Das Gewissen dagegen erscheint am einfachsten und tiefsten als Scham: ein Widerwille, gewisse Dinge zu thun oder zu sagen, ein Unwille über sich selber, ja möglicher Weise auch über Andere, deren Gebahren man wie das Seinige empfindet, nach geschehenem Argen. Als Wider- wille oder Scheu ist sie der Furcht, als Unwille oder Ent- rüstung dem Zornesmuth verwandt, und ist immer eine Mischung aus beiden Affecten, ob vorher oder nachher auf- tretend. Scham ist zuvörderst Einhüllung, Verbergung, Verheimlichung; Scheu vor dem Nackten, Offenbaren, Be- kannten; daher in sonderlichem Bezuge auf das geschlech- tige, eheliche, häusliche Leben, Weibern und zumal Jung- frauen, Kindern und auch Jünglingen vorzüglich eigen, und als ihre Zier geachtet; eben darum weil, und insofern als es ihnen gewohnt ist und zukömmt, in engem Kreise und in abhängigem, ehrfürchtigem, bescheidenem Verhältnisse zu leben, gegen Gatten oder Mutter oder Vater oder Lehrer. Wer ein Herr ist, wer auf die Strasse und den Markt, ins öffentliche Leben und die Welt hinaustritt, muss diese Scham in einigem Maasse überwinden oder doch sie ver- wandeln in eine neue Gestalt. Stets ist sie eine Kraft des Wesenwillens, welche zurückhält, verwehrt, wozu andere Antriebe drängen möchten, und zwar als anerkannte Herrin, als unbedingter Weise gültige Auctorität, welche immer Recht hat, immer Recht behält. Man darf nicht Allen zeigen und sagen und thun, was Einigen zu offenbaren gehörig ist; noch von Allen erdulden, was von Einigen man sich gern gefallen lässt, als Gewohnheit liebt, ja als Gebührendes verlangt. Scham erstreckt sich von dem natür- lich Ekelhaften, insgemein Missfallenden auf das Verbotene schlechthin: was als über die Grenzen der eigenen Freiheit, eigenen Rechts hinausgehend, als Uebertretung und Unrecht wirklich empfunden, gedacht und gewusst ist; daher alles unbescheidene, unmässige, schrankenlose Thun und Reden. In dieser Beziehung also ist es nicht fremder Wille, der auf An- und Eingriff in sein Gebiet verneinend zurück- wirkt; auch nicht allein irgend ein gemeinschaftlicher Wille, welcher Jedem das Seine zuweist und was Keinem
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§ 37.
Das Gewissen dagegen erscheint am einfachsten und tiefsten als Scham: ein Widerwille, gewisse Dinge zu thun oder zu sagen, ein Unwille über sich selber, ja möglicher Weise auch über Andere, deren Gebahren man wie das Seinige empfindet, nach geschehenem Argen. Als Wider- wille oder Scheu ist sie der Furcht, als Unwille oder Ent- rüstung dem Zornesmuth verwandt, und ist immer eine Mischung aus beiden Affecten, ob vorher oder nachher auf- tretend. Scham ist zuvörderst Einhüllung, Verbergung, Verheimlichung; Scheu vor dem Nackten, Offenbaren, Be- kannten; daher in sonderlichem Bezuge auf das geschlech- tige, eheliche, häusliche Leben, Weibern und zumal Jung- frauen, Kindern und auch Jünglingen vorzüglich eigen, und als ihre Zier geachtet; eben darum weil, und insofern als es ihnen gewohnt ist und zukömmt, in engem Kreise und in abhängigem, ehrfürchtigem, bescheidenem Verhältnisse zu leben, gegen Gatten oder Mutter oder Vater oder Lehrer. Wer ein Herr ist, wer auf die Strasse und den Markt, ins öffentliche Leben und die Welt hinaustritt, muss diese Scham in einigem Maasse überwinden oder doch sie ver- wandeln in eine neue Gestalt. Stets ist sie