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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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wurzelt, dessen Einfluss so viel mächtiger sich erhält im
Weibe, so bezieht sich dieser hauptsächlich auf das anima-
lische Leben, welches zwar auch, insofern es im Manne
bedeutender ist, der Betrachtung auffallend war, aber ganz
besonders, als überwiegend, die absteigende Hälfte eines
normalen Lebenslaufs der aufsteigenden gegenüber aus-
zeichnet; mithin eines männlichen Lebenslaufs um so mehr.
Also ist dort die Antinomie von Gesinnung und Bestrebung,
hier von Gemüth und Berechnung vorwaltend. Der dritte
Gegensatz, welcher hier der Erörterung vorliegt, bewegt
sich vorzüglich im mentalen Gebiete; er betrifft die
Denkungsart, das Wissen. Es ist der Gegensatz zwischen
den Menschen des Volkes und den Gebildeten. Er ist
ein starrer, gleich dem ersten, indem er ganze Classen
unterscheidet, und doch ein fliessender, insofern als die-
selben nur künstlich bestimmt werden können und fort-
währende Uebergänge aus der einen in die andere statt-
finden, zahlreiche Zwischenstufen immer angetroffen werden.
Seine Gültigkeit ist auch dem oberflächlichen Beobachter
erkennbar und wird doch schwer in ihrem begrifflichen
und wahren Sinne verstanden. Doch müssen wir sagen:
nur im Volke ist das Gewissen wirklich lebendig. Es
ist ein gemeinsames Gut und Organ, das doch von dem
Einzelnen auf besondere Weise besessen wird. Von dem
allgemeinen Willen und Geiste, der überlieferten Denkungs-
art abhängig, wird es als Anlage dem Geborenen vererbt,
es wächst mit dem gesammten Denken und als wesentlicher
Inhalt des Gedächtnisses in Bezug auf die eigenen Instincte
und Gewohnheiten, daher als Bestätigung und Heiligung
der empfundenen und wachsenden Liebe zu den Nächsten,
als Gefühl für das eigene und Geschmack in Bezug auf
das fremde Gute und Böse: dort das Natürliche, Gewöhn-
liche, Gebilligte; hier das Widernatürliche, Sonderbare,
Getadelte; daher im Ganzen, im Kreise der Menschen, auf
welche sich ursprünglich allein seine Wirkungen erstrecken,
Freundlichkeit und Artigkeit als Gutes, Widerstreben,
Zornigkeit, Muthwille als das Böse, insbesondere aber
gegenüber den Aelteren, Stärkeren, Gebietenden, der Ge-
horsam und die vollkommene Ergebung in ihren Willen,

Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 12

wurzelt, dessen Einfluss so viel mächtiger sich erhält im
Weibe, so bezieht sich dieser hauptsächlich auf das anima-
lische Leben, welches zwar auch, insofern es im Manne
bedeutender ist, der Betrachtung auffallend war, aber ganz
besonders, als überwiegend, die absteigende Hälfte eines
normalen Lebenslaufs der aufsteigenden gegenüber aus-
zeichnet; mithin eines männlichen Lebenslaufs um so mehr.
Also ist dort die Antinomie von Gesinnung und Bestrebung,
hier von Gemüth und Berechnung vorwaltend. Der dritte
Gegensatz, welcher hier der Erörterung vorliegt, bewegt
sich vorzüglich im mentalen Gebiete; er betrifft die
Denkungsart, das Wissen. Es ist der Gegensatz zwischen
den Menschen des Volkes und den Gebildeten. Er ist
ein starrer, gleich dem ersten, indem er ganze Classen
unterscheidet, und doch ein fliessender, insofern als die-
selben nur künstlich bestimmt werden können und fort-
währende Uebergänge aus der einen in die andere statt-
finden, zahlreiche Zwischenstufen immer angetroffen werden.
Seine Gültigkeit ist auch dem oberflächlichen Beobachter
erkennbar und wird doch schwer in ihrem begrifflichen
und wahren Sinne verstanden. Doch müssen wir sagen:
nur im Volke ist das Gewissen wirklich lebendig. Es
ist ein gemeinsames Gut und Organ, das doch von dem
Einzelnen auf besondere Weise besessen wird. Von dem
allgemeinen Willen und Geiste, der überlieferten Denkungs-
art abhängig, wird es als Anlage dem Geborenen vererbt,
es wächst mit dem gesammten Denken und als wesentlicher
Inhalt des Gedächtnisses in Bezug auf die eigenen Instincte
und Gewohnheiten, daher als Bestätigung und Heiligung
der empfundenen und wachsenden Liebe zu den Nächsten,
als Gefühl für das eigene und Geschmack in Bezug auf
das fremde Gute und Böse: dort das Natürliche, Gewöhn-
liche, Gebilligte; hier das Widernatürliche, Sonderbare,
Getadelte; daher im Ganzen, im Kreise der Menschen, auf
welche sich ursprünglich allein seine Wirkungen erstrecken,
Freundlichkeit und Artigkeit als Gutes, Widerstreben,
Zornigkeit, Muthwille als das Böse, insbesondere aber
gegenüber den Aelteren, Stärkeren, Gebietenden, der Ge-
horsam und die vollkommene Ergebung in ihren Willen,

Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 12
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[177/0213] wurzelt, dessen Einfluss so viel mächtiger sich erhält im Weibe, so bezieht sich dieser hauptsächlich auf das anima- lische Leben, welches zwar auch, insofern es im Manne bedeutender ist, der Betrachtung auffallend war, aber ganz besonders, als überwiegend, die absteigende Hälfte eines normalen Lebenslaufs der aufsteigenden gegenüber aus- zeichnet; mithin eines männlichen Lebenslaufs um so mehr. Also ist dort die Antinomie von Gesinnung und Bestrebung, hier von Gemüth und Berechnung vorwaltend. Der dritte Gegensatz, welcher hier der Erörterung vorliegt, bewegt sich vorzüglich im mentalen Gebiete; er betrifft die Denkungsart, das Wissen. Es ist der Gegensatz zwischen den Menschen des Volkes und den Gebildeten. Er ist ein starrer, gleich dem ersten, indem er ganze Classen unterscheidet, und doch ein fliessender, insofern als die- selben nur künstlich bestimmt werden können und fort- währende Uebergänge aus der einen in die andere statt- finden, zahlreiche Zwischenstufen immer angetroffen werden. Seine Gültigkeit ist auch dem oberflächlichen Beobachter erkennbar und wird doch schwer in ihrem begrifflichen und wahren Sinne verstanden. Doch müssen wir sagen: nur im Volke ist das Gewissen wirklich lebendig. Es ist ein gemeinsames Gut und Organ, das doch von dem Einzelnen auf besondere Weise besessen wird. Von dem allgemeinen Willen und Geiste, der überlieferten Denkungs- art abhängig, wird es als Anlage dem Geborenen vererbt, es wächst mit dem gesammten Denken und als wesentlicher Inhalt des Gedächtnisses in Bezug auf die eigenen Instincte und Gewohnheiten, daher als Bestätigung und Heiligung der empfundenen und wachsenden Liebe zu den Nächsten, als Gefühl für das eigene und Geschmack in Bezug auf das fremde Gute und Böse: dort das Natürliche, Gewöhn- liche, Gebilligte; hier das Widernatürliche, Sonderbare, Getadelte; daher im Ganzen, im Kreise der Menschen, auf welche sich ursprünglich allein seine Wirkungen erstrecken, Freundlichkeit und Artigkeit als Gutes, Widerstreben, Zornigkeit, Muthwille als das Böse, insbesondere aber gegenüber den Aelteren, Stärkeren, Gebietenden, der Ge- horsam und die vollkommene Ergebung in ihren Willen, Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 12

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/213>, abgerufen am 24.11.2024.