den oder zerrüttet. Die formelle Sklaverei war eine ziemlich gleichgültige und folgenlose Sache, wie auch die formelle Freiheit gewesen wäre, wenigstens im Privatrecht gewesen wäre. Willkürliche Freiheit (des Individuums) und will- kürlicher Despotismus (eines Cäsaren oder Staates) sind nicht Gegensätze. Sie sind nur zwiefache Erscheinung desselben Zustandes. Sie mögen streiten um ein Mehr oder Weniger. Aber von Natur sind sie Alliirte.
§ 20.
Innerhalb der christlichen Cultur wiederholt sich ein dem antiken anologer Process der Auflösung von Leben und Recht (wodurch aber Recht seine wissenschaftliche Vollkommenheit erhält) als einer Vermischung und Verall- gemeinerung, Nivellirung und Mobilisirung in vergrösserten Dimensionen; nach dem Verhältnisse, wie die Gebiete selber weiter sind, der oceanische Handel mannigfacher als der des Mittelmeeres, die industrielle Technik complicirter, die Wissenschaft mächtiger; wie überhaupt die ganze Cultur in der Beherrschung äusserer Mittel als eine Fortsetzung der antiken erscheint, mit deren Erbe schaltend sie ihre Ge- bäude den Sternen näher zu bringen vermag, wenn auch auf Kosten harmonischen Stiles. So hat denn auch die Aufnahme des fertigen römischen Weltrechtes dazu gedient und dient ferner, die Entwicklung der Gesellschaft in einem grossen Theile dieser christlich-germanischen Welt zu befördern. Als wissenschaftlich erforschtes System, von grosser Klarheit, Einfachheit und logischer Consequenz, schien es die "geschriebene Vernunft" selber zu sein. Diese Vernunft war allen Vermögenden und Mächtigen günstig, um ihr Vermögen und ihre Macht absolut zu machen; wie den Kaufleuten und allen Grossen, die ihre Natural- und Dienstrenten in steigende Geldeinkünfte zu verwandeln trachteten, ebenso nothwendig war, als den Fürsten, die durch neue Finanzen die Kosten eines grösseren und stehenden Heeres, wie einer wachsenden Hothaltung zu decken versuchten. Es ist sehr falsch, das römische Recht als eine Ursache oder Potenz zu betrachten, welche diese ganze Entwicklung bewirkt habe. Es war nur ein bereites
den oder zerrüttet. Die formelle Sklaverei war eine ziemlich gleichgültige und folgenlose Sache, wie auch die formelle Freiheit gewesen wäre, wenigstens im Privatrecht gewesen wäre. Willkürliche Freiheit (des Individuums) und will- kürlicher Despotismus (eines Cäsaren oder Staates) sind nicht Gegensätze. Sie sind nur zwiefache Erscheinung desselben Zustandes. Sie mögen streiten um ein Mehr oder Weniger. Aber von Natur sind sie Alliirte.
§ 20.
Innerhalb der christlichen Cultur wiederholt sich ein dem antiken anologer Process der Auflösung von Leben und Recht (wodurch aber Recht seine wissenschaftliche Vollkommenheit erhält) als einer Vermischung und Verall- gemeinerung, Nivellirung und Mobilisirung in vergrösserten Dimensionen; nach dem Verhältnisse, wie die Gebiete selber weiter sind, der oceanische Handel mannigfacher als der des Mittelmeeres, die industrielle Technik complicirter, die Wissenschaft mächtiger; wie überhaupt die ganze Cultur in der Beherrschung äusserer Mittel als eine Fortsetzung der antiken erscheint, mit deren Erbe schaltend sie ihre Ge- bäude den Sternen näher zu bringen vermag, wenn auch auf Kosten harmonischen Stiles. So hat denn auch die Aufnahme des fertigen römischen Weltrechtes dazu gedient und dient ferner, die Entwicklung der Gesellschaft in einem grossen Theile dieser christlich-germanischen Welt zu befördern. Als wissenschaftlich erforschtes System, von grosser Klarheit, Einfachheit und logischer Consequenz, schien es die »geschriebene Vernunft« selber zu sein. Diese Vernunft war allen Vermögenden und Mächtigen günstig, um ihr Vermögen und ihre Macht absolut zu machen; wie den Kaufleuten und allen Grossen, die ihre Natural- und Dienstrenten in steigende Geldeinkünfte zu verwandeln trachteten, ebenso nothwendig war, als den Fürsten, die durch neue Finanzen die Kosten eines grösseren und stehenden Heeres, wie einer wachsenden Hothaltung zu decken versuchten. Es ist sehr falsch, das römische Recht als eine Ursache oder Potenz zu betrachten, welche diese ganze Entwicklung bewirkt habe. Es war nur ein bereites
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den oder zerrüttet. Die formelle Sklaverei war eine ziemlich
gleichgültige und folgenlose Sache, wie auch die formelle
Freiheit gewesen wäre, wenigstens im Privatrecht gewesen
wäre. Willkürliche Freiheit (des Individuums) und will-
kürlicher Despotismus (eines Cäsaren oder Staates) sind
nicht Gegensätze. Sie sind nur zwiefache Erscheinung
desselben Zustandes. Sie mögen streiten um ein Mehr oder
Weniger. Aber von Natur sind sie Alliirte.
§ 20.
Innerhalb der christlichen Cultur wiederholt sich ein
dem antiken anologer Process der Auflösung von Leben und
Recht (wodurch aber Recht seine wissenschaftliche
Vollkommenheit erhält) als einer Vermischung und Verall-
gemeinerung, Nivellirung und Mobilisirung in vergrösserten
Dimensionen; nach dem Verhältnisse, wie die Gebiete selber
weiter sind, der oceanische Handel mannigfacher als der des
Mittelmeeres, die industrielle Technik complicirter, die
Wissenschaft mächtiger; wie überhaupt die ganze Cultur in
der Beherrschung äusserer Mittel als eine Fortsetzung der
antiken erscheint, mit deren Erbe schaltend sie ihre Ge-
bäude den Sternen näher zu bringen vermag, wenn auch
auf Kosten harmonischen Stiles. So hat denn auch die
Aufnahme des fertigen römischen Weltrechtes dazu
gedient und dient ferner, die Entwicklung der Gesellschaft
in einem grossen Theile dieser christlich-germanischen Welt
zu befördern. Als wissenschaftlich erforschtes System, von
grosser Klarheit, Einfachheit und logischer Consequenz,
schien es die »geschriebene Vernunft« selber zu sein.
Diese Vernunft war allen Vermögenden und Mächtigen
günstig, um ihr Vermögen und ihre Macht absolut zu
machen; wie den Kaufleuten und allen Grossen, die ihre
Natural- und Dienstrenten in steigende Geldeinkünfte zu
verwandeln trachteten, ebenso nothwendig war, als den
Fürsten, die durch neue Finanzen die Kosten eines grösseren
und stehenden Heeres, wie einer wachsenden Hothaltung zu
decken versuchten. Es ist sehr falsch, das römische Recht
als eine Ursache oder Potenz zu betrachten, welche diese
ganze Entwicklung bewirkt habe. Es war nur ein bereites
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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/280>, abgerufen am 27.11.2024.
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