eine Kraft des Wesenwillens, welche zurückhält, verwehrt, wozu andere Antriebe drängen möchten, und zwar als anerkannte Herrin, als unbedingter Weise gültige Auctorität, welche immer Recht hat, immer Recht behält. Man darf nicht Allen zeigen und sagen und thun, was Einigen zu offenbaren gehörig ist; noch von Allen erdulden, was von Einigen man sich gern gefallen lässt, als Gewohnheit liebt, ja als Gebührendes verlangt. Scham erstreckt sich von dem natür- lich Ekelhaften, insgemein Missfallenden auf das Verbotene schlechthin: was als über die Grenzen der eigenen Freiheit, eigenen Rechts hinausgehend, als Uebertretung und Unrecht wirklich empfunden, gedacht und gewusst ist; daher alles unbescheidene, unmässige, schrankenlose Thun und Reden. In dieser Beziehung also ist es nicht fremder Wille, der auf An- und Eingriff in sein Gebiet verneinend zurück- wirkt; auch nicht allein irgend ein gemeinschaftlicher Wille, welcher Jedem das Seine zuweist und was Keinem
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§ 37.
Das Gewissen dagegen erscheint am einfachsten und
tiefsten als Scham: ein Widerwille, gewisse Dinge zu thun
oder zu sagen, ein Unwille über sich selber, ja möglicher
Weise auch über Andere, deren Gebahren man wie das
Seinige empfindet, nach geschehenem Argen. Als Wider-
wille oder Scheu ist sie der Furcht, als Unwille oder Ent-
rüstung dem Zornesmuth verwandt, und ist immer eine
Mischung aus beiden Affecten, ob vorher oder nachher auf-
tretend. Scham ist zuvörderst Einhüllung, Verbergung,
Verheimlichung; Scheu vor dem Nackten, Offenbaren, Be-
kannten; daher in sonderlichem Bezuge auf das geschlech-
tige, eheliche, häusliche Leben, Weibern und zumal Jung-
frauen, Kindern und auch Jünglingen vorzüglich eigen, und
als ihre Zier geachtet; eben darum weil, und insofern als
es ihnen gewohnt ist und zukömmt, in engem Kreise und
in abhängigem, ehrfürchtigem, bescheidenem Verhältnisse
zu leben, gegen Gatten oder Mutter oder Vater oder Lehrer.
Wer ein Herr ist, wer auf die Strasse und den Markt, ins
öffentliche Leben und die Welt hinaustritt, muss diese
Scham in einigem Maasse überwinden oder doch sie ver-
wandeln in eine neue Gestalt. Stets ist sie eine Kraft des
Wesenwillens, welche zurückhält, verwehrt, wozu andere
Antriebe drängen möchten, und zwar als anerkannte Herrin,
als unbedingter Weise gültige Auctorität, welche immer
Recht hat, immer Recht behält. Man darf nicht Allen
zeigen und sagen und thun, was Einigen zu offenbaren
gehörig ist; noch von Allen erdulden, was von Einigen
man sich gern gefallen lässt, als Gewohnheit liebt, ja als
Gebührendes verlangt. Scham erstreckt sich von dem natür-
lich Ekelhaften, insgemein Missfallenden auf das Verbotene
schlechthin: was als über die Grenzen der eigenen Freiheit,
eigenen Rechts hinausgehend, als Uebertretung und Unrecht
wirklich empfunden, gedacht und gewusst ist; daher alles
unbescheidene, unmässige, schrankenlose Thun und Reden.
In dieser Beziehung also ist es nicht fremder Wille, der
auf An- und Eingriff in sein Gebiet verneinend zurück-
wirkt; auch nicht allein irgend ein gemeinschaftlicher
Wille, welcher Jedem das Seine zuweist und was Keinem
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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/215>, abgerufen am 24.11.2024.
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