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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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zu gesellschaftlicher und politischer Action (in Handels-
vereinen und Parteien). Diese Vereinigungen sind ebenso
von vorzugsweise grosstädtischer, demnächst nationaler,
endlich internationaler Ausdehnung und Beschaffenheit, wie
die ihnen vorausgehenden und vorbildlichen Vereinigungen
der Gebildeten, Kapitalisten, der (eigentlichen) Gesellschaft.
Um so mehr werden jene auch active Subjecte der Gesell-
schaft, sofern dies durch gleiches Denken und Thun bedingt
ist. Ihr Ziel ist, auch Miteigenthümer des (nationalen oder
internationalen) Kapitals zu werden, als der Stoffe und
Hülfsmittel ihrer Arbeit; und dies würde, weil es Waaren-
produktion und auswärtigen Handel aufhebt, das Ende der
(im ökonomistischen Sinne begriffenen) Gesellschaft bedeuten.

(Anmerkung 1.) Weil das Thema dieses Buches von
der individualen Psychologie ausgeht, so fehlt die parallele
und entgegengesetzte Betrachtung, wie Gemeinschaft den
Wesenwillen entwickelt und bildet, Willkür bindet und hemmt;
Gesellschaft diese nicht allein entfesselt, sondern auch fordert
und fördert, ja im Wettkampfe ihren rücksichtslosen Ge-
brauch zu einer Bedingung der Erhaltung des Individuums
macht, daher die Blüthen und Früchte des natürlichen Wil-
lens verkümmern lässt, bricht und zerstört. Denn seinen
Bedingungen sich anzupassen, das Thun der Anderen,
welche gewinnen und Erfolg haben, nachzuahmen, ist nicht
allein natürlicher Trieb, sondern wird zwingendes Gebot,
bei Strafe des Unterganges. Gemeinschaft fordert und
züchtet bei den Herrschenden, welche immer Vorbilder sind,
eine Kunst des Herrschens und des Zusammenlebens über-
haupt. Ihr steht nur gegenüber die Gefahr der Spaltung
natürlicher Verhältnisse, weil jedes Feindliche und so Em-
pfundene Feindliches hervorruft; und je grösser auf der einen
Seite die Ueberlegenheit der Kraft oder anderer Macht zu
schaden, desto stärker die Anregung für den Unterdrückten,
seine Vernunft zu Willkür als zu Listen des Kampfes aus-
zubilden. Denn der Gegner nöthigt den Gegner, dieselben
Waffen sich zu schaffen; aber auch andere und bessere zu
erfinden. Daher sind überall, in zerrissenen Zuständen, die
Weiber listig wider die Männer, die Jungen wider die Alten,
die unteren wider die oberen Stände. Und gegen Feinde

Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 13

zu gesellschaftlicher und politischer Action (in Handels-
vereinen und Parteien). Diese Vereinigungen sind ebenso
von vorzugsweise grosstädtischer, demnächst nationaler,
endlich internationaler Ausdehnung und Beschaffenheit, wie
die ihnen vorausgehenden und vorbildlichen Vereinigungen
der Gebildeten, Kapitalisten, der (eigentlichen) Gesellschaft.
Um so mehr werden jene auch active Subjecte der Gesell-
schaft, sofern dies durch gleiches Denken und Thun bedingt
ist. Ihr Ziel ist, auch Miteigenthümer des (nationalen oder
internationalen) Kapitals zu werden, als der Stoffe und
Hülfsmittel ihrer Arbeit; und dies würde, weil es Waaren-
produktion und auswärtigen Handel aufhebt, das Ende der
(im ökonomistischen Sinne begriffenen) Gesellschaft bedeuten.

