuser; und je fester und dauernder das Gebäude wird, desto mehr verwachsen die Menschen mit dieser seiner be- grenzten Scholle. Ein stärkeres und tieferes Verhältniss aber bildet sich erst zum bebauten Acker: wenn das Eisen in sein Fleisch schneidet und die Scholle umwälzt, so wird die wilde Natur bezwungen und gezähmt, wie auch die Thiere des Waldes gebändigt und zu Haus-Thieren ver-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/285
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/285>, abgerufen am 24.11.2024.