(Anmerkung 1.) Weil das Thema dieses Buches von
der individualen Psychologie ausgeht, so fehlt die parallele
und entgegengesetzte Betrachtung, wie Gemeinschaft den
Wesenwillen entwickelt und bildet, Willkür bindet und hemmt;
Gesellschaft diese nicht allein entfesselt, sondern auch fordert
und fördert, ja im Wettkampfe ihren rücksichtslosen Ge-
brauch zu einer Bedingung der Erhaltung des Individuums
macht, daher die Blüthen und Früchte des natürlichen Wil-
lens verkümmern lässt, bricht und zerstört. Denn seinen
Bedingungen sich anzupassen, das Thun der Anderen,
welche gewinnen und Erfolg haben, nachzuahmen, ist nicht
allein natürlicher Trieb, sondern wird zwingendes Gebot,
bei Strafe des Unterganges. Gemeinschaft fordert und
züchtet bei den Herrschenden, welche immer Vorbilder sind,
eine Kunst des Herrschens und des Zusammenlebens über-
haupt. Ihr steht nur gegenüber die Gefahr der Spaltung
natürlicher Verhältnisse, weil jedes Feindliche und so Em-
pfundene Feindliches hervorruft; und je grösser auf der einen
Seite die Ueberlegenheit der Kraft oder anderer Macht zu
schaden, desto stärker die Anregung für den Unterdrückten,
seine Vernunft zu Willkür als zu Listen des Kampfes aus-
zubilden. Denn der Gegner nöthigt den Gegner, dieselben
Waffen sich zu schaffen; aber auch andere und bessere zu
erfinden. Daher sind überall, in zerrissenen Zuständen, die
Weiber listig wider die Männer, die Jungen wider die Alten,
die unteren wider die oberen Stände. Und gegen Feinde

Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 13
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[193/0229] zu gesellschaftlicher und politischer Action (in Handels- vereinen und Parteien). Diese Vereinigungen sind ebenso von vorzugsweise grosstädtischer, demnächst nationaler, endlich internationaler Ausdehnung und Beschaffenheit, wie die ihnen vorausgehenden und vorbildlichen Vereinigungen der Gebildeten, Kapitalisten, der (eigentlichen) Gesellschaft. Um so mehr werden jene auch active Subjecte der Gesell- schaft, sofern dies durch gleiches Denken und Thun bedingt ist. Ihr Ziel ist, auch Miteigenthümer des (nationalen oder internationalen) Kapitals zu werden, als der Stoffe und Hülfsmittel ihrer Arbeit; und dies würde, weil es Waaren- produktion und auswärtigen Handel aufhebt, das Ende der (im ökonomistischen Sinne begriffenen) Gesellschaft bedeuten. (Anmerkung 1.) Weil das Thema dieses Buches von der individualen Psychologie ausgeht, so fehlt die parallele und entgegengesetzte Betrachtung, wie Gemeinschaft den Wesenwillen entwickelt und bildet, Willkür bindet und hemmt; Gesellschaft diese nicht allein entfesselt, sondern auch fordert und fördert, ja im Wettkampfe ihren rücksichtslosen Ge- brauch zu einer Bedingung der Erhaltung des Individuums macht, daher die Blüthen und Früchte des natürlichen Wil- lens verkümmern lässt, bricht und zerstört. Denn seinen Bedingungen sich anzupassen, das Thun der Anderen, welche gewinnen und Erfolg haben, nachzuahmen, ist nicht allein natürlicher Trieb, sondern wird zwingendes Gebot, bei Strafe des Unterganges. Gemeinschaft fordert und züchtet bei den Herrschenden, welche immer Vorbilder sind, eine Kunst des Herrschens und des Zusammenlebens über- haupt. Ihr steht nur gegenüber die Gefahr der Spaltung natürlicher Verhältnisse, weil jedes Feindliche und so Em- pfundene Feindliches hervorruft; und je grösser auf der einen Seite die Ueberlegenheit der Kraft oder anderer Macht zu schaden, desto stärker die Anregung für den Unterdrückten, seine Vernunft zu Willkür als zu Listen des Kampfes aus- zubilden. Denn der Gegner nöthigt den Gegner, dieselben Waffen sich zu schaffen; aber auch andere und bessere zu erfinden. Daher sind überall, in zerrissenen Zuständen, die Weiber listig wider die Männer, die Jungen wider die Alten, die unteren wider die oberen Stände. Und gegen Feinde Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 13

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/229>, abgerufen am 03.05.2024.